Biographie

Tielsch, Ilse

Herkunft: Sudeten (Böhmen u. Mähren, österr. Schlesien)
Beruf: Schriftstellerin
* 20. März 1929 in Auspitz, Hustopece/Südmähren

Der Titel ihres 1982 erschienenen Romans „Heimatsuchen“ könnte gleichsam stellvertretend über dem umfangreichen lyrischen und prosaischen Werk der Autorin stehen. Denn daß es sich bei Ilse Tielsch nicht darum handelt, oberflächliche oder verklärte Heimattexte abzuliefern, wird dem Leser sofort klar. Und auch das scheint kein Zufall zu sein: Dieses Buch ist die Fortsetzung eines Romans, der den bezeichnenden Titel „Die Ahnenpyramide“ (1980) trägt – und der darauf hinweist, woraus sich ihr Leben und schriftstellerisches Tun speist: Aus den Quellen, die nicht versiegen und aus denen sie immer noch schöpft. In die Romantrilogie, das Hauptwerk der Autorin, fügt sich dann der dritte Band „Früchte der Tränen“ (Roman, 1988) ein. Zeitgeschichte dies, dargestellt und aufgeblättert an Hand der eigenen Familiengeschichte. Davon gibt es viele, nicht minder interessante. Aber auf das „wie“ kommt es an. „Auch davon kann nicht die Rede sein“, schreibt die Autorin, „ob die Heimatlandschaften schöner gewesen seien als jene, in die man sich nun versetzt sah. Nur von der Fremdheit muß gesprochen werden, vom Neuen, Ungewohnten, vom Ungeliebten. Vom Heimweh muß gesprochen werden, von der Sehnsucht nach Gegenden, die zu verlassen man sich nicht gewünscht hatte, zu deren Verlust man gezwungen worden war.“

Ilse Tielsch verbindet ihre Prosa mit der Natur, exemplarisch in ihrem Erzählband „Erinnerung mit Bäumen“ (1979): „Im Mai bieten die Wiesen einen lieblichen Anblick. Von gelb-blühenden Blumen durchwirktes Grün, darüber manchmal ein blauer Himmel, dazu die weiß-blühenden Mostbirnbäume.“ Und dann im gleichen Werk der Schlüsselsatz: „Die Erinnerungen sind nicht mehr chronologisch zu ordnen.“ Aber was immer auch in dem vielfältigen Werk der Ilse Tielsch geschieht: Es sind Menschen, die vieles erfahren haben, die sich in entscheidenden Situationen bewährten – oder versagten; die eingetaucht waren in diesen unaufhaltsamen, grausamen Strom der Zeitgeschichte des vorigen Jahrhunderts.

In über zwanzig Buchpublikationen – vom ersten Gedichtband „In meinem Orangengarten“ (1964 im Auftrag des Kulturamtes der Stadt Wien in der Reihe „Neue Dichtung aus Österreich“ von Rudolf Felmayer veranlaßt) bis zu dem Prosaband „Eine Winterreise“ (1999), die von Wien nach Bulgarien führte, hat Ilse Tielsch ihre dichterische Stimme erhoben gegen Haß, Gewalt und Unmenschlichkeit – für eine – und sei es auch utopische – Welt der Wahrheit und Gerechtigkeit, der Liebe und Versöhnung. Dabei ist eine heitere Gelassenheit nicht zu übersehen.

Manches im Werk wird aus ihrem bewegten Lebenslauf erklärbar: Geboren am 20. März in Auspitz (Hustopece), Südmähren, als Ilse Felzmann. Im April 1945 Flucht vor der nahen Front. Unterkunft in einem oberösterreichischen Bauernhof. Fortsetzung des unterbrochenen Schulbesuchs in Linz. Matura 1948 in Wien. Studium der Zeitungswissenschaften und Germanistik an der Wiener Universität. Promotion 1953 (Dissertation: „Die Wochenschrift „Die Zeit“ als Spiegel literarischen und kulturellen Lebens in Wien um die Jahrhundertwende“). Seit 1949 österreichische Staatsbürgerschaft. Heirat 1950, vier Kinder (1962 Tod der Tochter Iris, 1968 Tod des Sohnes Rainer). Während des Studiums und auch danach übte Ilse Tielsch verschiedene Brotberufe aus; seit 1964 lebt sie als freie Schriftstellerin in Wien.

Die Autorin ist nicht auf eine bestimmte literarische Richtung festzulegen. Ihr Werk besteht aus Lyrik, Romanen, Erzählungen, Hörspielen, satirischer Prosa, Reiseimpressionen, Funk-Erzählungen. Verständlich, daß sich die Sekundärliteratur damit beschäftigte und germanistische Arbeiten über ihr Leben und Werk an den Universitäten von Kairo, Posen, Colmar, Erzurum, San Diego, Brünn und Stettin erschienen sind.

In seinem Standardwerk „Der ungeheure Verlust. Flucht und Vertreibung in der deutschsprachigen Belletristik der Nachkriegszeit“ (Wiesbaden, 1988) hat sich Louis Ferdinand Helbig ausführlich mit dem dichterischen Werk der Ilse Tielsch befaßt. „Zu den wenigen vollständigen, die ganze Vielfalt der heimatlichen Lebenswelt bis hin zu ihrem Verlust und dem Stadium intensiven Erinnerns umfassenden Romanen gehören ,Die Ahnenpyramide‘ und ,Heimatsuchen‘ von Ilse Tielsch. Jeder für sich und beide zusammen sind neben Horst Bieneks Schlesien-Tetralogie das umfang- und faktenreichste Werk zum Thema … ,Heimatsuchen‘ zeigt, wie im Erleben eines unüberschaubaren Familienverbandes das Repräsentative zum Typischen wird.“

Der österreichische Dramatiker Fritz Hochwälder (1911-1986) schrieb zur „Ahnenpyramide“: „ … es ist ein großes und stilles Buch.“

Unzählige Publikationen und Nachdrucke in Literaturzeitschriften und Anthologien des In- und Auslandes liegen vor. Prosatexte und Gedichte wurden in 18 Ländern publiziert.

So sehr Ilse Tielsch sich niemals dem gängigen „literarischen Markt“ angeschlossen hat, sondern im Innersten stets eine „Einzelgängerin“ gewesen ist; so wenig hat sie sich den künstlerischen Zusammenschlüssen versagt. Sie ist Mitglied der Sudetendeutschen Akademie für Wissenschaft und Kunst und war von 1990 bis 1999 Erste Vizepräsidentin des Österreichischen PEN-Clubs. Die Liste der Preise und Auszeichnungen weist an die zwanzig Titel auf. Auch dies gewiß ein Zeichen für die Wirkung und Wertschätzung ihres Werkes.

Der innere Gewinn für den Leser liegt indessen darin begründet, daß er teilnehmen darf an einer Welt, die versunken ist, die aber kraft des dichterischen Vermögens der Autorin lebendig bleibt im unverlierbaren geistigen Raum. So wie es deutlich wird in dem Gedicht „Circulus Brunnensis – vor einer alten Karte von Mähren“ (aus dem Gedichtband „Zwischenbericht“, 1986): „Ich bin oft dort … im leeren Turnsaal zittert noch etwas / Mozart / auf verstimmtem Klavier gespielt / aber die Lieder sind verstummt / die Stimmen nicht mehr hörbar / vergebens lege ich mein Ohr / auf die Schwelle / fremd / gehe ich durch die Gassen / eingehüllt in Schatten und Schlaf / weiß: der Regen bleibt nicht aus / schreibe doch immer wieder / mit Kreide / an die Häuserwände / alle Antworten / die sie mir schuldig geblieben sind.“

Werke: (Auswahl): Herbst mein Segel (Gedichte, 1967). – Anrufung des Mondes (Gedichte, 1970). – Regenzeit (Gedichte, 1975). – Ein Elefant in unserer Straße (satirische Erzählungen, 1977). – Fremder Strand (Erzählung, 1984). – Der Solitär (Erzählung, 1987). – Lob der Fremdheit (Gedichte, 1999). – Rückkehr zu Kathrin (Erzählung. Nur Bulgarisch. Sofia 1999). – Der August gibt dem Bauer Lust (Wettersprüche und Geschichten, 2000).

Bild: Privatarchiv des Autors

Jochen Hoffbauer