Biographie

Tammann, Gustav

Herkunft: Rußland (Wolga- u. Schwarzmeer)
Beruf: Chemiker
* 28. Mai 1861 in Jamburg/Gouv. St. Petersburg
† 17. Dezember 1938 in Göttingen

In Jamburg als Sohn des aus Livland gebürtigen Arztes Heinrich Tammann (+ 1864) geboren, ist der spätere Chemiker Gustav Tammann in der Universitätsstadt Dorpat aufgewachsen, wo er die Vorschule und das dortige Gouvernements-Gymnasium von 1872 bis 1879 besuchte. Tammann, ein Zeitgenosse des 1854 geborenen Wilhelm Ostwald, entschied sich, das Vorbild Ostwalds vor Augen, für die physikalische Chemie. Er studierte an der Universität in Dorpat Physik (1879/80) und Chemie (1880-1882). Seine Universitätslehrer waren Carl Schmidt, Johann Lemberg, Gustav von Bunge und Alexander von Oettingen. Er gehörte der studentischen Korporation „Neobaltia“ an und bekleidete in ihr mehrere Ehrenämter.

Tammann wurde Laborant am Chemischen Institut der Universität, dann unterrichtete er (1883/1884) als Lehrer an der Realschule. Im Jahre 1885 promovierte er zum Mag. chem., zwei Jahre später habilitierte er sich als Privatdozent an der Universität. Hier entfaltete er alsbald eine außerordentlich erfolgreiche Tätigkeit als Forscher und Lehrer. Er promovierte (1890) zum Dr. chem., vollendete (in Göttingen) gemeinsam mit Walter Nernst eine Arbeit über die Abgabe von Wasserstoff durch Metalle in Abhängigkeit vom Druck, die Aufsehen erregte, schlug einen Ruf an die Universität Gießen aus, wirkte von 1890-1892 als Dozent in Dorpat, erhielt im Jahre 1891 eine außerordentliche Professur für Chemie, wurde ein Jahr später Institutsdirektor. 1894 folgte die Verleihung der ordentlichen Professur. In dieser Stellung blieb er, mehrfach ins Ausland gerufen (er besuchte u.a. Holland, Baku und Paris), doch nur knapp zehn Jahre.

Im Jahre 1902 erging an Tammann der Ruf, das neuerrichtete Katheder für Anorganische Chemie in Göttingen zu übernehmen. So verließ er Dorpat und blieb in Göttingen bis zu seinem Tode, denn „extra Göttingen non est vivere“, wie er geäußert haben soll. Im Januar 1903 wurde Tammann zum Leiter des Forschungsinstituts in Göttingen ernannt. Seine wesentlichsten Arbeiten waren die thermische Analyse, die systematische Metallkunde, die physikalische Chemie der Gläser und Silikate. Seine größten Erfolge hat er auf dem Gebiet der Metallurgie, der Untersuchung des heterogenen Gleichgewichts, insbesondere der Kristallisation und über den Glaszustand errungen.

Seiner Dorpater Zeit verdankt die Wissenschaft außer seinen Forschungen im Bereich der anorganischen Chemie zahlreiche Untersuchungen auf dem Gebiet der physikalischen Chemie, in denen er Grundlegendes über den Zustand der Lösungen und eine wesentliche Erweiterung und Ausgestaltung und Theorie der Lösungen lieferte. Durch die große Schöpfung der systematischen Metallkunde hat er die Praxis entscheidend beeinflußt: der Weg aus seinem Laboratorium führte unmittelbar in die Industrie.

Tammann war ein Wissenschaftler, dem Erfolg in seiner Forschung und Anerkennung seitens seiner Zeitgenossen und der Nachwelt in reichem Maße zuteil geworden ist. Er besaß die Ehrenmitgliedschaft der Deutschen Bunsen-Gesellschaft, der Deutschen Gesellschaft für Metallkunde, des British Institute of Metals, der Chemical Society, der Dorpater Naturforscher-Gesellschaft, der Literarischen Gesellschaft in Reval; er war Dr.-Ing. h.c. und Dr.m.nat. h.c., Inhaber der Goldenen Medaille der Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg, deren korrespondierendes Mitglied er war, der Liebig-Denkmünze des Alldeutschen Vereins der Chemiker, der Bakhuis-Roozeboom-Medaille der Academie der Wissenschaften zu Amsterdam, der Goldenen Paterno-Medaille (Rom); im Jahre 1936 erhielt er den Adlerschild des Deutschen Reiches. Er war Ehrenbürger der Techn. Hochschule Stuttgart.

Neben zahlreichen Abhandlungen, vor allem in Zeitschriften für physikalische, physiologische, praktische und anorganische Chemie, verfaßte er Werke über „Kristallisieren und Schmelzen“ (1903), über „Die Beziehungen zwischen den inneren Kräften und Eigenschaften der Lösungen“ (1907), über „Die Einwirkungsgrenzen in Mischkristallreihen“, ein „Lehrbuch der Metallkunde“ (1914) und ein „Lehrbuch der heterogenen Gleichgewichte“ (1924).

Lit.: Roderich von Engelhardt: Die deutsche Universität Dorpat (Reval 1933); Hugo Semel: Die Universität Dorpat 1902-1918. Skizzen zu ihrer Geschichte (Dorpat 1918); Deutschbaltisches biographisches Lexikon 1710-1960 (Köln/Wien 1970); Album Neobaltorum 1879-1956 (Göttingen 1956); Siegfried Boström: Gustav Tammann (in: Baltische Hefte, Jg. 1963/1964, Gr. Biewende/Hannover, S. 139ff.).