Biographie

Stieff, Hellmuth

Herkunft: Ostpreußen
Beruf: Widerstandskämpfer, Generalmajor
* 6. Juni 1901 in Deutsch-Eylau
† 8. August 1944 in Berlin

 „Der Antrag lautet auf Tod und er kann auch nicht anders ausfallen. Er ist gerecht … Ich habe geirrt und gefehlt. Es war falsch, Gott in seinem Wirken als kleiner Mensch hochmütig in den Arm fallen zu wollen.“

Mit diesen Sätzen beschloß der Generalmajor des Heeres Hellmuth Stieff den Abschiedsbrief an seine Frau unmittelbar vor der Urteilsverkündung durch den Volksgerichtshof am Nachmittag des 8. August 1944 und nur wenige Stunden vor seiner Hinrichtung zusammen mit sieben Mitangeklagten. Stieff, der zuvor in seinem Schlußwort als Angeklagter das Todesurteil für sich selbst beantragt hatte, deutete in demütiger, stark religiös begründeter Schicksalsergebenheit seinen Tod als Ausdruck einer höheren, überirdischen Gerechtigkeit. War er mit sich selbst im reinen oder war es doch der Versuch, ein schlechtes Gewissen in einer nachträglichen höheren Sinngebung aufzulösen? So wenig darüber Sicheres auszusagen möglich ist, so sehr ist doch eine Feststellung erlaubt: Wie in kaum einer anderen Person spiegelt sich in Hellmuth Stieff die ganze menschliche Tragik und das von den Akteuren selbst empfundene moralische Dilemma der Verschwörung des 20. Juli, dessen sich in seiner ganzen Dramatik bewußt zu machen, allzu holzschnittartige Urteile verbietet.

„Stieff ist ausgebrochen“, lautete Stauffenbergs zorniges Verdikt am späten Abend des 20. Juli 1944 im Berliner Bendlerblock, wo die Verschwörer sich versammelt hatten und mit zunehmender Verzweiflung versuchten, den Staatsstreich „auf der militärischen Befehlsschiene“ in Gang zu bringen. Sein kurz darauf im Bewußtsein des Scheiterns der ganzen Aktion geäußerter verbittert-resignativer Satz: „Sie haben mich ja alle im Stich gelassen“, der Stauffenbergs menschlicher Enttäuschung über manche seiner Mitverschwörer Ausdruck gab, galt nicht zuletzt seinem früheren direkten Vorgesetzten in der Organisationsabteilung des Oberkommandos des Heeres (OKH), Hellmuth Stieff. Auf dem Hintergrund einer stark auf die Person und Rolle Stauffenbergs konzentrierten Geschichtsschreibung über den 20. Juli sind einige der kritischen und z.T. negativen Urteile der Widerstandsforschung über Stieffs Person und sein Verhalten in den entscheidenden Stunden jenes schicksalhaften Tages gesprochen. Sind solche Wertungen genügend fundiert und lassen sie dem Betroffenen Gerechtigkeit widerfahren?

Stieffs Weg in den aktiven Widerstand war typisch für den Berufsstand und das soziale Milieu, dem er entstammte. Am 6. Juni 1901 im westpreußischen Deutsch-Eylau in einer Soldatenfamilie geboren und als Kriegsfreiwilliger des Jahres 1918 ins 100.000 Mann-Heer der Republik übernommen, gehörte der Oberleutnant des Jahres 1933 zu denen, die die Machtübernahme des Nationalsozialismus anfänglich mit großen Hoffnungen und Erwartungen verbanden. Es war das Erleben der Wirklichkeit im Deutschland Adolf Hitlers, der unverstellte, moralisch sensible und weder durch Beschönigungen noch durch Selbstbeschwichtigungsformeln getrübte Blick auf die Realität, der ihn zunehmend auf Distanz zum Regime gehen ließ; eine Distanz, die sich unter den im Kriege gewonnenen Eindrücken ab 1939 zu einer kompromißlosen Feindschaft wandelte. Was er im November 1939 im kriegszerstörten Warschau mit eigenen Augen gesehen und durch Generaloberst Blaskowitz über die Greueltaten von Heydrichs SD-Kommandos erfahren hatte, ließ ihn in einem Brief an seine Frau tief erschüttert bekennen, er schäme sich, ein Deutscher zu sein. Nachdem im Juni 1941 der Krieg gegen Rußland begonnen hatte, erlebte Stieff als Mitarbeiter der Operationsabteilung des OKH unter Generalmajor Heusinger die Hitlerschen Führungsmethoden aus nächster Nähe, was sein Verhältnis zum Diktator zu einem unversöhnlichen Haß steigerte. Als er im Oktober 1942 als erster Generalstabsoffizier (Ia) der 4. Armee die Ostfront verließ, um die Dienststellung eines Chefs der Operationsabteilung im OKH anzutreten, war er offenkundig zum aktiven Widerstand entschlossen; eine Haltung, in der ihn das anschließende Stalingrad-Desaster weiter bestärkte. Im Juni 1943 besuchte Stieff den schwerverwundet in einem Münchner Lazarett liegenden Stauffenberg, den er noch als Gruppenleiter in seiner Organisationsabteilung kennengelernt hatte. Im folgenden Monat forderte ihn Henning von Tresckow auf, sich der Konspiration anzuschließen und im August d.J. wurde er in der Berliner Wohnung General Olbrichts mit Ludwig Beck bekannt gemacht. Seitdem bewegte er sich im inneren Kreis der Verschwörung. Mehrfache Ansinnen, selber als Attentäter aufzutreten – seine Dienststellung erlaubte ihm die Anwesenheit bei Lagevorträgen im Führerhauptquartier – wies er mit z.T. unterschiedlichen Begründungen zurück. Seiner Frau gegenüber bekannte er, bei allem Pflichtgefühl für die Sache sich „dabei nicht beflecken“ zu wollen. Mehr als einmal verhinderte er durch persönliches Eingreifen geplante Attentate, hütete gleichzeitig den Sprengstoff für Stauffenberg in seinem Privatquartier. So entstand schon vor dem Zeitpunkt des Attentats das Bild Stieffs als eines eher zögerlich-unentschlossenen Bremsers innerhalb der Verschwörung.

Am Morgen des 20. Juli 1944 saß Stieff zusammen mit Stauffenberg und dessen Adjutanten Werner von Haeften in der Kuriermaschine von Berlin nach Rastenburg. Da er sich zum Zeitpunkt der Explosion im nahegelegen Hauptquartier des OKH im „Mauerwald“ aufhielt, war ihm schnell – viel schneller als seinen Mitverschwörern im Berliner Bendlerblock – klar geworden, daß das Attentat gescheitert und damit die Mindestvoraussetzung für einen erfolgreichen Staatsstreich entfallen war. Von diesem Moment, d.h. vom Nachmittag jenes Tages an, arbeitete er aktiv gegen den in Berlin auf das massive Drängen Stauffenbergs hin angelaufenen Staatsstreich, den er unter den gegebenen Voraussetzungen für sinnlos, ja schlechterdings für „Wahnsinn“ hielt. Zur entscheidenden Szene kam es am Abend gegen 21 Uhr, als der Oberbefehlshaber West, der in die Verschwörung eingeweihte Generalfeldmarschall von Kluge, durch die auf ihn einstürzenden widersprüchlichen Berichte und Meldungen verunsichert, seinen einstigen Mitarbeiter im AOK 4 anrief und ihn unter nachdrücklichem Hinweis auf ihr altes persönliches Vertrauensverhältnis beschwor, über das, was Stunden zuvor in Ostpreußen geschehen war, die volle Wahrheit zu sagen. Der bei Anstand und Gewissen gepackte Stieff berichtete ehrlich und wahrheitsgemäß, daß Hitler nicht tot sei. Diese Auskunft gab den Ausschlag, daß sich Kluge der Aktion versagte und damit die letzte Hoffnung der Verschwörer zerbrach.

Rechtfertigt Stieffs Verhalten, wie nicht wenige bis heute meinen, einen moralischen Vorwurf? War es Ausdruck einer grundsätzlichen Distanzierung von der Konspiration und ihren Zielen? Was hätte er in seiner Lage anderes tun sollen?

Man möge eines bedenken: Nicht die Detonation der Bombe dekuvrierte die Verschwörung des 20. Juli. Sie enttarnte zunächst allein die kleine Attentatsgruppe um Stauffenberg, dem nach seiner Ankunft in Berlin, buchstäblich mit dem Rücken zu Wand stehend, als Alternative zur Selbsttötung nur die „Flucht nach vorn“, d.h. das Auslösen des Staatsstreich gemäß dem Tresckowschen „coate que coate“ [koste es, was es wolle] verblieb. Erst die herausgegangenen Putschbefehle dekuvrierten die Verschwörung in ihrem ganzen weit verzweigten Umfang, wodurch die Gestapo ihre Verhaftungslisten gewissermaßen frei Haus geliefert bekam. Indem sie den verhängnisvollen, ja tödlichen Automatismus zwischen Attentat und Staatsstreich im letzten Moment noch zu unterbrechen, quasi die „Notbremse“ zu ziehen trachteten, haben Stieff und mit ihm einige andere außerhalb Berlins versucht, den Schaden für die Verschwörung insgesamt in Grenzen zu halten. Jenseits der Frage, ob Stieff selber noch ernsthaft daran glaubte, den Fahndern entkommen zu können, wird man ihm verantwortungsethische Gründe für sein Verhalten nicht absprechen können. Schließlich ging es auch darum, durch unmißverständliche Worte und ein dementsprechendes Agieren jüngere, in falscher Einschätzung der entstandenen Lage noch putschgeneigte Untergebene vor der Parteinahme für eine schon aussichtslos gewordene Sache zu bewahren, was sie nur sinnlos in Lebensgefahr gebracht hätte. Gibt es eine moralische Pflicht zum solidarischen Selbstopfer für eine als aussichtslos erkannte Sache? Jedoch, die Nachwelt würdigt am 20. Juli in erster Linie den gesinnungsethischen Rigorismus. Das bloße Attentat in der Wolfschanze wäre im historischen Bewußtsein wahrscheinlich die isolierte Tat eines einzelnen geblieben. Erst der anschließende Staatsstreichversuch mit all seinen Folgen machte daraus jene kollektive Tat, die uns heute von einer deutschen Widerstandsbewegung sprechen läßt und den 20. Juli 1944 als die Manifestation eines „anderen Deutschland“ zur moralischen Instanz werden ließ.

Lit.: Horst Mühleisen: Hellmuth Stieff und der militärische Widerstand, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 39 (1991), S. 339–377. – Ders.: Hellmuth Stieff. Briefe, Berlin 1991. – Ders.: Hellmuth Stieff. Patriot und Zauderer, in: „Für Deutschland“. Die Männer des 20. Juli, hg. von Klemens von Klemperer, Enrico Syring, Rainer Zitelmann, Frankfurt a.M./Berlin 1994, S. 247–260.

Bild: 20. Juli 1944, 4. Aufl., neubearbeitet und ergänzt von Erich Zimmermann und Hans-Adolf Jacobsen, hg. von der Bundeszentrale für Heimatdienst, Bonn 1951.

Manfred Zeidler