Biographie

Stoeckel, Walter

Herkunft: Ostpreußen
Beruf: Direktor der Universitätsfrauenklinik Berlin
* 14. März 1871 in Stobingen, Kr. Insterburg
† 12. Februar 1961 in Berlin

Im Jahre 2011 jährte sich zum 140. Mal der Geburtstag von Walter Stoeckel und zum 50. Mal sein Todestag. Geheimrat Stoeckel war einer der ganz Großen in der deutschen Medizin- und Ärztegeschichte.

Er stammte aus Stobbingen im Kreis Insterburg. Die Vorfahren kamen aus Sachsen und England. Der Vater, Carl Moritz Stoeckel (1834-1901) hatte in Leipzig (Land-)Wirtschaft studiert und war nach 1860 nach Ostpreußen gekommen, um die Domäne (Klein-)Stobbingen zuerst zu pachten, dann zu übernehmen. Wesentlich auf seine Initiative hin wurde in Ostpreußen die Stutbuchgesellschaft begründet. Für seine Verdienste im Land­­wirtschaftlichen Zentralverein war ihm der Titel eines Land­wirtschaftlichen Ökonomierates verliehen worden. Seine drei Söhne waren in Stobbingen geboren. Walter Stoeckel war der Jüngste. Seine Mutter starb kurz nach seiner Geburt. Dieses Unglück hat ihn, wie er später andeutete, mit zu seiner Berufswahl als Frauenarzt bestimmt.

Nach dem Abitur studierte er Medizin, zuerst je ein Semester in Leipzig und München, dann zwei Semester in Jena und schließ­lich in Königsberg, wo er das Staatsexamen ablegte. Während des Studiums und danach absolvierte er den Militärdienst. Nach einer Schiffsreise im Sommer 1897 wurde er Assistenzarzt bei dem Bonner Gynäkologen Heinrich Fritsch (1844-1915), dem damals führenden deutschen Universitäts-Frauen­arzt. Er fand familiären Anschluss und verlobte sich mit der zweiten Tochter Änne Fritsch (1878-1946), die er 1900 heiratete. Sein Schwiegervater lobte ihn weg nach Erlangen, wo er sich 1901 habilitierte. 1904 bewarb er sich bei Bumm in Berlin und wurde dessen Oberarzt. Es war die damals begehrteste Nachwuchsstelle in Deutschland. 1907 erhielt er gleichzeitig drei Rufe: nach Tübingen, das er ablehnte, nach Greifswald, das er annehmen wollte, dann aber auch ablehnte, um den Ruf nach Marburg anzunehmen. 1909 wurde er nach Kiel berufen, wo er bis 1922 blieb. Dann nahm er einen Ruf nach Leipzig an, obwohl schon klar zu sein schien, dass er bald Bumms Nachfolger in Berlin werden könnte. Diesen Ruf erhielt er dann auch 1925 und konnte nun, zwischen Sachsen und Preußen, aus viel stärkerer Stellung verhandeln. Das Ergebnis dieser Verhandlungen war, dass in Leipzig, das er verließ, und in Berlin, wo er hinging, je eine neue Klinik gebaut wurde. In Berlin wurde Stoeckel bald einer der bekanntesten und gesuchtesten Frauenärzte. Konsultationen führten ihn in viele Länder, u. a nach Bulgarien und Rumänien.

Vier Eigenschaften zeichneten Stoeckel als Universitätsmediziner aus: er war 1) ein begnadeter Redner. Im Kolleg und in Vorträgen sprach er immer frei und fesselnd, in einfachem, gutem Deutsch. Er war 2) ein hervorragender Operateur, der viele bekannte Operationsmethoden verbesserte, neue ausprobierte. Dann war er 3) ein von Vielen gesuchter, obwohl sehr strenger Ausbilder. Es wird berichtet, er habe bei Assistenten und Praktikanten sich nicht gescheut, vor der Visite die Reinlichkeit ihrer Fingernägel zu prüfen. Viele seiner Schüler saßen auf Lehrstühlen, z.B. in Kiel, Königsberg, Jena, Berlin Ost und West, oder waren Leiter von Geburtshilflichen Landeskliniken und Abteilungen. Dazu gehörte die glänzende Organisation seiner Kliniken und von großen Fachkongressen. Und schließlich dominierte er 4) lange Zeit in seiner Wissenschaft als Herausgeber der beiden Fachzeitschriften (Zentralblatt für Gynäkologie und Zeitschrift für Frauenheilkunde) sowie durch seine Lehrbücher (für Geburtshilfe und für Gynäkologie). Diese Lehrbücher erlebten zahlreiche Auflagen bis lange nach dem letzten Kriege.

Sein Einsatz galt gleichermaßen der Gesundheit der Frauen wie der Geburt gesunder Kinder. Zeitlebens hat er sich gegen freie Abtreibung ausgesprochen. Nur nach 1945 war er bereit, nach den vielen Vergewaltigungen Ausnahmen zu machen. Beispielhaft war seine Pflichtauffassung. Immer verlangte er von sich mehr als die Vorschriften, und ebenso von seinen Studenten und Ärzten. 1945, während der Schlacht um Berlin, blieb er, weit über 70 Jahre alt, auf seinem Posten, leitete die Klinik, die in einen Bunker verlegt war, operierte, machte Visiten, wäh­rend über ihm Berlin bombardiert und zerstört wurde.

Selbstbewusst trat er den politischen Größen gegenüber und nahm ihre Auszeichnungen entgegen, vor dem ersten Kriege von dem damals allgewaltigen Ministerialdirektor Althoff, in der Weimarer Zeit von Kultusminister Becker, im dritten Reich von Goebbels und Hitler, der ihn veranlasste, über die Emeritierung 1939 hinaus im Amt zu bleiben, in der Besatzungszeit von den Russen, die ihn mit Achtung behandelten und 1946 im Amt bestätigten, und danach von der DDR, als er den Staatspreis erhielt. Nie ließ er sich dazu bewegen, ihrer Partei oder Bewegung sich anzuschließen, wozu Hitler ihn aufgefordert hatte.

In der Zeit der größten Entbehrung und Bedrängnis nach dem Kriege verlor er 1946 seine Frau, die buchstäblich verhungerte. Festigkeit und Hilfe fand er in der Arbeit.

Immer blieb er bewusst mit seiner ostpreußischen Heimat verbunden. Nach dem ersten Kriege reiste er mit seiner Familie dorthin, um sie seiner Familie in der Notzeit zu zeigen. Im Dritten Reich verbrachte er jeden Sommer seine Ferien dort. Von Kindheit an hatte er, vom Vater ererbt, eine Pferdeleidenschaft. Ausgleich zu der strengen Arbeit waren regelmäßige Besuche der Rennen in Hoppegarten und des Derbys in Hamburg. Er war ein von Fachleuten geachteter Hippologe. Fahrten ins Ausland zu Konsultationen nutzte er gerne zu Besuchen dort gelegener Gestüte. In der Konzentration bei Operationen sprach er vor sich hin ostpreußisch platt: „nu hebb wie em“, wenn die Operation gelang.

Er liebte Musik, spielte selber Klavier. Regelmäßig besuchte er in Berlin Konzerte und Museen. In ernsten Lebensstunden schrieb er tief empfundene, schöne Gedichte. Seine Erinnerungen Gelebtes Leben, 1954 von seinem Verlag (Thieme) in 50 Exemplaren maschinenschriftlich hergestellt, wurden in einer von Hans Borgelt überarbeiteten Fassung 1966 bei Kindler in München veröffentlicht; seine Ansprachen 1952 bei Thieme in Stuttgart. Seine im Ruhestand diktierten Betrachtungen zu poli­tischen, medizinischen, hippologischen Themen und zu seinen leiblichen und akademischen Nachkommen umfassen 15 umfangreiche maschinenschriftliche Bände.

Von früheren Patientinnen, Schülern, Kindern und Nachkommen hoch verehrt und geliebt, nur selten wegen seiner Strenge gemieden, verbrachte er noch zehn Jahre nach seiner Emeritierung 1950, oft auf jährlichen Reisen zu Kindern, Schülern, Pfer­deereignissen, Vorträgen in ganz Deutschland. Nachdem er im Mai 1945 seine Wohnung durch Brandstiftung verloren hatte, lebte er in einer kleinen Dienstwohnung in der Klinik. Dort hatte er einen überdimensional großen Schreibtisch, auf dem unzählige Bilder aller seiner Lieben, Verwandten, Schüler, Bekannten und Freunde standen. Dort saß er stundenlang in stillem Gespräch mit ihnen. Bei vollem Bewusstsein starb er wenige Wochen vor seinem 90. Geburtstag.

Bild: Archiv der Familie des Gewürdigten.

Hans Rothe