Biographie

Thiessen, Peter Adolf

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Chemiker
* 6. April 1899 in Schweidnitz/Schlesien
† 5. März 1990 in Berlin

Peter Adolf Thiessen studierte in Breslau, Freiburg (Breisgau), Greifswald und Göttingen. In Göttingen machte er sein Diplom, wurde er promoviert und habilitierte er sich (1926). Unter seinen Lehrern erwähnt er selbst die Chemiker Gustav Tamman, Richard Zsigmondi und den Physiker Max Born. 1933 ging der junge Professor (seit 1932) von Göttingen als Abteilungsleiter an das Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie des Kaiser-Wilhelm-Instituts (KWI) nach Berlin. Hier hatte im selben Jahre der Institutsdirektor, Nobelpreisträger Fritz Haber, ebenso wie ein beachtlicher Teil seiner Mitarbeiter die Arbeit aufgeben müssen. Damals wurde dort der ehemalige NSDAP-Kreisleiter Rudolf Mentzel als “eigentlicher Machthaber” eingesetzt, dessen Hauptberater der Gaskampfexperte Thiessen war, der 1935 Direktor wurde. Beide wohnten zusammen in Habers ehemaliger Dienstvilla. Außerdem war Thiessen seit 1935 Professor in Münster und seit 1939 ordentliches Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften.

Unter Thiessen, der seit 1926 Mitglied der NSDAP war, wandelte sich das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie und Elektrochemie in ein “nationalsozialistisches Musterinstitut”, doch hat er sich Otto Hahn zufolge zu der jüdischen Kernphysikerin Lise Meitner während ihres dortigen Wirkens bis 1938 korrekt verhalten. Max Planck berichtete später, daß man sich am KWI von politischer Tätigkeit ferngehalten habe, eben mit der Ausnahme von Thiessen. Später wurde dieser durch den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Rust, zum Personalreferenten für die Universitäten berufen, weiterhin zum Leiter der Fachgliederung “Chemie und organische Werkstoffe” im Reichsforschungsrat; von 1939 bis 1942 war er Sektionsvorsitzender im KWI.

Am 12. Mai 1945 wurde Thiessen vom Zehlendorfer Bezirksbürgermeister (in dessen Amtsbereich die meisten Institute lagen) zum Leiter der gesamten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ernannt. Er entzog daraufhin dem von den Nationalsozialisten eingesetzten Dr. Forstmann alle Vollmachten, ließ aber bereits am 29. Mai 1945 verlauten, daß er bald in die Sowjetunion gehen werde, wohin auch die Ausrüstung des Institutes verlagert wurde. Vorher hatte er vorgeschlagen, die im Krieg unversehrten Institute der Universität anzugliedern, und Professor Dr. Ferdinand Sauerbruch als Nachfolger empfohlen. Manfred von Ardenne brachte Thiessen auf dessen Bitte hin Ende 1945 an ein im sowjetischen Sinop bei Suchumi (Schwarzes Meer) aufzubauendes Institut, wo industrielle Verfahren zur Trennung von Uranisotopen erforscht wurden. Ardenne, der aufgrund seiner Forschungen dafür ausersehen worden war, hatte Thiessen, wie er in seinen Erinnerungen schreibt, aus Dank für vorherige Förderung eigener elektronenmikroskopischer Arbeiten den Sowjets empfohlen, vor allem aber auch deshalb, weil er bei der Leitung einer so großen wissenschaftlichen Einrichtung fachliche Unterstützung benötigte. Nach elf Jahren dort erhielt Thiessen 1956 den Auftrag, das Institut für Physikalische Chemie der Deutschen Akademie der Wissenschaften (später Akademie der Wissenschaften der DDR) aufzubauen, wobei es ihm am Herzen lag, den Raum für ständige wissenschaftliche Anpassungen und zusätzlich den Kontakt zu der erst im Aufbau befindlichen Industrie offen zu halten. Während seines Direktorates von 1957 bis 1964 hatte er zudem die Professur für Physikalische Chemie an der Humboldt-Universität zu Berlin inne. Mit der Gründung des Forschungsrates der DDR 1957 wurde Thiessen dessen Vorsitzender, blieb es bis 1965 und war danach Ehrenvorsitzender. Seine Hauptarbeitsgebiete waren Grenzflächenchemie, Physik und Chemie der Festkörper, Kernverfahrenstechnik und Tribochemie.

Nach seiner Emeritierung behielt Thiessen in Berlin-Adlershof, dem Sitz des von ihm aufgebauten Instituts, ein kleines Labor und beschäftigte sich unter anderem mit der Gewinnung von Salpeter aus der Luft und Rüdersdorfer Kalkstein.

An Auszeichnungen hat es Thiessen nie gemangelt. So war er von 1960 bis 1963 Mitglied des Staatsrates der DDR und in nicht wenigen inländischen und internationalen Gremien vertreten, so auch Auswärtiges Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. In der Sowjetunion erhielt er den Staatspreis der UdSSR, den “Rotbannerorden der Arbeit” und den Leninorden, in der DDR den Nationalpreis, die Ehrenspange zum “Vaterländischen Verdienstorden” in Gold und den Orden “Banner der Arbeit”.

Lit.: Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender 1940/41, hrsg. v. G. Lüdtke, Bd. 2, Berlin 1941, und dass. 1966, hrsg. v. W. Schuder, Bd. 2, Berlin 1966. – Wer war wer in der DDR, Ein biographisches Handbuch, hrsg. v. B.-R. Barth u.a., Frankfurt a.M. 1995. – Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft. Hrsg. Rudolf Vierhaus und Bernhard vom Brocke. Stuttgart, Deutsche Verlags-Anstalt 1990. – Friedrich Glum: Zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Erlebtes und Erdachtes in vier Reichen. Bonn 1964. – Gert Lange und Joachim Mörke: Wissenschaft im Interview. Leipzig-Jena-Berlin, Urania-Verlag 1979. – Biographien bedeutender Physiker (Hrsg. Autorenkollektiv unter Wolfgang Schreier). [Ost-] Berlin, Volk und Wissen Volkseigener Verlag 1984. – Otto Hahn: Mein Leben. München-Zürich, Verlag Piper 1986. – Manfred von Ardenne: Die Erinnerungen (Neuschrift 1990, 10. Gesamtauflage), München, Herbig 1990.

 

  Otto Löw/Hans Bruchlos