Biographie

Stöckel, Leonhard

Herkunft: Karpatengebiet
Beruf: Theologe, Reformator
* 1. Januar 1510 in Bartfeld/Zips
† 7. Juni 1560 in Bartfeld/Zips

In diesem Jahr haben wir des 500-jährigen Geburtsjahres und gleichzeitig des 450. Todestages einer großen Zipser Persönlichkeit zu gedenken. Wir erbringen damit auch wieder einen Beleg für die intensive geistige Verbindung der Deutschen in der Zips mit dem deutschen Mutterlande. Es ist bemerkenswert, dass schon im frühen 16. Jahrhundert junge deutsche Menschen aus der Zips bzw. aus ganz Oberungarn ihr Studium in Deutschland, vornehmlich in Wittenberg, aber auch in Breslau u.a. absolvierten. In den Jahren 1522 bis 1555 studierten rund 20 Zipser in Wittenberg und anderen deutschen Universitäten; aus ganz Ungarn sollen es sogar 442 gewesen sein. Durch diese Verbindung zu Wittenberg ist es verständlich, dass die Gedanken der Reformation schon so früh in der Zips und ganz Oberungarn Platz ergriffen haben. So wirkte bereits 1521 Martin Cziriak aus Leutschau als Reformator, und die Pfarrer Georg Leudischer in Kesmark und Thomas Preissner in Leibitz predigten im Sinne Luthers. Eine Stütze fanden sie im ungarischen Adel, besonders bei den Familien Görgey in Topporcz, Horvath-Stansith in Nehre oder Berzewiczy in Großlomnitz.

Eine besondere Persönlichkeit der Reformation in der Zips war Leonhard Stöckel. Er wurde 1510 in Bartfeld (Bardejov) geboren, das schon 1376 zur königlichen Freistadt mit vielen Privilegien erhoben worden war und zur Zeit der Reformation die größte Blüte erleben sollte. Es gab dort damals 517 Häuser mit ca. 3000 Einwohnern, und die handwerklichen Zünfte waren das Rückgrat der Stadt. Stöckel, Sohn eines Schmiedes und zeitweise auch Stadtrichters, besuchte die Schulen in Bartfeld und Kaschau (1522-1526). Die Schule in Bartfeld war wohl eine Lateinschule und ihr Rektor Valentin Eck (Ecchius) (1494-1550) galt als Anhänger des Humanisten Erasmus von Rotterdam. Den Einfluss des Humanismus in Kaschau und Leutschau verstärkte der hier ab 1520/21 als Lehrer wirkende englische Humanist und Dichter Leonhard Coxe, ein Schüler Melanchthons, der zuvor an der Universität Krakau gelehrt hatte.

Leonhard Stöckel studierte ab Oktober 1530 Theologie in Breslau und Wittenberg. Hier war er Schüler Melanchthons und Luthers. Zwischendurch wirkte er als Privatlehrer in Luthers Geburtsstadt Eisleben (1533/34-36). Schließlich wurde er ein guter Freund von Melanchthon und zum Erzieher der Kinder seines Fürsten, des Kurfürsten Johann Friedrich bestellt. Er stand mit den beiden Reformatoren, besonders aber mit Melanchthon, bis ans Lebensende im Briefwechsel. Sein jüngerer Bruder Peter studierte ab 1536 ebenfalls in Wittenberg.

Philipp Melanchthon hatte nicht nur mit seinen Schülern, sondern auch mit den Gemeinden in ganz Oberungarn einen regen Briefwechsel; z.B. mit Schemnitz, Kremnitz, Kaschau, Kesmark, u.a. So wandte sich auch die Stadtverwaltung von Bartfeld 1539 an Melanchthon, weil sie ihren Sohn Leonhard Stöckel für ihre Gemeinde gewinnen wollte. Er empfahl ihn: „Gott wolle ihn glücklich zu euch bringen, und wiewohl ich bey vielen Ursachen gern gesehen hätte, dass er an der Universität bliebe, so habe ich doch seinen Gehorsam auch nicht verhindern oder strafen wollen. Bitte, also ihr wollet ihn euch freundlich lassen befohlen seyn. Denn er in Wahrheit ein vernünftiger, wohlgelehrter, frommer und geistlicher Mann ist, desgleichen nicht viel zu finden.“

So kam im Jahre 1539 Stöckel auf Einladung seiner Heimatstadt Bartfeld nach neun Jahren zurück in die Zips und wurde als Rektor der Bartfelder Schule, deren Träger die Kirchen-gemeinde war, berufen. Hier organisierte er die Schule im Sinne Melanchthons um und schuf 1540 neue Schulgesetze (Leges scholae Bartphensis). In der Bartfelder Gemeinde hatte schon seit 1524 Wolfgang Schustel in Sinne der Reformation gepredigt.

Die Grundlage der Schule nach Melanchthon, wie sie auch Leonhard Stöckel formte, bildete der christliche Humanismus; im Vordergrund standen der Glaube und die Gottesfurcht. (Frömmigkeit – Bildung – Beredsamkeit). Es wurde in drei Klassen gelehrt: in der ersten Klasse wurden Lesen, Schreiben und die Glaubenslehre unterrichtet, in der zweiten kam zur lateinischen Sprache die griechische, dann die Klassiker, Rhetorik, Poetik, Arithmetik. Jede Woche hatten die Schüler eine schriftliche Arbeit zu abzuliefern, welche die Lehrer verbesserten. Es wurden auch neben der Disputation die humanistische Deklamation und zwei Prüfungen eingeführt. Das Bildungsideal war zwar enzyklopädisch, es ging aber mehr in die Breite als in die Tiefe.

Leonhard Stöckel schrieb neben einigen humanistischen Büchern auch Lehrbücher und das Schuldrama „Historia von Susanna“ (deutsch in Versform), das ein Muster für weitere Schuldramen in Oberungarn bildete. Die Kirche St. Ägidien in Bartfeld tauschte mit Wittenberg und anderen evangelischen Kirchen in Deutschland eine reiche Anzahl von Notenblättern in Kirchenmusik aus. Seit 1578 sorgte die Buchdruckerei David Gutgesell in Bartfeld für die Verbreitung des reformatorischen Schrifttums.

Im Jahre 1555 kam es mit dem Stadtrat (Hundertmannen) von Bartfeld zu Unstimmigkeiten, so dass Leonhard Stöckel vorübergehend Rektor am evangelischen deutschen Lyzeum in Kesmark wurde, das im Jahre 1533 gegründet worden war. Hier hielt er sich nur etwa ein halbes Jahr auf (Sept. 1555- Frühjahr 1556), brachte aber das System von Melanchthon auf den Weg, dessen Grundlagen schon Johann Sommer ab 1541 gelegt hatte. Nach Erarbeitung einer neuen Schulordnung wurde zu deren Durchführung am 24. Juni 1556 Simon Gergel, ein Schüler Leonhard Stöckels, als Schulleiter nach Kesmark berufen.

Leonhard Stöckel kehrte auf Bitten des Stadtrates nach Bartfeld zurück und wirkte dort bis zu seinem Tode 1560 segensreich weiter, so dass ihm später der Ehrentitel Praeceptor hungariae (Lehrer Ungarns) zuerkannt wurde, da seine Reformen auf das Schulwesen von ganz Ungarn einen starken Einfluss hatten. Bartfeld wurde das „Wittenberg Ungarns“ bezeichnet.

Leonhard Stöckel starb am 7. Juni 1560, sieben Wochen nach seinem großen Lehrer und Freund Philipp Melanchthon. Beide waren in ihrem Wesen „gleichgesinnte Seelen“, von sanfter Gemütsart und großer Liebe zu ihrem Glauben, in dem sie extreme theologische Auffassungen vermeiden wollten.

Die Reformation breitete sich in Oberungarn und besonders in der Zips so schnell aus, dass die Regierenden meinten, die neue Lehre eindämmen oder gar bekämpfen zu müssen. So beschloss 1523 der ungarische Landtag durch Gesetz (Art. 54): „Alle Lutheraner und ihre Beschützer sind öffentliche Ketzer und sollen mit Besitzverlust bestraft werden.“ Im Jahre 1525 hieß es sogar „Alle Lutheraner sollen verbrannt werden“.

Doch als im Jahre 1526 die Kaiserlichen die Schlacht gegen die Türken bei Mohacz verloren, wobei der junge ungarische König Ludwig II. (1506-1526) fiel, gab es Wirren um die Nachfolge, bis sich der Habsburger Ferdinand I. als Kaiser des Reiches und König von Ungarn durchsetzte. Diese Wirren halfen den Lutheranern, so dass sie sich in vielen Gemeinden der Zips unter dem Schutz der verschiedenen Adelshäuser oder in den Zipser freien Städten entwickeln konnten.

In Anlehnung an das Augsburgische Bekenntnis von Melanchthon (1530) verfasste Leonhard Stöckel im Jahre 1549 die Confessio pentapolitana für die fünf Zipser Städte Bartfeld (Bardejov), Eperies (Prešov), Leutschau (Levoča), Zeben (Sabinov) und Kaschau (Košice). Es war in einem sehr versöhnlichen Ton gehalten, um von den Regierenden nicht als Ketzer angesehen und verfolgt zu werden. Es war auch eine Abgrenzung zu den Anhängern Zwinglis, denn 1548 hatte der ungarische Landtag in Pressburg angeordnet, dass alle Anabaptisten und Sakramentarier das Land verlassen sollten. Das Bekenntnis, in 20 Artikeln verfasst, blieb der lutherischen Reformation treu, grenzte sich von der katholischen Kirche ab, ohne sie vor den Kopf zu stoßen.

Die Confessio Pentapolitana wurde 1549 vom Kaiser Ferdinand I. anerkannt und 1558 nochmals bestätigt. Als einziges Glaubensbekenntnis wurde sie 1560 durch den Primas Ungarns Miklos Olah auch von der röm.-katholischen Kirche anerkannt.

Nach dem gleichen Muster überreichten zehn Jahre später 1559 auf der Synode in Kremnitz den königlichen Kommissaren die sieben Bergstädte der Mittelslowakei Kremnitz (Kremnica), Schemnitz (Banska Stiavnica), Neusohl (Banska Bystrica), Libethenm (Lubietova), Pukkanz (Pukanec), Königsberg (Nova Bana) und Dilln (Banska Bela) ihr Glaubenbekenntnis, die Confessio Montana, verfasst vom Schemnitzer Pfarrer M. Cubicularius.

Und schließlich folgten die 24 Zipser Städte, der Bund der Fraternität der Pfarrer, im Jahre 1569 mit der Confessio Scepusiana. Alle drei Glaubensbekenntnisse hatten das Augsburgische Glaubenbekenntnis zum Vorbild und dienten der späteren Anerkennung als Landeskirche A.B. (= Augsburger Bekenntnisses). Prof. Dr. Johann Liptak schrieb: „Schließlich war die deutsche Reformation auch in nationaler Hinsicht den Zipser Deutschen willkommen. Die Brüderschaft der 24 königlichen Pfarrer führte an Stelle der lateinischen Sprache die deutsche ein.“ Und Ambrosius, genannt Lam, schuf ein Gesangbuch mit 46 deutschen Kirchenliedern.

So hatten sich in den einzelnen Städten und Gemeinden der Zips und ganz Oberungarns starke Gemeinschaften des Luthertums gebildet. Nach dem Ständeprinzip „Cuius regio – eius religio“ bestimmten die Adelshäuser über die Konfession ihrer abhängigen Gemeinden. Fundamente der evangelisch-lutherischen Gemeinden waren ihre Schulen, die ganz im Dienste des Glaubens und der Bildung standen.

Die Gemeinden wählten ihre Pfarrer und Lehrer selbst, so dass es einen Aufbau von der Basis her gab. So dauerte es länger, bis sich Seniorate bildeten. Erst auf den Synoden in Sillein (1610) und in Kirchdrauf (1614) organisierte sich die lutherische Kirche fester. Für die Zips wurden zwei Superintendenten, Peter Zabler und Stephan Xylander, gewählt.

Es galt auch, sich vom Calvinismus und von anderen Entwicklungen abzugrenzen, und so die „reine Lehre“ im Sinne des Augsburger Bekenntnisses zu bewahren. Ab 1555 wurde die Konkordienformel als Bekenntnisformel der lutherischen Kirche entwickelt und am 25. Juni 1580 im Konkordienbuch, einer Sammlung von lutherischen Schriften, die neben dem Augsburger Bekenntnis auch Luthers „Kleinen“ und „Großen“ Katechismus enthielt, veröffentlicht. Auf diese Konkordienformel einigte sich die Synode in Sillein 1610, sie galt vor allem in der Zips.

In der Zeit der Gegenreformation (1618-1780) kamen auf die evangelischen Gemeinden und ihre Gläubigen noch harte Jahre der Verfolgung und Zurücksetzung zu, doch die evangelisch-lutherische Kirche hatte eine feste Basis erhalten. Sie bewahrte die reine Lehre nach dem Augsburger Bekenntnis über alle politischen Strömungen hinweg und die Gläubigen wurden Lutheraner genannt. Im Königreich Ungarn war die „Ungarländische Evangelische Kirche A.B.“ fest etabliert, in der sich neben den Deutschen auch die Ungarn und Slowaken zusammenfanden.

Nach 1918, als Oberungarn in den neuen Tschechoslowakischen Staat eingegliedert wurde, begründete sich die „Evangelische Kirche A.B. in der Slowakei“, sie wurde wegen des Augsburger Bekenntnisses auch oft als die „deutsche Kirche“ bezeichnet.

In der Zeit von 1939 bis 1945 gab es in der eigenständigen Slowakei eine eigene deutsche Landeskirche, die „Deutsche evangelische Landeskirche A.B. in der Slowakei“ mit 45 Gemeinden.

Die heutige evangelische Kirche im slowakischen Staate nennt sich „Evanjelická cirkev a.v. na Slovensku“, also „Evangelische Kirche A.B. in der Slowakei“ (für das A.B. steht a.v. = augsb. vyznanie); sie bezieht sich also immer noch auf das Grundbekenntnis Luthers und Melanchthons. Sie hatte in der Zeit der kommunistischen Herrschaft von 1948 bis 1989 unter strenger Kontrolle und Zwängen zu leiden. Heute sind in der Slowakei rund 7% der Bevölkerung in 326 Gemeinden lutherisch.

Einer der Gründerväter war der vor 500 Jahren geborene Leonhard Stöckel, der große Lehrer und Humanist, der unsere heimatliche Geschichte wesentlich geprägt hat. Wir gedenken seiner in Ehrfurcht.

Lit.: Adalbert Hudak, Die Kirche unserer Väter, Stuttgart 1953, S. 23ff. – Johann Liptak, Geschichte des Deutschen Evangelischen Gymnasiums zu Kesmark, 1933. – Andrej Hajduk, Leonard Stöckel – Leben und Werk, Bratislava 1999. – Andrej Hajduk, Melanchthons Beziehungen zur Slowakei, in: Kjb. 1998, S. 125. – Ernst Hochberger, Höhen und Tiefen der Reformation, in: Kjb. 2001, S. 48. – Adalbert Hudak, 800 Jahre Slowakei-Deutschtum, in: Kjb. 1952, S. 100. – Karpatendeutsches Biographisches Lexikon, Stuttgart 1988, S. 321

Bild: Porträt von Leonhard Stöckel von der Künstlerin Renate Brömme, 1983 (Schlossfenster in Wittenberg), entnommen A. Hajduk, S. 127.

Hans Kobialka