Biographie

Tholuck, Friedrich August Gottreu

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Theologe
* 30. März 1799 in Breslau
† 10. Juni 1877 in Halle/Saale

Die Kindheit des als Sohn eines Goldschmieds geborenen Tholuck war überschattet von wechselnden Zuständen der Euphorie und tiefen Depression. Er selbst deutete diese unstete Seelenlage später als Zeugnis geistlicher Prüfung und als Anfechtung des Teufels. Wiederholt kam es zu Selbstmordversuchen. Zudem scheint Tholuck unter dem tyrannischen Wesen seiner Stiefmutter gelitten zu haben. 1821 habilitierte er sich mit einer orientalistischen Arbeit über den Suphismus, die islamische Mystik, und wirkte vom selben Jahr an als Dozent der Orientalistik in Berlin. 1823 wurde er Außerordentlicher Professor und 1822 erwarb er an der Universität Jena den philosophischen Doktorgrad. Dem christlichen Glauben stand Tholuck zunächst eher fern: in seiner Abiturrede, die einen kleinen Skandal auslöste, stellte er Mohammed und Konfuzius über die jüdisch-christliche Überlieferung: über Moses und Jesus.

In jungen Jahren erlebte Tholuck eine Bekehrung im Sinne des Neupietismus, die sich vor allem dem Einfluß des Barons von Kottwitz verdankte. Seinerzeit war er noch Orientalist, das Studium der Theologie schloß sich der Bekehrung erst an. Das Bekehrungsgeschehen bezeugt Tholuck in der SchriftVon der Sünde oder die wahre Weihe des Zweiflers (1823), die viel gelesen wurde und bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts rege Verbreitung fand. Diese Schrift, der fiktive Dialog zweier befreundeter Studenten, unternahm es, in der Tradition der pietistischen Gestalt der “schönen Seele”, die Realität der Beziehung zu Gott im inneren Gefühl und im Erlebnis begründet zu sehen. Augenfällig ist in der Argumentation die Spitze gegen Schleiermacher, der Tholuck auch menschlich als schlangenhaft kalt erschienen und stets fremd geblieben war: ist in Schleiermachers ‘Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit’ die Sünde als Hemmung religiöser Empfindung mitgedacht aber zugleich überwunden, so haftet für Tholuck die Glaubensgewißheit an der jeweiligen mentalen Verfaßtheit des Gläubigen. Für den Erweckten dürfte es seelisches Leid nicht geben. Stellt sich diese Mangelerfahrung doch ein, so ist dies ein tiefes Anzeichen für eine fortdauernde sündige Verstrickung. Gerade bei Tholuck, dem zu Depression Neigenden, war diese theologische Grundausrichtung fatal. Es dürfte nicht zuletzt von seinen psychischen Dispositionen herrühren, daß für ihn die Lehre von Sündenfall und Erbsünde das zentrale Dogma des christlichen Glaubens wurde. Einzig in diesem Felde war er, dessen ‘kavaliersmäßigen’ Umgang mit dem Dogma Hegel später tadelte, unbeugsam. Mithin kommt bereits der frühen Schrift das Verdienst zu, Sünde und Versöhnung gegen den theologischen Rationalismus der Zeit jenes Gewicht zurückzugeben, das ihnen in der Orthodoxie im Ausgang von Luther einmal zuerkannt worden war. Das strahlende Gegengewicht einer Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben brachte Tholuck freilich nicht systematisch zur Geltung. Bemerkenswert aber ist, daß er auf die Sündentheologie des Anselm von Canterbury zurückgriff. Diese Impulse sollte sein langjähriger Freund und Hallenser Kollege Julius Müller vertiefen und entfalten.

Bereits in seinen frühen Jahren indes stellte Tholuck sein publizistisches Engagement weit über die akademische Sphäre hinaus in den Dienst des Pietismus: wie viele andere übte er Kritik an Schauspiel und Oper, deren aktive Ausübung dem erweckten Christen seit der pietistischen ‘Hochzeit’ bei Francke und Spener ebenso zu untersagen ist wie die passive Betrachtung. Im Sinne des Pietismus konnte es ‘Adiaphora’, Lebensfreuden, die weder zum Guten noch zum Bösen ausschlagen, anders als für die Lutherische Orthodoxie, nicht geben.

In Tholucks Leben findet man allerdings durchaus Gegengewichte zu dieser strengen Ausrichtung: ein Jahr lang (1828-1829) wirkte er als Seelsorger in Rom, eine Bildungserfahrung, auf die wohl nicht zu Unrecht seine spätere Weltläufigkeit und Milde mit zurückgeführt worden ist.

Wesentlich für Tholucks systematisch theologische Bemühungen war der Rückgang in die Geschichte: sein Paulus-Kommentar erinnerte an die reformatorische Exegese und griff auf die Auslegungen von Melanchthon und Calvin zurück. Er erschloß für viele Generationen gelehrter Exegeten, etwa für Ferdinand Christian Baur, das Verständnis der Paulinischen Theologie neu. Damit hing zusammen, daß Tholuck, zusammen mit Lücke und Hengstenberg, die Kontinuität von Altem und Neuem Testament neu erschloß, die in Schleiermachers gnostischen Ansätzen und vor allem denen der Schleiermacherianer verloren zu gehen drohte. Die historische Rückbesinnung auf die Reformation brachte es mit sich, daß Tholuck während seiner Hallenser Wirkungszeit zunehmend zum orthodoxen Lutheraner wurde und auch in seinem Schülerkreis eine konfessionalistische Grundauffassung verbreitete.

Die Wiederentdeckung der “alten Lehre”, die für Tholuck wie für viele Theologen seiner Generation eine Urszene hatte: dasdreihundertjährige Gedächtnis der “Confessio Augustana”1830, trieb ihn 1837 zur Auseinandersetzung mit Straußens Leben Jesu. Wenn er den rechtshegelianischen Standpunkt des Werks und die Profanität im Ton auch verurteilen mußte, so war Tholuck doch zu sehr Philologe und Historiker, als daß er sich nicht an der Sachkritik sowohl gegen die Paulinischen Schriften wie gegen die Prophetischen Bücher des Alten Testamentes beteiligt hätte. Theologisch noch bedeutungsvoller scheint die Unterscheidung zwischen der Person Jesu Christi und dem historischen Jesus: in jener, nicht in diesem, sieht Tholuck die messianischen Weissagungen des Alten Testamentes erfüllt. Von Haus aus zwar studierter Philologe, konnte er doch gelehrte Bibelkritik und Erbauung kaum voneinander trennen. Besonders nachdrücklich ist diese Perspektive introspektiver Glaubenserfahrung in seinen Kommentar zum Johannes-Evangelium eingegangen. Einer Verbalinspiration redete er freilich nur für den Umkreis des von ihm vermuteten ‘Zentraldogmas’, eben der Lehre vom Sündenfall, das Wort.

Bei seinen Zeitgenossen erregte die Elastizität und Unbestimmtheit der Positionen Tholucks mitunter Unverständnis. Manches davon erscheint der Nachwelt, die gerechter sein kann als die in den Streit der Überzeugungen verstrickten Zeitgenossen, als Standpunkt seelsorgerlicher Milde und Toleranz, doch auch als das Ergebnis lebenslangen Glaubensringens. Der von ihm 1830 bis 1849 herausgegebeneLitterarische Anzeiger etwa bot auch Rationalisten ein Forum, obgleich sich unmittelbar daneben Äußerungen von altgläubiger Strenge finden. Die Neigung zum abgewogenen Urteil prädestinierte Tholuck nicht zuletzt zum Erforscher und Chronisten der Theologiegeschichte seiner jüngeren Vergangenheit. Mit den zwischen 1853 und 1865 vorgelegten Arbeiten über die Theologie des 17. und 18. Jahrhunderts hat er auf nachfolgende Theologengenerationen vielleicht am nachhaltigsten gewirkt. In seinen späten Jahren warnte Tholuck dann vor der Verwechslung von Glaubensstärke mit der Härte des Urteils über Andersdenkende. Zum Teil ging die Vieldeutigkeit seiner Position aber auch auf mangelnde systematische Kraft und eine Neigung zum Eklektizismus zurück. Nicht ohne Grund befand Albrecht Ritschl Tholuck für ‘wissenschaftlich incommensurabel’. Tholuck lehnte die Trinität als scholastische Erfindung ab und zog sich dadurch die tiefe Mißachtung Hegels zu, dessen Lehre von der Selbstbewegung des Begriffs als eine einzige große Übersetzung des trinitarischen Dogmas in die Philosophie begriffen werden kann. Zugleich aber hielt Tholuck– mit den Hegelianern und gegen Schleiermacher– an der Spekulation als einem legitimen Bestandteil der Dogmatik fest. Sie sollte der von außen argumentierenden Apologetik als Innenansicht des Glaubens an die Seite gestellt werden. Spekulative Kraft war ihm selbst indes nicht eigen, weshalb sein dogmatisches System fragmentarisch blieb. Im letzten mochte er sich auch auf die Denkart des spekulativen Idealismus der theologischen Hegelianer nicht einlassen. Wenn er den Rationalismus der Aufklärungstheologie am Bewußtsein des Bösen (unter Berufung auf die Sündenfallerzählung Gen. 3 und den Paulinischen Gewissensbegriff Röm. 7) zerbrechen sah, so war ihm die Hegelsche Lehre vom absoluten Geist Inbegriff eines Pantheismus, der die Unterschiedenheit von Gott und Mensch nicht genügend wahre. In der geistigen Situation der Theologie seiner Zeit war er damit ein Heimatloser, fern sowohl den Rationalisten wie den Idealisten. Umsomehr war die Frömmigkeitsgemeinschaft sein eigentlicher Ort.

Mitwelt und forschende Nachwelt waren tiefer als von dem systematischen Theologen Tholuck von dem Hallenser Universitätsprediger (seit 1839) und Seelsorger beeindruckt.Innigkeit, flammende Beredtsamkeit, Lebensnähe und Überzeugungskraftseiner Predigten sind vielfach bezeugt. Einen ganz unakademischen und volksnahen Ton schlugen auch seine 1839 zum ersten Mal erschienenenStunden der Andacht an. Im seelsorgerlichen Gespräch entwickelte Tholuck eine maieutische Methode, die ganz im Sinn pietistischer Seelenerforschung ins Innere der Herzen einzudringen suchte, um das Nichtwissen und die Brüchigkeit vermeintlicher Gewißheiten aufzuweisen– nicht zum Zwecke der Verunsicherung, sondern der Weckung tiefer christlicher Demut.

Lit.: Witte, Leopold: Das Leben D. Friedrich August Gottreu Tholucks. 2 Bände. Bielefeld und Leipzig 1884/86. – Elert, Werner: Der Kampf um das Christentum. Geschichte der Beziehungen zwischen dem evangelischen Christentum in Deutschland und dem allgemeinen Denken seit Schleiermacher und Hegel. München 1921. – Hirsch, Emanuel: Geschichte der neuern evangelischen Theologie. Band 5. Gütersloh 1954, S. 103ff. – Schellbach, Martin: Tholucks Predigt. Ihre Grundlage und ihre Bedeutung für die heutige Praxis. Berlin 1956. – Zilz, Walther: August Tholuck. Professor, Prediger, Seelsorger. Gießen 1962. – Kähler, Martin: Geschichte der protestantischen Theologie im 19. Jahrhundert. Wuppertal und Zürich21989. – Axt-Piscalar, Christine: Ohnmächtige Freiheit. Studien zum Verhältnis von Subjektivität und Sünde bei F. A. Tholuck, Julius Müller, Sören Kierkegaard, Friedrich Schleiermacher. Tübingen 1996.

Bild: Nach Friedrich Mildenberger: Geschichte der deutschen evangelischen Theologie im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart und andere 1981, S. 281.

 

    Harald Seubert