Biographie

Thiel, Josef Franz

Herkunft: Donaugebiet
Beruf: Missionar, Ethnologe, Museumsdirektor
* 18. September 1932 in Filipowa/ Batschka

Josef Franz Thiel ist ein weltweit anerkannter Wissenschaftler mit Bilderbuchkarriere. Geboren und aufgewachsen in Filipowa in der Batschka als Kind des Tischlers Balthasar Thiel und Eva, geb. Zollitsch, lernte Josef Franz nicht nur Deutsch als Muttersprache, sondern auch Ungarisch und Serbisch. Er besuchte nämlich die serbischsprachige Volksschule, nach der Besetzung Jugoslawiens und der Annexion der Batschka an Ungarn zwei Jahre lang die ungarische Volksschule und schließlich das ungarischsprachige Gymnasium in Subotica. Nach Werbass ans deutschsprachige Gymnasium wollte ihn der Vater nicht gehen lassen, weil es ihm zu nazistisch ausgerichtet war. Früh entwickelte Josef Franz ein Interesse an Geschichte, Literatur und fremden Kulturen. Als ab Ostern 1944 durch die näherrückende Sowjetarmee der Schulunterricht ausfiel, begann er in Miletitsch eine Schlosserlehre. Weil sein Vater sich geweigert hatte, zur SS einzurücken, wurde er 1944 nach Russland zur Zwangsarbeit verschleppt und kam erst fünf Jahre später wieder frei. Josef Franz Thiel selbst und seine Verwandten wurden im Vernichtungslager Gakowa an der ungarischen Grenze interniert. Der zwölfeinhalbjährige Junge gehörte dort zu den ältesten Kindern und wurde daher immer zum Arbeitsdienst eingeteilt, musste u.a. Massengräber schaufeln. 1946/47 arbeitete er mit dem Status eines Lagerinsassen als Maschinenschlosser in einer großen Mühle. 1947 konnte die Familie nach Österreich fliehen, in der Steiermark arbeitete Thiel zunächst als Kleinknecht auf einem Bauernhof und bestand 1953 am St.-Rupert-Gymnasium in Bischofshofen das Abitur.

Von 1953 bis 1960 studierte er Theologie und Philosophie, ab 1954 auch Ethnologie. Er hatte sich den Steyler Missionaren (SVD) angeschlossen und sein Jahr Noviziat in St. Gabriel/ Möd­ling aufgenommen. Durch die Seminare von Paul Schebesta, der gerade von seiner vierten Pygmäen-Expedition aus dem Kongo zurückgekehrt war, entwickelte Thiel ein wachsendes Interesse an Anthropologie und Medizin. Zudem hörte er Vorlesungen über Rhetorik. Am Ende absolvierte er auch ein Praktikum in einem Hospital und nahm in Wien Kurse an der Abteilung für soziale und kulturelle Anthropologie. Nachdem er 1960 das Abschlussexamen für das kirchliche Lehramt abgelegt hatte, studierte er an der Universität Grenoble Französisch und ging 1961 für vier Jahre als Buschmissionar und Forscher in die Republik Kongo (früher Zaire), wo er in den Dörfern der Bayansi lebte und eng mit ihrer Sprache, ihrem Brauchtum, ihrer Religion und Weltanschauung vertraut wurde und bei der Einrichtung von Erziehungs- und Gesundheitsprogrammen half. Das von ihm als Seelsorger betreute Gebiet war 180 Kilometer lang, 50 Kilometer breit und nur teilweise befahrbar.

Thiel bekannte später, diese Zeit sei die schönste und erfüllteste seines Lebens gewesen. Er wollte zusammen mit den Indigenen abseits aller modernen Zivilisation leben, ging mit dem Gewehr auf die Jagd, predigte viel, zog viele Katechisten heran, gründete Schulen und Entbindungsstationen. Eine Hauptaufgabe sah er darin, viele einheimische „Multiplikatoren des Christentums“ zu gewinnen, sich um Kranke zu kümmern und immer Zeit für die Menschen zu haben. Schon damals trat er für eine Inkulturation ein, für eine Verwurzelung des christlichen Glaubens in der traditionellen afrikanischen Kultur bzw. eine Verbindung zentraler christlicher Ideen mit afrikanischer Kultur und Religion. Damit wandelte er auf Paul Schebestas Spuren und war seiner Zeit voraus. Er hatte gelernt, dass nicht allein die Hochgott-Idee, sondern auch Ahnenkult und Fetischverehrung genuin religiöse Kräfte sind. Da die Wirtschaft und Sozialstruktur nicht nur in Zentralafrika auf diesen Mächten beruhen, werden sie durch Verbote nur ins Klandestine abgedrängt, wo sie jedoch weiterleben. Thiel verwies in diesem Zusammenhang gern auf die Tatsache, dass auch das Christentum nicht aus dem Nichts entstanden sei, sondern Anleihen aus heidnischen Kulturen gemacht und daraus ein neues Ganzes geschmiedet habe. Bis heute enthalte das Christentum nicht-christliche Elemente, nur wissen die meisten Menschen nicht darum. Was anfangs Synkretismus war, sei zu christlichem Brauchtum geworden. Thiel hatte also klar erkannt, dass man ohne Soziologie keine richtige Mission betreiben kann, sondern bestenfalls dann, wenn man die Strukturen der jeweiligen Gesellschaft kennt und sich mit den Menschen ohne Dolmetscher verständigen kann. Sein Ziel einer Afrikanisierung des Christentums in Ritus, Wortverkündigung, Musik und Kunst konnte er teilweise verwirklichen, stieß allerdings damit auf wenig Verständnis, denn in der Mission herrschte damals noch eine kolonialistische Einstellung vor.

Wieder zurück in Europa, studierte Thiel ab 1964 in Paris an der Sorbonne Afrikanische Soziologie, Religion, Linguistik und Geographie und unternahm eine Forschungsreise durch Afrika. 1970 promovierte er im Fach Ethnologie mit dem Prädikat ‚summa cum laude‘ mit dem Thema „La situation religieuse des Mbiem“. (Die Mbiem sind eine Untergruppe der Bayansi, die an den Unterläufen von Kwango und Kwilu siedeln.) Sein Doktorvater war der große Ethnologe Georges Balandier, damals ein Gegenpol zu Claude Lévy-Strauss, zu dem er eine freundschaft­liche Beziehung unterhielt. Unter seinen Lehrern waren auch Paul Mercier, Denise Paulme und Louis-Vincent Thomas. Bald nachdem er wieder in Deutschland war, erhielt er im Sommer 1969 an der philosophisch-theologischen Hochschule in Sankt Augustin (bei Bonn) eine Stellung und hielt Vorlesungen, später auch an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn, wo er 1976 zum Professor für Ethnologie ernannt wurde. Von 1977 bis 1984 war er wissenschaftlicher Leiter des Ethnologischen Museums ‚Haus Völker und Kulturen‘ in Sankt Augustin. Darüber hinaus arbeitete er für die Zeitschrift ‚Anthropos‘, eine internationale Zeitschrift für Völker- und Sprachkunde, war 1969 bis 1977 ihr Chefredakteur, ab 1984 war er Mitredakteur. Er wurde Mitglied des Expertenausschusses der Deutschen Forschungsgesellschaft. Thiels Form der Ethnologie entstand also aus zwei Hauptströmen: der Wiener Schule und der Pariser Soziologie Afrikas.

1985 wurde Thiel zum Vorsitzenden des Museums für die Kulturen der Welt in Frankfurt am Main ernannt. In den folgenden Jahren organisierte er zahlreiche Ausstellungen, baute Netzwerke auf und ermöglichte das gegenseitige Kennenlernen, eine nähere Zusammenarbeit und systematischen Austausch zwischen den anthropologischen Museen im ganzen deutschen Sprachraum. Zudem versuchte er, die Kustoden mit eigenen Vorlesungen näher an die Universität heranzuführen, damit sie mit der Jugend und dem Wandel der Ideen in Kontakt kamen. Einen Lehrstuhl an der Universität Mainz hatte er seit 1986.

Überdies wurde er 1993 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde (DGV) und behielt dieses Amt bis 1997, um dann Ehrenmitglied zu bleiben. Stellvertretender Vorsitzender war er bereits in den Jahren 1979 bis 1981 gewesen. Auch in dieser Funktion regte er mit Hilfe der Kollegen Münzel und Kohl nachhaltige Treffen der Institutsleiter an. Wichtig war Thiel dabei auch die Erkenntnis, dass Museumsleute sich nicht auf die Popularisierung ihrer Exponate beschränken dürfen, sonst seien sie nach ein paar Jahren innerlich leer, sondern weiter forschen müssen, da sie Wissenschaftler sind, um wieder neue Perspektiven zeigen zu können, denn ein Objekt beantworte immer nur jene Fragen, die man ihm stellt. Die theoretische Fixierung beim Fragen und die voreingenommene Deutungsarbeit ermöglichen Ethnologen nach Thiels Ansicht ohnehin immer nur Teilaspekte, selten erreichen ihre Aussagen daher mehr als zwanzig Prozent Wahrheit. Einen überaus fortschrittlichen Standpunkt nahm Thiel auch in museumspolitischer Hinsicht ein. Die besten Objekte afrikanischer Kunst seien nicht in Afrika, sondern in westlichen Museen zu finden. Schuld an dieser Misere trügen Kolonialisten und raffgierige Sammler, aber auch skrupellose Museumsdirektoren, die mit Objekten handeln.

1998 ging Thiel in den Ruhestand. Als Pensionist befasste er sich u.a. damit, seine über 125 Tonbandaufnahmen mit weit über 400 Stunden Interviews aus seinen Forschungen im Kongo in den Sprachen Kiyansi, Kikongo und Französisch zu transskribieren und ins Deutsche zu übersetzen, um sie dem Frobenius-Institut zu vermachen. In seinen 2012 erschienenen Kindheitserinnerungen ‚Fremd zu Hause‘ beschreibt der emeritierte Ethnologe kritisch und mit scharfem Verstand die Verhältnisse in seinem Geburtsort Filipowa vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. ‚Jahre der Zwietracht‘ heißt ein Kapitel, das Gegenteil einer schöngefärbten Kindheit. Hier beschreibt der Autor das dunkelste Jahrzehnt der Donauschwaben an Theiß und Donau mit seinen Dissonanzen zwischen den Anhängern der Nationalsozialisten, einer Clique von Erneuerern, und den unpolitisch Religiösen, wie sich viele seiner Landsleute von Emissären des Dritten Reichs verführen ließen und sich freiwillig zur Waffen-SS meldeten. Kritisch geht Thiel auch mit den Geschichtsschreibern ins Gericht, die nicht selten dazu tendieren, manches unter den Teppich zu kehren und zu romantisieren, die Donauschwaben nur als unschuldige Opfer darzustellen. Thiel dagegen gibt das wieder, was er selbst erlebt und aus erster Hand gehört hat. Derzeit beschäftigt Thiel der Dialekt seiner Heimatgemeinde Filipowa mit seinen etymologischen Hintergründen und Herkünften, über den er ein Buch vorbereitet.

Seit 1961 ist Thiel Autor zahlreicher Fachartikel in deutschen und französischen Zeitschriften. Seine wichtigsten Schriften sind folgende: ‚Ahnen – Geister – höchste Wesen. Religionsethnologische Untersuchungen im Zaïre-Kasai-Gebiet‘. Sankt Augustin 1977; ‚Religionsethnologie. Grundbegriffe der Religionen schriftloser Völker‘, Berlin 1984; ‚Christliche Kunst in Afrika‘, Berlin 1984; ‚Was sind Fetische‘, 1986; ‚Grundbegriffe der Ethnologie. Vorlesungen zur Einführung‘, Berlin 1992; ‚Jahre im Kongo. Missionar und Ethnologe bei den Bayansi‘, Frankfurt am Main 2001.

Zurückblickend auf seine multiethnisch geprägte Kindheit und seine Beschäftigung mit fremden Kulturen und Religionen war Thiel der Meinung, „dass große Kulturen immer Produkte aus verschiedenen Kulturen sind. Keine Religion und keine Kultur schöpft ausschließlich nur aus sich. Das haben wir leider in der Vojvodina immer wieder vergessen.“

Lit.: Paul Mesli/ Franz Schreiber/ Georg Wildmann: Filipowa. Bild einer donauschwäbischen Gemeinde. Siebenter Band: Filipowa weltweit, Wien 1992, S. 195. – Von Filipowo nach Frankfurt. Prof. Dr. Josef Franz Thiel ist Leiter des Völkerkundemuseums, in: Der Donauschwabe v. 27.07.1997, S. 10. – Der Völkerkundler Professor Dr. Josef F. Thiel, in: Filipowaer Heimatbriefe, Weihnachten 1998, Heft 53, S. 40-53; Interview mit Josef Franz Thiel, 31.03.2009, durchgeführt in der Frankfurter Privatwohnung (Freigabe durch J. F. Thiel am 04.07.2011, Transskription: Claire Spilker, Edierung: Vincent Kokot, Ansprechpartner: Dieter Haller (dieter.haller@rub.de). Internet:

Bild: Archiv Freundeskreis der Filipowaer

Weblinks: www.germananthropology.de
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Stefan P. Teppert