Biographie

Thienemann, Johannes

Herkunft: Ostpreußen
Beruf: Ornithologe
* 12. November 1863 in Gagloffsömmern, Kr. Sömmerda/Thüringen
† 12. April 1938 in Rossitten, Kurische Nehrung/Ostpr.

Johannes Thienemann wurde am 12. November 1863 als Sohn eines Pastors in Thüringen geboren. Schon sein Vater war ein anerkannter Ornithologe, und vogelkundliche Fragen bewegten auch seinen Großvater väterlicherseits und dessen beide Brüder. So wurde er bereits im Eltern- und Großelternhaus an ornithologische Fragen herangeführt. 1873 notierte er seine ersten vogelkundlichen Beobachtungen, ab 1879 bereits führte er ein ornithologisches Tagebuch.

Nach dem Besuch der Gymnasien in Sondershausen und Zeitz, Abitur 1885, studierte er aus alter Familientradition in Leipzig und Halle/S. Theologie. Nach bestandenem Examen und der Verwaltung einer Pfarrstelle in Walternienburg, Kr. Anhalt-Zerbst, nahm er eine Lehrerstelle in Leipzig an und wandte sich jedoch mehr und mehr den Naturwissenschaften zu.

Im Sommer 1896 bereiste Thienemann, angeregt durch einen Freund aus Zeitzer Schultagen, Theologe und begeisterter Naturkundler wie er, Friedrich Lindner, die Kurische Nehrung und kam am 18. Juli 1896 erstmals in das Fischerdorf Rossitten. Er erkannte sofort die hier gebotene einmalige Beobachtungsmöglichkeit des herbstlichen Vogelzugs, von der ihm Lindner berichtet hatte. In kleinen und großen Schwärmen passieren hier Vögel den schmalen Landstreifen zwischen Meer und Haff auf ihrem Weg in den Süden bzw. im Frühjahr in den Norden und machen Rast. Der alljährliche Zug Hunderttausender Vögel, die diese damals fast noch unberührte Dünenwelt entlang flogen, ließ Thienemann nicht mehr los.

Nun suchte er nach einer Möglichkeit, dauerhaft auf der Kurischen Nehrung zu bleiben und entwickelte sein Projekt des Aufbaues einer dauerhaften Station zur Beobachtung des Vogelzugs und der systematischen Vogelzugforschung. Er verließ Leipzig, wurde vorübergehend Direktor einer Privatschule in Osterwieck und Lehrer an einer Ackerbauschule in Badersleben, beide im Kr. Halberstadt, besuchte immer wieder Rossitten und verbrachte 1899 erstmals das ganze Jahr auf der Kurischen Nehrung. Nach viel Geduld und Überzeugungsarbeit konnten seine Verhandlungen zum erfolgreichen Abschluss gebracht werden. Die offizielle Gründung der Station, die die Bezeichnung „Vogelwarte Rossitten“ erhielt, fand dann am 1. Januar 1901 statt. Die Deutsche Ornithologische Gesellschaft stand mit ihrem Namen und Renommee hinter der neuen Einrichtung und war deren Inhaberin, während die erforderlichen Mittel von den preußischen Ministerien für Kultus und Landwirtschaft zur Verfügung gestellt wurden. „Ein dürftiger Sammlungsraum, ein Schrank mit ein paar ausgestopften Vögeln und ein Herz voll glühender Begeisterung für die Sache – das waren die Dinge, mit denen ich ans Werk zu gehen versuchte“, schrieb Thienemann später über die Gründungszeit der Vogelwarte, die unter seiner Leitung Weltruhm erlangte.

Johannes Thienemann holte ab 1901, neben der Tätigkeit in Rossitten, sein Studium der Naturwissenschaften in Königsberg nach und wurde 1906 zum Dr. phil. promoviert. 1908 erhielt er eine formale Anstellung als Kustos am Zoologischen Museum und wurde 1910 zum Professor an der Universität Königsberg ernannt. Unterstützung fand er in naturverbundenen Kreisen, wobei ihm seine waidmännische Neigung zustatten kam. Besondere Förderung erhielt er von dem samländischen Rittergutsbesitzer Ernst Ulmer aus Quanditten, der wesentlich zum Bau einer Feldstation der Vogelwarte (1908, neu 1922, etwa 7 km südlich von Rossitten an einer besonders schmalen Stelle der Nehrung) beitrug; nach diesem wurde sie Ulmenhorst benannt. In den Wintermonaten der ersten Jahre war Thienemann viel in Ostpreußen unterwegs, um mit Vorträgen vor Dorfgemeinschaften, Landwirten, Jägern und anderen Naturfreunden von der Arbeit der Vogelwarte zu berichten und für sie zu werben. In späteren Jahren referierte er auch im übrigen Deutschland und sogar darüber hinaus. Die hieraus resultierende Aufmerksamkeit sicherte ihm viele Unterstützer und Zuarbeiter.

Im Zentrum aller seiner wissenschaftlichen Arbeiten stand die Erforschung der Zugwege der Vögel von Nordosten nach Südwesten bzw. umgekehrt. Als Mittel dazu wandte er als erster systematisch die Idee des dänischen Lehrers Hans Christian Cornelius Mortensen (1856-1921), die Kennzeichnung der Vögel mit fortlaufend nummerierten und einer Ortsangabe versehenen Aluminiumringen an, eine Methode, die bis heute in aller Welt praktiziert wird. Die aus Wiederfunden gewonnenen Erkenntnisse sind unschätzbar für viele Bereiche der wissenschaftlichen Vogelforschung. Thienemann begann 1903 mit der Beringung von Nebelkrähen, die besonders häufig über die Kurische Nehrung ziehen und von der Bevölkerung traditionell genutzt wurden. Die ersten Ringrückmeldungen bestätigten seinen Versuch und er dehnte die Methode auf zahlreiche weitere Vogelarten aus. 1907 begann er mit der Ausgabe von Ringen an weitere Personen außerhalb der Nehrung in Ostpreußen und bald darauf auch außerhalb der Provinz. Nur so war es möglich, dass in zahlreichen Dörfern die Bewohner, zumeist die Lehrer, nestjunge Weißstörche auf ihren Dächern beringten. Thienemann gelang innerhalb weniger Jahre der Beweis, dass die für Ostpreußen so charakteristischen Weißstörche alljährlich beinahe 10.000 km weit in ihre südafrikanischen Winterquartiere fliegen, von wo aus sie im Frühjahr wieder in die Brutheimat zurückkehren.

Dank tatkräftiger Unterstützung durch Presse und Öffentlichkeit wurde das Vogelberingungsexperiment in den Jahren vor 1914 weltweit bekannt. Sendungen mit aufgefundenen Ringen trafen bald aus ganz Europa und den Kolonialgebieten besonders in Afrika ein. Schon vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich die „Vogelwarte Rossitten der Deutschen Ornithologischen Gesellschaft“, so ihr offizieller Name, zur weltweit führenden Einrichtung zur Erforschung des Vogelzugs. 1923 wurde sie mit der Übernahme durch die Kaiser-Wilhelm-Gesell­schaft zur Förderung der Wissenschaften auf eine solide wirtschaftliche Grundlage gestellt und erweiterte ihren Aufgabenbereich beträchtlich. Hatten zunächst außer einem bezahlten Museumsdiener vor allem Thienemanns Frau Hedwig, geb. Hoffmann (1873-1959) und Kinder, gelegentlich auch sein Bruder Max oder zeitweise verpflichtete Personen die Arbeiten verrichtet, so erhielt die Vogelwarte nun eine deutlich bessere personelle Ausstattung.

Johannes Thienemann war ein begnadeter Schriftsteller, der seine Erlebnisse in unnachahmlicher Form allgemein verständlich zu Papier brachte. Selbst seine wissenschaftlichen Berichte lesen sich streckenweise wie Naturschilderungen. Durch seine beiden Bücher über Rossitten und den Vogelzug sowie den Film Die Wüste am Meer wurde er weithin bekannt und begeisterte ein breites Publikum auch für die Schönheit der Kurischen Nehrung. All dies trug dazu bei, dass er zu Beginn der 1930er Jahre bei einer Umfrage der Königsberger Allgemeinen Zeitung zu den fünf bekanntesten, lebenden Persönlichkeiten Ostpreußens gewählt wurde.

Auch beteiligte er sich in den 1920er Jahren aktiv an der Wiederbelebung der Falknerei oder Beizjagd in Mitteleuropa und wurde ihr wichtigster Förderer im deutschen Osten. Er pflegte mehrere Falken, Habichte und selbst einen Kaiseradler, ein Geschenk vom Hofjagdamt in Rumänien. Bei der Gründung des Falkenhofs in der Kaserne des Jägerbataillons Yorck Graf von Wartenburg in Ortelsburg hat Thienemann Pate gestanden. Er war als Wissenschaftler und Forscher ebenso wie als waidgerechter Jäger hoch angesehen und als der „Vogelprofessor“ von Rossitten über die Grenzen Deutschlands hinweg eine sehr populäre Persönlichkeit; eine Vielzahl von Ehrungen belegt dies. Als Johannes Thienemann 1929 die Altersgrenze erreichte und sich zur Ruhe setzte, blieb er in Rossitten wohnen, das ihm längst zur Heimat geworden war. Am 12. April 1938 ereilte ihn in seinem Garten ein sanfter Tod. Auf dem kleinen Waldfriedhof von Rossitten fand er seine letzte Ruhestätte. Sein Grabstein ist bis heute erhalten geblieben.

Werke: Rossitten – Drei Jahrzehnte auf der Kurischen Nehrung. Neudamm 1927; Vom Vogelzuge in Rossitten. Neudamm 1931; (Reprints von beiden Wiesbaden 1996)

Lit.: Thienemann, H.G. in Altpreuß. Biogr. II (1967), S. 729. – F. Tischler, Johannes Thienemann, in: Schriften der Physikalisch-Öko­no­mischen Gesellschaft zu Königsberg (Pr.), Bd. 71 (1940), S. 429-433. – C. Hinkelmann, Der populärste deutsche Ornithologe des 20. Jahrhunderts kam aus Thüringen – Johannes Thienemann, in: Thür. Ornithol. Mitteilungen 51 (2003), S. 5-13. – Ders., 100 Jahre Vogelwarte Rossitten, in: Blätter aus dem Naumann-Museum 20 (2001), S. 75-92.

Bild: Johannes Thienemann, Rossitten, Verlag J. Neumann-Neudamm 1927.

Christoph Hinkelmann