Biographie

Stehr, Hermann

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Schriftsteller, Dichter
* 16. Februar 1864 in Habelschwerdt/Schlesien
† 11. September 1940 in Oberschreiberhau/Schlesien

Hermann Stehr war einer der namhaftesten Schriftsteller seiner Zeit. Der Schillerpreis 1919, die Berufung zum Senator in der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Sektion für Dichtkunst 1926, die Goethe-Medaille 1932, der Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main 1933, der Ehrendoktor der Breslauer Universität 1934 zeugen davon.Knut Hamsuns Wort „Ich weiß nicht, was Ihr an uns Skandinaviern so liebt, da Ihr doch Euern Hermann Stehr habt“ weist darauf hin, daß Stehr auch jenseits der deutschen Grenzen bekannt und anerkannt war.

Stehr stammt nicht nur aus Schlesien und ist sein Leben lang dort seßhaft geblieben, auch sein Werk wächst aus schlesischem Grund.  Die einfachen Leute Gebirgsschlesiens leben in seinen Erzählungen und Romanen, an ihnen werden die seelischen Bewegungen des suchenden Menschen der ersten Jahrhunderthälfte gestaltet. Er selbst kommt aus ihren Reihen. Dem Sohn eines Sattlers aus Habelschwerdt schien Aufstieg nur über die Lehrerbildung möglich. Die strenge Zucht des Lehrerseminars weckte sein Aufbegehren gegen kirchliche und politische Bevormundung. Auf seiner ersten festen Lehrerstelle in Pohlsdorf im Gebirge, wo er 1889 bis 1900 als einziger Schulmeister mit 135 Kindern in einem hölzernen Schulhaus zwischen zwei Dörfern sich mühte, fühlte er sich in der Verbannung und durch Behörden und mißgünstige Kollegen verfolgt. Als Gottesleugner, als Antimonarchist und Sozialist war er verrufen. Seine Freiheit findet er im Schreiben. Zwei an den S. Fischer Verlag gesandte Erzählungen gewinnen ihm Förderung und Freundschaft von Moritz Heimann und Gerhart Hauptmann. Freilich bringt ihn eine Geldstrafe wegen des „gotteslästerlichen, unmoralischen“ Buches um den gesamten Erlös dafür.

Die stärkste dieser ersten Novellen ist „Der Schindelmacher“ (1899), eine schlesische König-Lear-Geschichte unter einfachen Leuten, ein spätes Meisterwerk des Naturalismus, aber bereits über ihn hinausweisend, formstark und seelisch vertieft. Aus diesen Jahren stammen auch schon die ersten drei Romane Stehrs, von denen „Leonore Griebel“ 1900, „Der begrabene Gott“ 1905, „Drei Nächte“ 1909 erscheinen. 1900 erhält er eine bessere Lehrerstelle in Dittersbach (Kreis Waldenburg), aber eigene langjährige Nierenerkrankung, Krankheit und Tod in der Familie suchen ihn heim; als sein linkes Ohr völlig ertaubt, wird er 1911 vorzeitig pensioniert. Wenige Jahre danach verliert er auch noch auf dem rechten Auge die Sehkraft. Inzwischen hat er sich als Schriftsteller durchgesetzt.

Stehrs Werk ist sehr einheitlich. Er erzählt in naturalistischem Detail von Menschen, deren Wünschen und Hoffen auf eine ihnen entgegenstehende Umwelt stößt. Die daraus sich ergebenden Konflikte entfaltet er in vielseitiger Handlung. Aber er fragt vorrangig nach dem seelischen Leben, dessen sprachliche Ausformung zu den größten Leistungen seiner Kunst gehört, so diffizil die damit gegebenen Sprachprobleme auch sind und so leicht solche Sprachwege ins Unbegangene auch ins Verstiegene führen können. Die Suche nach dem Glück der persönlichen Seinserfüllung ist die Suche nach dem Göttlichen. Stehr ist Mystiker. Das führt den Autor zu den – heute unzeitgemäßen – literarischen Formen der „Mythen und Mären“. Das Ringen um das eigene Selbst macht schon die Beziehung zum nächsten Menschen zum Problem: das Ehemotiv zieht sich von „Leonore Griebel“ bis zum letzten Romanwerk. Stehr geht nicht im Schlesischen auf. Sein berühmtester Roman „Der Heiligenhof“ (1918) spielt im Münsterland. Das Epos vom Ringen zweier verfeindeter Bauernfamilien findet sein Ziel in der Wirkung des blinden Heiligenhoflenleins, das doch als Sehende in dieser Welt nicht leben kann. Das gleiche Geschehen wird im „Peter Brindeisener“ (1924) noch einmal aus der Sicht des Gegenspielers erzählt. Durch beide Romane geht auch die Hauptgestalt der „Drei Nächte“, der Lehrer Faber, der auch im 3. Band der Maechler-Trilogie wieder auftritt. Stehr hat in ihn viel von sich selbst hineingelegt. Sein Haus in Schreiberhau, in dem er von 1926 bis zu seinem Tode wohnte, hat er sein „Faberhaus“ genannt.

In der Weimarer Republik hat sich Stehr auch politisch engagiert, in Wahlreden für seinen Freund Walther Rathenau und in seinem Einsatz¦ für den Verbleib des ganzen Oberschlesien beim Reich.

Das Werk seines Alters, der unvollendete Roman einer deutschen Familie „Das Geschlecht der Maechler“, das ihn in seinen Schreiberhauer Jahren beschäftigte, ist noch gar nicht genügend wahrgenommen worden. Dem grüblerischen, sprachmächtigen, nach innen gewandten Werk war die Zeit nicht günstig. Über drei Generationen wird am Beispiel einer schlesischen Handwerkerfamilie das Suchen nach Glück und Gerechtigkeit von der Revolution 1848 bis in die Zeit nach dem 1. Weltkrieg dargestellt.

Lit.: Werner Milch: Hermann Stehr. Seine dichterische Welt und ihre Probleme. Berlin1934. – Emil Freitag: Hermann Stehr. Gehalt und Gestalt seiner Dichtung.Groningen 1936. – Fritz Richter: Hermann Stehr – Schlesier, Deutscher, Europäer, Würzburg 1964. – Wilhelm Meridies: Hermann Stehr. Sein Leben und Werk. Göttingen o.J. (1964). – Peter Demetz: Hermann Stehrs „Der Heiligenhof“. Frankfurter Allgemeine Zeitung 10. 9.1980.