Biographie

Temme, Jodocus Donatus Hubertus

Herkunft: Ostpreußen
Beruf: Jurist, Politiker, Schriftsteller
* 22. Oktober 1798 in Lette/Grafschaft Rheda
† 14. November 1881 in Zürich

In seiner AutobiographieDas Bilderbuch meiner Jugend, erschienen 1922, berichtet der ostpreußische Dichter Hermann Sudermann, daß ihm „die Pforten epischer Dichtung“ unter anderem von „dürftige[n] Kriminalgeschichten“ aus seiner östlichen Heimat aufgeschlossen worden seien, die er in alten Bänden derGartenlaube entdeckte und die von einem gewissen Temme stammten. Schon für den späten Sudermann gehörte dieser Autor zu den „Längstvergangenen“. Doch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Jodocus Donatus Hubertus Temme einer der beliebtesten und fruchtbarsten deutschen Unterhaltungsschriftsteller. Sein äußerst umfangreiches Werk umfaßt mindestens sechs Romane, die im nördlichen Ostpreußen spielen: Die schwarze Mare. Bilder aus Litthauen (1854), Anna Jogszies (1856), Schwarzort (1863), An der Memel (1872), Der Freiherr von Ullosen (1873) undIn der Ballus (1874).

Dabei war Temme ursprünglich Jurist. 1798 in Westfalen geboren, studierte er 1814 bis 1817 Rechtswissenschaften in Münster und Göttingen und begleitete den Prinzen Franz von Bentheim zum Studium nach Heidelberg, Bonn und Marburg an der Lahn. Nach einigen Assessorenanstellungen ging er 1833 als Kreisjustizrat nach Ragnit in Ostpreußen, wo er drei Jahre blieb. Daß ihm diese Region mehr bedeutete als nur eine Station auf der Karriereleiter, zeigt der Band Die Volkssagen Ostpreußens, Litthauens und Westpreußens, den Temme bereits1837 zusammen mit W.J.A. Tettau herausbrachte. Weitere Sammlungen aus Pommern, Rügen und der Altmark sollten folgen.

Von Ragnit wurde Temme nach Stendal, dann nach Greifswald und schließlich nach Berlin versetzt. Hier begann man, „peinlich wachsam“ auf ihn zu werden, weil er den damals als staatsgefährdend erscheinenden Gedanken vertrat, ein Richter urteile umso gerechter, je besser er das Volk seines Gerichtsbezirkes kenne. Ebenfalls anstößig wirkte es, daß er – unter dem Pseudonym „Heinrich Stahl“ – seine ersten Kriminalgeschichten publizierte. Als er sich gegen ein neues Gesetz wandte, das die Ehescheidung erschweren sollte, wurde er 1844 wieder nach Ostpreußen „verbannt“, diesmal als Direktor des Land- und Stadtgerichts in Tilsit. Kurz nach der Märzrevolution 1848 holte ihn das Ministerium Camphausen jedoch als Staatsanwalt am Kriminalgericht nach Berlin zurück. Gleichzeitig wurde er als Vertreter des Kreises Ragnit Mitglied der preußischen Nationalversammlung. Vor seiner Abreise hatte er imTilsiter Wochenblatt (vom 18.4.1848, Nr. 31) einen Aufsatz „An die Wähler Preußens“ veröffentlicht, in dem er die Grundzüge seiner politischen Einstellung darstellte. Obwohl sich Temme ausdrücklich für die konstitutionelle Monarchie und gegen eine Republik aussprach, galt er im Parlament sogleich als Führer der „entschiedenen Linken“. Nachdem das März-Ministerium Camphausen von dem Ministerium Auerswald-Hansemann abgelöst worden war, wollte man Temme loswerden und schickte ihn als Vizepräsidenten zum Oberlandesgericht nach Münster. Dadurch ging er zunächst seines Abgeordnetenmandats verlustig, erhielt jedoch bei der Wiederwahl erneut einen Sitz in der Nationalversammlung, wo er bis zu ihrer Auflösung am 5. Dezember 1848 zu den härtesten Kämpfern gegen die Reaktion gehörte.

Nach Münster zurückgekehrt, wurde Temme aufgrund seiner parlamentarischen Tätigkeit umgehend verhaftet und vom Amt suspendiert. Er saß noch im Zuchthaus, als ihn der Kreis Neuß in die Deutsche Nationalversammlung nach Frankfurt wählte. Daraufhin erfolgte Ende Januar 1849 die Freilassung. Im Februar wurde er auch in das preußische Abgeordnetenhaus gewählt. Als die Frankfurter Nationalversammlung beschloß, nach Stuttgart überzusiedeln, blieb Temme auch Mitglied dieses Stuttgarter „Rumpfparlaments“ bis zu dessen gewaltsamer Auflösung. Im Juli 1849 wurde Temme wiederum verhaftet und mußte diesmal neun Monate im Zuchthaus verbringen, bis er endlich am 6. April 1850 von der Anklage des Hochverrats freigesprochen wurde. Im Gefängnis begann er größere Romane zu schreiben, neben den Neuen deutschen Zeitbildern auch den in Nordostpreußen spielenden Roman Die schwarze Mare. Darüber hinaus entstand hier sein erstes juristisches Werk Die Grundzüge eines deutschen Strafverfahrens. Schon während seiner Haftzeit hatte die Stadtverordnetenversammlung Tilsits einem Antrag zugestimmt, dem ehemaligen Land- und Stadtgerichtsdirektor das Ehrenbürgerrecht zu verleihen. Der Magistrat wartete aber den Freispruch ab, und so erhielt Temme den Tilsiter Ehrenbürgerbrief erst am 18. April 1850.

Der Freispruch bedeutete jedoch nicht die Rehabilitierung. Man strengte gegen ihn nun ein Disziplinarverfahren an, das am 17. Februar 1851 mit der Entlassung aus dem Amt ohne Pension endete. Damit stand Temme, Familienvater mit sechs Kindern im Alter von 9 bis 15 Jahren, vor dem wirtschaftlichen Ruin. Er ging zunächst als Chefredakteur der Neuen Oderzeitung nach Breslau. Weitere politische Schwierigkeiten trieben ihn schließlich 1852 ins Exil nach Zürich. Dort erhielt er an der staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität eine Professur, allerdings ohne regelmäßige Einkünfte. So verlegte er sich ganz aufs Schreiben. Die Gartenlaube – damals noch eine politisch liberal orientierte Zeitschrift – veröffentlichte seine Erzählungen; gleichzeitig fand er in dem freisinnigen Leipziger Verlagsbuchhändler Johann Heinrich Schultze einen Förderer seiner schriftstellerischen Tätigkeit. So verfaßte Temme bis zu seinem Tode – neben juristischer Fachliteratur – über 150 Bände, darunter viele Romane meist historischen oder kriminalistischen Inhalts. Nach einem erneuten kurzen Zwischenspiel in der Politik – 1863 bis 1864 war er wieder Abgeordneter im preußischen Parlament – begab sich Temme 1878 noch einmal auf die Reise nach Tilsit, wo er vorhatte, seinen Lebensabend zu verbringen. Doch nach dem Tod seiner Frau im selben Jahr kehrte er nach Zürich zurück, wo er starb.

Temme war zweifellos kein überragender Dichter. Seine belletristischen Schriften sind sprachlich anspruchslos. Doch bemüht er sich immer um eine möglichst realistische Darstellung. Und es bleibt zu prüfen, ob die von Sudermann etwas despektierlich als „dürftige Kriminalgeschichten“ bezeichneten Erzählungen aus Ostpreußen – genauer Preußisch-Litauen – nicht eine Art Vorläufer von Ernst Wicherts und eben Hermann Sudermanns eigenen Litauischen Geschichten darstellen. Darüber hinaus besitzt Temme einen scharfen Blick für historische und soziologische Bedingungen. Das zeigt der Abschnitt in den Erinnerungen über seine Ragniter Zeit, wo er den wirtschaftlichen Niedergang Preußisch-Litauens nicht, wie etwa Ernst Wichert, in der Mentalität der litauischen Bevölkerung begründet sieht, sondern in dem politischen Faktum der russischen Grenzsperre von 1830, wodurch die Verkehrs- und Erwerbsquellen dieses einst blühenden Gebietes abgeschnitten worden seien.

So sollten zumindest Temmes ostpreußischen Romane und Erzählungen heute vielleicht wieder stärkere Beachtung finden, wenigstens als eine bisher so gut wie nicht ausgewertete kulturgeschichtliche Quelle für den überwiegend von litauischen Bauern besiedelten Landstrich an der Memel im 19. Jahrhundert.

Lit.: J.D.H. Temme: Erinnerungen. Hrsg. v. Stephan Born. Leipzig 1883. – Altpreußische Biographie. Bd. II, Lieferg. 6, Marburg/L. 1965, S. 723. – Herbert Kirinnis: Jodocus Donatus Hubertus Temme. In: Acta Prussica. Abhandlungen zur Geschichte Ost- und Westpreußens. Fritz Gause zum 75. Geburtstag, Würzburg 1968, S. 261-284. – Bogislav von Archenholz: Erinnerung und Abschied. Schicksal und Schöpfertum im deutschen Osten, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1972, S. 93-97. – Wilhelm Schulte: Westfälische Köpfe. 300 Lebensbilder bedeutender Westfalen, 2., verb. Auflage Münster 1977, S. 332-334.

Bild: J.D.H. Temme: Erinnerungen.Hrsg. v. Stephan Born. Leipzig 1883.

 

  Maximilian Rankl