“Es ist ein ‘reizendes Spiel des Geschickes’, daß derselbe Mann ausersehen war, 1849 die Kaiserkrone namens der Nationalversammlung anzubieten und jetzt die Annahme der von den Fürsten dargebotenen Krone zu erbitten.” Dieses von Robert von Keudell überlieferte Wort Bismarcks über Simson vom Dezember 1870 bezeichnet das Schicksal dieses Mannes ebenso wie das des deutschen Liberalismus, den Umstand nämlich, daß die Entwürfe von 1848/49 von denjenigen Kräften verwirklicht wurden, die ihnen einst entgegengestanden hatten, dank der Staatskunst Otto von Bismarcks. Simson hat schließlich, wie Lucius von Ballhausen 1875 festhielt, sagen können, er sei “erst Gegner, dann Gesell und aufrichtiger Freund Bismarcks gewesen.”
Martin Eduard Sigismund Simson war Sohn eines jüdischen Kaufmanns und Wechselmaklers. Seine Mutter entstammte der von Schlesien nach Ostpreußen eingewanderten jüdischen Familie Friedlaender. Der Begründer des bis 1934 in Königsberg bestehenden Bankhauses Friedlaender & Sohn hatte als erster ostpreußischer Freiwilliger Jäger 1813 das Eiserne Kreuz erhalten; David Friedlaender (1750-1834), der erste jüdische Stadtrat Berlins, war ein Großonkel Simsons. Das Vaterhaus Simsons stand in der Brodbänkenstraße 25, gegenüber dem Kneiphöfischen Rathaus, Sitz der Stadtverwaltung Königsbergs, wo später im Junkersaal eine Büste von ihm aufgestellt war.
Das Leben in Simsons Elternhaus war einfach (der Handel in Königsberg litt noch an den Folgen der Napoleonischen Kontinentalsperre), aber auf Bildung und berufliches Fortkommen hin orientiert. So entschlossen sich seine Eltern 1823, ihre Kinder zur evangelischen Konfession übertreten zu lassen (während sie selbst diesen Schritt erst in späteren Jahren taten). Doch scheinen die Simsons diese Entscheidung nicht ohne innere Überzeugung getroffen zu haben. Die beruflichen Wege ihrer vier Söhne (zu denen noch eine Tochter kam) waren jedenfalls geebnet. Sohn Eduard studierte nach dem Besuch des Collegiums Fridericianum in Königsberg seit 1825 an der dortigen Albertus-Universität die Rechte, zeigte sich aber auch an Philosophie, Geschichte, Philologie und den Naturwissenschaften interessiert. 1829 wurde er zum Doktor juris promoviert und wenig später von der Juristischen Fakultät zum Privatdozenten ernannt. Ein ihm gewährtes Reisestipendium nutzte er zu Besuchen in Berlin, Weimar (wo er auf Empfehlung Zelters hin, der mit Simsons Großonkel Friedlaender gut bekannt war, Goethe seine Aufwartung machte), in Göttingen, Bonn (wo er Niebuhr nähertrat) und Paris (wo er Ludwig Börne kennenlernte). Über Heidelberg und Berlin kehrte er nach Königsberg zurück und nahm dort im Sommersemester 1831 seine Lehrtätigkeit auf. Von Herbst 1831 bis 1832 genügte er als Einjährig-Freiwilligerseiner Wehrpflicht, zuletzt als Landwehroffizier. 1833wurde Simson außerordentlicher Professor, 1834 danebenHilfsarbeiter beim Tribunal des Königreichs Preußen (später Oberlandesgericht) und danach Richter ebendort. 1836 erhielt er an der Albertina eine ordentliche Professur für römisches und preußisches Recht, die er mit Unterbrechungen bis 1860 innehatte. 1834 war Simson in den Stand der Ehe getreten; seine Frau, Klara Warschauer, war die Tochter eines angesehenen Königsberger Bankiers, sein Schwager Robert später ein bedeutender Finanzfachmann und der Gründer des Bankhauses Warschauer & Co. in Berlin.
Simsons Berufsweg als Parlamentarier begann mit seiner Wahl in die Stadtverordnetenversammlung seiner Vaterstadt im Jahre 1846. 1848 wurde er, bis dahin kaum mehr als regional bekannt, in die deutsche Nationalversammlung in Frankfurt am Main gewählt und dort bald darauf zu einem der Schriftführer bestimmt. Seine Sache war von Anfang an die der Geschäftsordnung und ihrer Meisterung; als Redner trat er, obwohl als solcher sehr ausdrucksvoll, selten auf. Nachdem er im Oktober 1848 Vizepräsident der Nationalversammlung geworden war und sich in diesem Amt als entschiedener Wahrer parlamentarischer Rechte erwiesen hatte, wurde Simson als Nachfolger Heinrich von Gagerns, der am 15. Dezember 1848 Schmerling in der Leitung des Reichsministeriums ersetzt hatte, Präsident der Nationalversammlung.
In dieser Eigenschaft reiste Simson Anfang April 1849 an der Spitze von 32 Abgeordneten nach Berlin, um König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen im Namen der Nationalversammlung die Kaiserkrone anzutragen (3. April). Doch der König entgegnete, daß er diese ohne Zustimmung der deutschen Fürsten und Städte nicht annehmen könne. Er bemäntelte damit den von ihm vertretenen Grundsatz, daß die Nationalversammlung keine Krone zu vergeben habe. Es mag mit dem Scheitern der Berliner Mission zusammenhängen, daß Simson bald darauf erkrankte und am 11. Mai vom Präsidentenamt zurücktrat, nachdem er noch am Vortage mit einer überwältigenden Mehrheit in diesem bestätigt worden war. Im selben Monat zog er sich resigniert aus der Nationalversammlung zurück.
Im folgenden beteiligte sich Simson an den preußischen Unionsbestrebungen, also an dem schließlich an der Gegnerschaft Österreichs und Rußlands gescheiterten Versuch Preußens, die nationale Einigung nach dem Mißerfolg der Paulskirche von Berlin aus herbeizuführen. Er war im Juni 1849 Präsident des sogenannten Gothaer Nachparlaments und des Erfurter Unionsreichstages, der vom 20. März bis zum 29. April 1850 tagte. Im Unterschied zur Paulskirche umfaßte dieser außer einem Volkshaus ein Staatenhaus, dessen Präsident Rudolf von Auerswald war, wie Simson ein Ostpreuße. Aus den Unionstagen datierte Bismarcks Bekanntschaft mit Simson. Er war Schriftführer im Volkshaus gewesen und äußerte später gegenüber Keudell über Simson: “Er zeigte großes Geschick in der Leitung der Geschäfte, hatte aber in seinem Wesen etwas Feierliches, was meine Kritik reizte.”
Seit dem 7. August 1849 gehörte Simson als Königsberger Abgeordneter und Vorsitzender der Justizkommission auch dem preußischen Landtag an und war zum Vizepräsidenten des Abgeordnetenhauses gewählt worden. Doch infolge des Erstarkens der Restauration in Preußen zog er sich im Herbst 1852 bis auf weiteres aus der Politik zurück. Für die Jahre 1855/56 und 1856/57 wurde er zum Prorektor der Albertus-Universität gewählt, als der er den Neubau des Universitätsgebäudes, zu dem anläßlich der Vierhundertjahrfeier der Hochschule 1844 der Grundstein gelegt worden war, energisch vorantrieb. Mit der Neuen Ära unter Prinzregent Wilhelm trat der gemäßigt liberale Simson, abermals als Königsberger Abgeordneter gewählt, wieder in das preußische Abgeordnetenhaus ein, das ihn alsNachfolger von Schwerin-Putzlar zu seinem Präsidenten bestimmte.
An den Kämpfen des preußischen Verfassungskonfliktes war Simson kaum beteiligt, zumal er im November 1861 das Präsidentenamt verlor, in Königsberg nicht wiedergewählt wurde und nach einer Operation gesundheitlich beeinträchtigt war, so daß er nach seiner Wiederwahl am 22. Mai 1862 (nicht in Königsberg) das Präsidium nicht wieder übernahm. Zudem war er seit dem 3. September 1860 Vizepräsident (ab 1869 Präsident) des Oberappellationsgerichts in Frankfurt an der Oder. Auch in früheren wie in späteren Zeiten ist Simsons politisches Wollen nur schwer zu fassen. Immerhin weiß man, daß er sich in der Konfliktzeit intensiv dem Etatrecht und der Wahrung der Pressefreiheit widmete. Er war eben eher derjenige, der nach Kräften für die Freihaltung des politischen Kampfplatzes sorgte, als daß er sich selbst in die Arena begeben hätte.
Außer allem Zweifel aber stehen Simsons Verdienste um die deutsche Einigung. Er wurde am 2. März 1867 zum Präsidenten des Konstituierenden wie noch im selben Jahre auch des Ersten ordentlichen Norddeutschen Reichstages gewählt, überreichte in dieser Eigenschaft König Wilhelm I. am 3. Oktober 1867 im Bibliothekssaal der wiederhergestellten Burg Hohenzollern eine Adresse des Reichstages, in der die Hoffnung auf die Vereinigung von Nord- mit Süddeutschland ausgesprochen wurde, und war seit dem 29. April 1868 Präsident des Zollparlaments, mit dem diese Vereinigung vorweggenommen wurde. Am bedeutendsten war aber wohl die Tatsache, daß Simson nach Ausbruch des Krieges mit Frankreich 1870 neben der Beförderung eines auch für später vorbildlichen Gesetzes über die Unterstützung bedürftiger Angehöriger der zum Wehrdienst Einberufenen für eine rechtzeitige Bewilligung der Kriegskredite sorgte und für die Zustimmung des Reichstages zu den Bedingungen, zu denen die süddeutschen Staaten in den Norddeutschen Bund aufgenommen werden sollten. Bismarck wußte das zu schätzen. Als sich sein Sekretär Abeken im Dezember 1870 in einer Gesprächsrunde in Versailles abschätzig über den Reichstag äußerte, erwiderte er nach dem Zeugnis von Moritz Busch: “Dieser Meinung bin ich doch nicht– gar nicht. Die Leute haben uns eben wieder hundert Millionen bewilligt, und sie haben trotz ihrer doktrinären Ansichten die Verträge von Versailles [mit den süddeutschen Staaten] gut geheißen, was manchem sehr schwer gefallen sein wird. Das ist doch anzuerkennen.”
Die von Simson angeführte Kaiserdeputation des Reichstages in Versailles vom 18. Dezember 1870 drückte das Siegel auf das geleistete Werk und zugleich auf die weitgehende Erfüllung der Bestrebungen Simsons und der vielen Streitgenossen der Jahre 1848/49. “Den Abgeordneten … war zumute, als träumten sie”, notierte der Kronprinz in seinem Kriegstagebuch. Nach Simsons Ansprache– seine Rede war “wie Orgelton, feierlich und voll, pathetisch” (J. K. Bluntschli)– blieb nach der Erinnerung des Kronprinzen “kein Auge trocken …, was denn doch namentlich für die Generale viel sagen will.”
Am 23. März 1871 wurde Simson zum ersten Präsidenten des deutschen Reichstages gewählt, der nun die Reichsgründung nach innen zu vollenden hatte. Das geschah im liberalen Sinne, da Bismarck mit den Stimmen der von Simson mitbegründeten Nationalliberalen Partei regierte. So wurde auch das am 1. Oktober 1879 zu Leipzig feierlich eröffnete Reichsgericht geschaffen. Dessen erster Präsident wurde nach Bismarcks Wunsch Simson, der 1874 aus gesundheitlichen Gründen das Reichstagspräsidentenamt aufgegeben hatte und danach Leiter der Justizkommission des Bundesrates war, die die Vereinheitlichung der Rechtspflege zu betreiben, das Straf- und das Bürgerliche Gesetzbuch zu bearbeiten und auch das Reichsgericht zu begründen hatte. Doch nicht das war für Bismarcks Wahl ausschlaggebend gewesen. “Fürst Bismarck”, so schrieb die BerlinerNationalzeitung später zu Simsons Verabschiedung, “empfand die Notwendigkeit, an die Spitze des Reichsgerichts für dessen erste Periode nicht bloß einen hervorragenden Juristen, sondern einen Mann zu stellen, der zugleich einen Namen von nationalpolitischer Bedeutung trug.”
Simson, nunmehr 69 Jahre alt und belastet durch eine Krankheit seiner Frau, war dem Wunsche des Reichskanzlers, der das mit dem Amt des Reichsgerichtspräsidenten verbundenen Arbeitsmaß erheblich unterschätzt hatte, nur widerstrebend gefolgt. Zu den Aufgaben, die er sich stellte, zählte auch der Bau eines neuen Dienstgebäudes. Der Grundstein zum Reichsgerichtsgebäude in Leipzig wurde am 31. Oktober 1888 im Beisein des jungen Kaisers Wilhelm II. gelegt. Im selben Jahr hatte Kaiser Friedrich III. Simson den Schwarz-Adler-Orden verliehen und ihn damit in den erblichen Adelsstand erhoben. Am 1. Februar 1891 bat Eduard von Simson, der im Frühjahr 1890 bei einem Kuraufenthalt in Karlsbad einen Schlaganfall erlitten hatte, um die Versetzung in den Ruhestand, die ihm vom Kaiser auf ehrenvolle Weise gewährt wurde.
Zu diesem Zeitpunkt war Simson noch Präsident der 1885 in Weimar gegründeten Goethe-Gesellschaft, als der er die Überführung der an das sächsisch großherzogliche Haus gefallenen Nachlässe von Goethe und Schiller in eine Stiftung juristisch unterstützte. Simson war wie die meisten seiner Zeitgenossen mit den Idealen der klassischen deutschen Literatur aufgewachsen, die auch für sein politisch-parlamentarisches Wirken die ethische Grundlage geboten hatten. Nun konnte er noch mit den Erfahrungen seines reichen Berufslebens zur Sicherung dieses kostbaren Erbes beitragen.
Werke: Nachrichten über die Gründung und Fortbildung des Tribunals zu Königsberg in Preußen (1844). – Eduard von Simson. Ein großer Parlamentarier und Richter. Reden und Aufsätze zu seinem Gedenken, hrsg. von Hildebert Kirchner, Karlsruhe 1985.
Lit.: Bernhard von Simson: Eduard von Simson. Erinnerungen aus seinem Leben, Leipzig 1900.– Herman von Petersdorff: Eduard von Simson; in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 54 (1908), S. 348-364 (mit Literatur). – Günther Meinhardt: Eduard von Simson. Der Parlamentspräsident Preußens und der Reichseinigung, Bonn 1981 (dort weitere Literatur).
Bild: Simson als Präsident des deutsches Reichtags; Zeichnung von Brend’amour [d. i. Ludwig Braun].
Peter Mast