Biographie

Thomas, Georg

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: General der Infanterie
* 20. Februar 1890 in Forst/Lausitz
† 29. Dezember 1946 in Falkenstein/Taunus

Der als Sohn eines Fabrikbesitzers geborene Georg Thomas schlug nach seinem 1908 an der Oberrealschule in Weißenfels bestandenen Abitur die aktive Offizierslaufbahn ein und verbrachte die Friedensjahre als Zugführer und Bataillonsadjutant im 4. Oberschlesischen Infanterie-Regiment Nr. 63 (Oppeln und Lublinitz). Den Ersten Weltkrieg erlebte er als Bataillons- und Regimentsadjutant an der Westfront, wurde ab 1917 im Generalstab verwendet und 1918 in diesen versetzt. Nach dem Kriege fungierte er zeitweise als Verbindungsoffizier beim Reichs- und Staatskommissar für das Abstimmungsgebiet Ostpreußen. Am 1. Januar 1921 wurde er als Kompaniechef in das 100.000-Mann-Heer (Infanterie-Regiment 2 in Allenstein) übernommen. Seit 1922 in der Kommandantur Königsberg/Pr. verwendet, kam Thomas 1924 in den Generalstab der 4. Division nach Dresden und traf dort mit einer Reihe von Offizieren zusammen, mit denen er später im Widerstand eng zusammenarbeitete (unter anderem mit Beck, Olbricht, Oster). 1927 in das Heeres-Waffenamt nach Berlin berufen, wurde er 1930 –  noch als Major –  dessen Chef des Stabes. 1934 übernahm er als Oberst die Leitung des neu geschaffenen "Wehrwirtschafts- und Waffenwesens" im Wehrmachtsamt des Reichswehrministeriums (ab November 1935 Wehrwirtschaftsstab, ab September 1939 Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt) und wurde in dieser Position 1938 zum Generalmajor, 1940 zum Generalleutnant sowie nach dem Frankreichfeldzug zum General der Infanterie befördert.

Thomas und seine Dienststelle, die nicht für die gesamte Wehrmachtsrüstung zuständig waren (insbesondere die neu entstehende Luftwaffe unter dem Reichsluftfahrtminister Göring lag außerhalb ihrer Kompetenz), sorgten pflichtgemäß dafür, daß bereits im Frieden die für eine Verteidigung erforderlichen Rohstoffreserven (insbesondere Treibstoff und Kautschuk) bereitgestellt und entsprechende Lagerstätten eingerichtet wurden. Die Industrie bereitete Thomas auf eine mögliche Umstellung von der Friedens- auf eine Kriegswirtschaft vor. In zahlreichen Aufsätzen und Vorträgen suchte er Offiziere, Wirtschaftsführer und Diplomaten davon zu überzeugen, daß die Kriegsprobleme nicht nur taktischer und strategischer Natur, sondern auch industrieller Art sein würden. In seinem 1937 erschienenen Aufsatz Breite und Tiefe der Rüstung erinnerte Thomas an Moltkes Reichstagsrede vom 14. Mai 1890, in der dieser betont hatte, daß die Dauer und das Ende des nächsten Krieges nicht abzusehen seien, und in der die Warnung enthalten war: "Wehe dem, der Europa in Brand steckt, der zuerst die Lunte in das Pulverfaß schleudert!" Unter "Breite der Rüstung" verstand Thomas die Stärke der Wehrmacht und die Vorkehrungen für ihre Vergrößerung im Kriegsfalle, unter "Tiefe der Rüstung" alle Maßnahmen, die der Versorgung der Wehrmacht im Kriege dienten. Hitler, der nach Thomas‘ persönlichem Eindruck mehr dem Wunschdenken als der nüchternen Beurteilung gegebener Fakten zuneigte, war so sehr von der Idee des "Blitzkrieges" besessen, daß er glaubte, ohne die Tiefenrüstung auszukommen.

Der Wehrwirtschaftsstab gliederte sich in die wehrwirtschaftliche, die rüstungswirtschaftliche und die Rohstoffabteilung sowie in das Vertrags- und Preisprüfwesen. Nach Kriegsbeginn trat eine Statistische Abteilung hinzu. Bereits im Frieden sorgte Thomas für einen mit Fachkräften ausgestatteten nachgeordneten Bereich (Wehrwirtschaftsinspektionen und -stellen in den Wehrkreisen). Das Personal setzte sich aus Offizieren und Personal aller Wehrmachtsteile zusammen. Verbindungsoffiziere beim Reichswirtschaftsministerium, Wehrwirtschaftsoffiziere bei den diplomatischen Vertretungen und bei den Kommandobehörden boten die Gewähr dafür, daß die von seiner Behörde herausgegebenen Richtlinien im Frieden und später auch im Kriege in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten beachtet und befolgt wurden, soweit sie nicht durch Befugnisse des Beauftragten für den Vierjahresplan (Göring) oder des im Kriege geschaffenen Reichsministeriums für Bewaffnung und Munition (Todt) eingeschränkt oder aufgehoben wurden.

Die Informationsfülle, die Thomas von Amts wegen zufloß, und die Verbindung zu zivilen Behörden, Wirtschaftsführern und Diplomaten sowie zu Persönlichkeiten, die Hitlers politische Absichten mit Sorge verfolgten (Goerdeler, Popitz, Schacht, von Hassell), befähigten den General dazu, die wehrwirtschaftliche Situation der Weltmächte in einem drohenden Weltkriege zu übersehen, und veranlaßten ihn, dem Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (Keitel) vor Kriegsausbruch sein die wirtschaftliche Unterlegenheit Deutschlands dokumentierendes Material zur Weitergabe an Hitler vorzulegen, um ihn rechtzeitig mit überzeugenden Argumenten vor dem Schritt in den Krieg zu warnen. Hitler, wohl berauscht von dem gerade mit Stalin erzielten Einvernehmen, wischte alle Bedenken hinweg, weil er Frankreich und England nicht zutraute, sich wegen Polen in einen Krieg mit Deutschland einzulassen.

Nachdem der Krieg nicht hatte verhindert werden können, versuchten die zum Widerstand gehörenden Offiziere in den Oberkommandos der Wehrmacht und des Heeres, unter ihnen Thomas an gewichtiger Stelle, die Ausweitung des Krieges zu verhindern. Wie sie alle mußte auch Thomas den Konflikt in sich austragen, einerseits für die Widerstandsplanungen und -handlungen bereit zu sein und andererseits seine soldatische Pflicht in einem von ihm aufgebauten und gestalteten Bereich erfüllen zu müssen.

In die Vorbereitungen eines möglichen Feldzuges gegen die Sowjetunion wurde Thomas frühzeitig eingeschaltet. In einer von Hitler geforderten wehrwirtschaftlichen Lagebeurteilung wies Thomas insbesondere auf die für den Fall langfristiger militärischer Operationen unbefriedigende Treibstoff- und Gummisituation hin. Die in Rußland eingesetzten wehrwirtschaftlichen Dienststellen wurden dem Wirtschaftsführungsstab Ost unterstellt, der Göring bzw. dessen Staatssekretär Körner unterstand. Für die Fachweisungen waren die Staatssekretäre der Reichsregierung, lediglich für den organisatorischen Aufbau das Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt unter Thomas verantwortlich.

Als Hitler im August 1941 glaubte, daß "uns im Erdkampf ein ernst zu nehmender Gegner nicht mehr entstehen kann und eine Landung auf irgendeinem Teil des europäischen Festlandes ausgeschlossen sein dürfte", und daher befahl, den Schwerpunkt der Rüstung auf die Bedürfnisse der Marine (U-Boote) und der Luftwaffe zu verlegen, versuchte Thomas gemeinsam mit dem früheren Staatssekretär Erwin Planck, einem Sohn des Physikers Max Planck, die Oberbefehlshaber derHeeresgruppen im Osten für eine zur Entmachtung Hitlers führendeWiderstandstat zu gewinnen, solange sich Deutschland noch in einer starken Position befand. Beide kehrten ohne Erfolg nach Berlin zurück und berichteten über die "Fortdauer widerwärtiger Grausamkeiten, vor allem gegen die Juden…" Im Januar 1942 äußerte Thomas in einer Rede vor den Rüstungsinspekteuren und -kommandeuren: "Sie wissen, daß es bereits vor dem Kriege, wie laufend im Kriege mein Wunsch war, die Gesamtforderungen der deutschen Rüstung auf die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft abzustellen. Uns diesen Wunsch zu erfüllen, lehnt der Führer aber grundsätzlich ab, weil er in seinen Weisungen ausgeht von der politischen Zielsetzung, dann die zur Erreichung dieser Zielsetzung notwendigen Programme anordnet und dann verlangt, daß wir im Rahmen dieser Programme das höchstmögliche aus der Wirtschaft herausholen. Wir haben uns dieser Auffassung des Führers zu fügen…"

Wenige Wochen später ernannte Hitler zum Nachfolger des tödlich verunglückten Dr. Todt als Reichsminister für Bewaffnung und Munition Albert Speer mit dem Auftrag, "in der gesamten Rüstungs- und Kriegswirtschaft die Selbstorganisation der Wirtschaft schärfer einzuschalten, den Ingenieur mehr in den Vordergrund zu rücken und die Reichsverteidigungskommissare schärfer für die Aufgaben zu interessieren". So schrieb Thomas später in seiner Geschichte der deutschen Wehr- und Rüstungswirtschaft. Da auch die Wehrmachtsteile bestrebt waren, sich bei ihren Rüstungsmaßnahmen jeder Kontrolle durch das Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt zu entziehen, fiel es Speer und seinen Mitarbeitern, so Thomas, nicht schwer, "die Führung der gesamten Wirtschaft bei sich zu vereinigen und sowohl das  OKW [Oberkommando der Wehrmacht]… [als auch] das Wi.Rü.Amt [Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt] auszuschalten". Nachdem Thomas als Chef des im Mai 1942 ins Ministerium Speer integrierten Rüstungsamts ein halbes Jahr später durch den Minister –  mit äußerst anerkennenden Worten –  von seinem Amt entbunden worden war, bat er im Januar 1943 Keitel, auch von der Funktion als Chef des imOberkommando der Wehrmacht verbliebenen Wehrwirtschaftsamtsentbunden zu werden.

Nach seiner Entlassung General z.b.V. 1 beim Chef OKW, beschäftigte sich Thomas seither in erster Linie mit der Geschichte der deutschen Wehr- und Rüstungswirtschaft und benutzte dafür die Bestände des in Muskau (Neiße) errichteten Wehrwirtschaftlichen Archivs, die sich heute im Bundesarchiv-Militärarchiv (Freiburg/Br.) befinden. Nach dem 20. Juli 1944 überarbeitete Thomas sein aus seinen Studien erwachsenes, kritisch gehaltenes Werk, um es im Notfall zu seiner Verteidigung heranziehen zu können, und ließ durch seine Adjutanten alles Material vernichten, das seinen Kampf gegen den Krieg und die oberste Führung unter Beweis stellte.

Am 11. Oktober 1944 wurde Thomas verhaftet und der "hochverräterischen Umtriebe in den Jahren 1939 bis 1942 und einer Sabotage der Pläne des Führers" beschuldigt. Nach mehrfachen Verhören wurde Thomas am 7. Februar 1945 vom Sitz der Gestapo in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße zusammen mit Halder, Canaris, Oster und Sack in das Konzentrationslager Flossenburg verlegt, wo die drei Letztgenannten am 9. April nackt gehängt wurden. Halder und Thomas wurden zunächst nach Dachau gebracht. Dort erfuhr Thomas von seiner "Entlassung aus dem aktiven Wehrdienst unter Aussetzung der Berechtigung zum Tragen der bisherigen Uniform bis auf weiteres" zum 30. April 1945. Während eines Sammeltransports wurde Thomas mit prominenten Persönlichkeiten und Angehörigen der Verschwörer des 20. Juli in Südtirol durch eine Kompanie des deutschen Heeres aus den Händen der Gestapo befreit und geriet wenig später in amerikanische Gefangenschaft. Über Capri und Paris gelangte er Mitte Juni nach Wiesbaden und wurde zur Ausheilung einer schwer schmerzenden Nervenentzündung in das ehemalige Offiziers-Erholungsheim in Falkenstein (Taunus) verlegt, wo er unter anderem noch die SchriftGedanken und Ereignisse, datiert vom 20. Juli 1945, verfaßte, die in der Form von Vervielfältigungen zahlreiche Leser in den westlichen Besatzungszonen erreichte. Seine Geschichte der deutschen Wehr- und Rüstungswirtschaft (1918-1943/45) wurde im Nürnberger Prozeß als Beweismittel genutzt und zwanzig Jahre später in die Schriften des Bundesarchivs als eine zeitgeschichtliche Darstellung Mithandelnder, die den "Rang einer historischen Quelle beanspruchen" kann, wie der Herausgeber schrieb, aufgenommen.

Werke: Breite und Tiefe der Rüstung. In: Militärwissenschaftliche Rundschau, 2. Jg. (1937), 2. Heft, S. 189-197. –  Wirtschaftliche Wehrkraft und Landesverteidigung. In: Militärwissenschaftliche Rundschau 3 (1938), 4. Heft, S. 483-488.  –  Wehrwirtschaft. In: Die Deutsche Wehrmacht 1914-1939. Hrsg. von Georg Wetzell. Berlin 1939, S. 148-165. – Gedanken und Ereignisse. In: Schweizer Monatshefte, 25. Jg. (1945), H. 9, S. 537-559. –  Geschichte der deutschen Wehr- und Rüstungswirtschaft (1918-1943/45, Hrsg. von Wolfgang Birkenfeld (Schriften des Bundesarchivs 14). Boppard 1966.

Lit.: Das Königl. Preuß. Infanterie-Regiment Nr. 63 (4. Oberschlesisches). Hrsg. von Franz Kaiser. Berlin 1940. –  Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Bd. 1 – 22. München 1984. –  Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht (Wehrmachtführungsstab). Hrsg. von Percy Ernst Schramm. Bd. 1  –  8. Herrsching 1982. –  Horst Boog: Die deutsche Luftwaffenführung 1935 –  1945 (Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte, 21. Band). Stuttgart 1982. – Joachim Fest: Staatsstreich. Der lange Weg zum 20. Juli. Berlin 1994. –  Carl-Axel Gemzell: Raeder, Hitler und Skandinavien. Der Kampf für einen maritimen Operationsplan (= Bibliotheca Historica Ludensis. XVI), Lund 1965. –  Helmuth Greiner: Die Oberste Wehrmachtführung 1939 –  1943. Wiesbaden 1951. –  Die Hassell-Tagebücher 1938 – 1944. Hrsg. von Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen. Berlin 1988. – Klaus Hildebrand: Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871 –  1945. Darmstadt/Stuttgart 1995. –  Joachim Hoffmann: Kaukasien 1942/43. Das deutsche Heer und die Orientvölker der Sowjetunion (Einzelschriften zur Militärgeschichte 35). Freiburg/Br. 1991. –  Peter Hoffmann: Widerstand –  Staatsstreich –  Attentat. Der Kampf der Opposition gegen Hitler. 3. Aufl. München 1979. – Otto Meissner: Ebert – Hindenburg –  Hitler. Erinnerungen eines Staatssekretärs 1918 – 1945. Esslingen 1991. –  Daniil Melnikow: Der 20. Juli 1944. Legende und Wirklichkeit. Berlin o.J. –  Albert Speer: Erinnerungen. Frankfurt a.M. 1969. –  Klaus Reinhardt: Die Wende vor Moskau. Das Scheitern der Strategie Hitlers im Winter 1941/42. (= Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte, Bd. 13), Stuttgart 1972. –  Eberhard Zeller: Geist der Freiheit der 20. Juli. 5. Aufl. München 1965.

Quellen: Bundesarchiv-Militärarchiv, Pers 6/365, RW 19 bis 32, RW 45 und 46.

 

Friedrich-Christian Stahl