Biographie

Stieda, Wilhelm Christian Hermann

Herkunft: Baltikum (Estland, Lettland, Litauen)
Beruf: Volkswirtschaftler, Historiker
* 1. April 1852 in Riga/Livland
† 21. Oktober 1933 in Leipzig

Wilhelm Stieda, der Sohn eines Rigaer Kaufmanns, besuchte in seiner Vaterstadt das Gymnasium und studierte dann in Dorpat, Berlin und Straßburg Nationalökonomie (Volkswirtschaftslehre) und Statistik. Entscheidend beeinflußt wurde er von seinem Straßburger Lehrer Gustav Schmoller, der als Hauptvertreter der jüngeren historischen Schule der deutschen Nationalökonomie geschichtliche Forschungen mit sozialpolitischem Engagement verband. Nachdem sich Stieda mit einer Arbeit zur Entstehung des deutschen Zunftwesens habilitiert hatte, wurde er 1877 auf eine Professur für Geographie, Ethnographie und Statistik nach Dorpat berufen. Von dort aus nahm er die Arbeit an Archivalien des reichen Archivs der einstigen Hansestadt Reval auf – eine Beschäftigung, die er sein Leben lang fortsetzte. Beunruhigt durch Tendenzen zur Russifizierung der Universität Dorpat und angezogen durch den Aufstieg Deutschlands mit seinen neuen wirtschaftlich-sozialen Problemen, folgte Stieda 1882 dem Angebot, beim Statistischen Amt des Deutschen Reiches in Berlin tätig zu werden. Schon 1884 nahm er jedoch den Ruf auf eine Professur für Staatswissenschaften an der Universität Rostock an, und 1898 erfolgte seine Berufung auf den angesehenen Lehrstuhl für Nationalökonomie an der Universität Leipzig. Dort war er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1923 als Leiter eines eigenen Seminars tätig.

Die wissenschaftliche Arbeit auf dem Gebiet der Statistik trat bei Stieda recht früh in den Hintergrund. Zwar hatte er dazu noch in Dorpat publiziert, doch überwogen bei ihm danach Beiträge zur Handels- und Gewerbegeschichte des Hanseraums. Neben zahlreichen weiteren Arbeiten zu dieser Thematik veröffentlichte er als ausführlich eingeleitete Quellenbände bzw. Untersuchungen: „Revaler Zollbücher und Quittungen des 14. Jahrhunderts“ (1886), „Hansisch-Venezianische Handelsbeziehungen im 15. Jahrhundert“ (1894), „Die Schragen der Ämter und Gilden der Stadt Riga bis 1621“ (ediert zusammen mit Constantin Mettig, 1896) sowie, besonders oft benutzt, „Hildebrand Veckinchusen. Briefwechsel eines deutschen Kaufmanns im 15. Jahrhundert“ (1921). Stieda gehört damit wie Konstantin Höhlbaum, Goswin von der Ropp und Paul Johansen zu einer Gruppe von hervorragenden deutschen Gelehrten aus dem Baltikum, die wesentliche Beiträge zur Erforschung der Hanse leisteten, wobei sie von der großen Bedeutung der letzteren für die Geschichte ihrer Heimat ausgingen (vgl. OGT 1999, S. 244–246; 2000, S. 93–95; 1990, S. 75–77).

Neben hansischen und aktuellen volkswirtschaftlichen Themen treten die frühindustrielle deutsche Keramikproduktion und die Kontinentalsperre Napoleons gegenüber England als weitere Forschungsgebiete hervor, denen Stieda jeweils eine ganze Reihe von selbständigen Publikationen und Aufsätzen widmete. Außerdem veröffentlichte er Arbeiten zur Wissenschaftsgeschichte, unter anderem über das Wirken deutscher Gelehrter in Rußland. Zeugnisse seiner Verbundenheit mit der Heimat sind späte Publikationen zur Geschichte der Dorpater Universität.

Über Forschung und Lehre hinaus war Stieda sozialpolitisch aktiv. Er trat zugunsten des deutschen Handwerks ein und erstrebte eine Verbesserung der Lage der Arbeiter auf reformerischem Wege. In dieser Richtung wirkte er mit Vorträgen und Schriften, als langjähriger Leiter der Volkshochschulkurse in Leipzig und mit Initiativen auf dem Gebiet der Arbeitsvermittlung.

Bleibende Bedeutung kommt aber vor allem Stiedas wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu, für die trotz höchst beeindruckender thematischer Breite die Erschließung neuer Quellen und gewissenhafte Detailforschung kennzeichnend sind.

Lit.: Deutschbaltisches biographisches Lexikon 1710–1960, hg. von W. Lenz, Köln/Wien 1970, S. 771f. – K. Bräuer: Wilhelm Stieda (1852–1933), in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 61 (1937), S. 1–42. – W. Goetz: Historiker in meiner Zeit, Köln/Graz 1957, S. 286–295. – Geschichte der deutschbaltischen Geschichtsschreibung, hg. von G. von Rauch, Köln/Wien 1986.

Bild: Forschungsbibliothek Gotha.

Norbert Angermann