Biographie

Toller, Ernst

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Herkunft: Zentralpolen (Weichsel-Warthe)
Beruf: Dramatiker, Politiker der Münchner Räterepublik
* 1. Dezember 1893 in Samotschin
† 22. Mai 1939 in New York

Als am 15. Mai 1919 von München aus ein Steckbrief zur Ergreifung des „Studenten der Rechte und der Philosophie Ernst Toller" gegen 10000 Mark Belohnung plakatiert wurde, wurde dieser Name zum ersten Mal in Deutschland bekannt. Ein im Nordosten vor einem Vierteljahrhundert begonnener Lebensweg hatte in der bayerischen Hauptstadt, die damals ein Brennpunkt des deutschen Umbruchs war, einen dramatischen Wendepunkt erreicht. Dieser sollte bis zum Tode des Mannes bestimmend bleiben. Ernst Toller, als drittes Kind eines jüdischen Kaufmanns in der preußischen Provinz Posen geboren, war nach Knabenschule und Realgymnasium Anfang 1914 an die Ausländeruniversität Grenoble gegangen. Beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges geriet er nach München; er meldete sich als Kriegsfreiwilliger zum 1. Bayerischen Fuß-Artillerie-Regiment. An der Westfront – vor Verdun – litt seine seit einer schweren Erkrankung in der Jugend geschwächte Gesundheit so sehr, daß er 1917, inzwischen Unteroffizier, kriegsuntauglich war. Nun studierte er in München u.a. bei dem Theaterprofessor Arthur Kutscher und in Heidelberg Soziologie bei Max Weber, gründete einen „Kulturpolitischen Bund der Jugend", lernte Gustav Landauer kennen sowie in Berlin Kurt Eisner, dem er zurück nach München folgte. Mit Lesungen aus seinen Gedichten und ersten Dramen ebenso wie mit Reden für einen Verständigungsfrieden wuchs ihm, der über ein mitreißendes Pathos verfügte, 1918 eine wichtige Stimme in der oppositionellen „Schwabinger Intelligenz" zu und Einfluß auf die kriegsmüde Arbeiterschaft. Vom Januarstreik 1918 ab geriet er auch in Konflikt mit der Staatsordnung.

Diese Rolle führte den politisch unerfahrenen Studenten an der Seite Eisners ins Zentrum der bayerischen Novemberrevolution. Zunächst 2. Vorsitzender des Vollzugsrats der Bayerischen Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte, wurde er nach der Ermordung Eisners im März 1919 als Vorsitzender der bayerischen USPD sowie als Vorsitzender des Revolutionären Zentralrats (in der Nachfolge Ernst Niekischs) zu einer Hauptfigur der Münchner Räterepublik in ihrer ersten, von anarchistischen Literaten (Gustav Landauer, Erich Mühsam u. a.) geprägten Phase. Nachdem die Kommunisten die Macht an sich gerissen hatten, verteidigte er als Abschnittskommandeur der Roten Armee München gegen die vorrückenden Truppen und Freiwilligenverbände der nach Bamberg ausgewichenen bayerischen Regierung; bei Dachau errang er den einzigen Erfolg der Rätegarden über die „Weißen". Dem zunehmend terroristischen Regiment der bedrängten Machthaber, das ihn entsetzte, suchte er allenthalben zu wehren. Das verhinderte nicht, daß er nach der Eroberung Münchens, die für das Bürgertum eine Befreiung war, als ein Hauptschuldiger gehaßt und – dem Morden der ersten Wochen entgangen – im Juli 1919 wegen Hochverrats verurteilt wurde. Doch nicht zur vielfach erwarteten Todesstrafe, sondern lediglich zu fünf Jahren Festungshaft, da das Gericht bei ihm keine „ehrlose Gesinnung" erkennen konnte. Gerade die Haftzeit aber, die unter drückenden, auch in der Presse und im Landtag gerügten Umständen verlief, brachte dann Toller den Durchbruch zum großen literarischen Erfolg. Denn seit man sein erstes Drama Die Wandlung noch 1919 mit starkem Beifall in Berlin uraufgeführt hatte, schuf er in diesen produktivsten Jahren die Dramen Masse Mensch,Die Maschinenstürmer und Der deutsche Hinkemann, das „galante Puppenspiel" Die Rache des verwöhnten Liebhabers und die satirische Komödie Der gefesselte Wotan. Außerdem verfaßt er zwei Gedichtbände – Gedichte der Gefangenen sowie das rasch weitverbreitete Schwalbenbuch – und Massenspiele für die Arbeiterfestspiele in Leipzig. Binnen kurzem wurde Toller der bekannteste, meistübersetzte deutsche Dramatiker der zwanziger Jahre. Nahezu unabhängig vom wechselnden literarischen Rang fanden seine expressionistischen Stationenstücke mit ihrem humanitären Protest gegen den Krieg und sozialrevolutionären Visionen aufgrund der Zeitstimmung wie durch ihre zeitgemäße Form ein erregtes Echo – in Zustimmung und Skandal. Diese Verkündigungsdramen spiegelten das Nachkriegsdeutschland, die Ideale und enttäuschten Hoffnungen der Revolution, provozierten so deren Gegner. All das geschah mit den Mitteln der Massenmedien, welche die Wirklichkeit auf suggestive Klischees reduzieren. Alfred Kerr meinte: „Toller spricht Zeitung." Nach seiner Freilassung im Juli 1924 sah sich Toller zum Star des „linken" Kulturbetriebs geworden; politisch bewirkte er dennoch, parteilos und dem etablierten Sozialismus eher unbequem, nur mehr wenig. Mit Manifesten, u.a. in der von Tucholsky und Ossietzky herausgegebenen Weltbühne, auf Vortragsreisen, die auch nach Übersee führten, und im Theater, vor allem mit dem Erfolgsstück Hoppla, wir leben!, setzte er sich für einen revolutionären Pazifismus ein.

Zwangsläufig konnte Toller, der sich bei Hitlers Machtantritt in der Schweiz aufhielt, nicht nach Deutschland zurückkehren und gehörte zu den ersten, die im August 1933 ausgebürgert wurden. Im Exil – in London und New York – bekämpfte er mit zahllosen Reden und Artikeln in Europa und Amerika den Nationalsozialismus, setzte sich für das vom Bürgerkrieg verheerte Spanien ein, warb für verschiedene Hilfsaktionen und für Gewaltlosigkeit. Seine Autobiographie Eine Jugend in Deutschland und seine Briefe aus dem Gefängnis erschienen, eine pazifistische Komödie No More Peace wurde in London uraufgeführt, und er schrieb Drehbücher für Hollywood. Er fand in den angelsächsischen Ländern große Resonanz; doch änderte das nichts an seiner Verstörung über die Weltpolitik und seiner persönlichen Lage. Wenige Monate vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges setzte er in einem New Yorker Hotel seinem Leben ein Ende. Man hat dies auch als einen letzten Protest gegen Hitler gedeutet.

Wie nicht wenige jüdische Intellektuelle aus dem Osten hatte die Assimilation Ernst Toller in einen radikalen humanitären Idealismus geführt. Dieser äußerte sich in den Erschütterungen des frühen 20. Jahrhunderts kulturell glänzend; politisch aber scheiterte er, da ebenso arglos wie kompromißlos, an seinem Mißbrauch durch totalitäre Macht.

Nachlaß: verstreut (vgl. J.M. Spalek: Der Nachlaß Ernst Tollers, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, N. F. Bd. 6 (1965), S. 251 ff.).

Werke: W. Frühwald – J.M. Spalek (Hrsg.): Ernst Toller, Gesammelte Werke, 6 Bde, München 1978/79.

Lit.: G. Rühle: Theater für die Republik 1917- 1933 im Spiegel der Kritik, Frankfurt/M. 1967. – T. Dorst (Hrsg.): Die Münchener Räterepublik. Zeugnisse und Kommentar, Frankfurt/M. 1967. – L. Morenz (Hrsg.): Revolution und Räteherrschaft in München. Aus der Stadtchronik 1918/1919, München 1968. – K. Bosl (Hrsg.): Bayern im Umbruch. Die Revolution von 1918, München 1969. – W. L. Kristl: Ernst Toller in der Revolution 1918/19, in: Gewerkschaftliche Monatshefte Bd. 20 (1969), S. 205 ff. – F. J. Raddatz: Erfolg oder Wirkung. Schicksale politischer Publizisten in Deutschland, München 1972. – Th. Bütow: Der Konflikt zwischen Revolution und Pazifismus im Werk Ernst Tollers, Hamburg 1975. – M. Durzak (Hrsg.): Die deutsche Exilliteratur 1933-1945, Stuttgart 1973, S. 489ff. – R. Altenhofer: Ernst Tollers politische Dramatik. Diss. Washington University, St. Louis 1977 (masch.). – W. Frühwald – J.M. Spalek (Hrsg.): Der Fall Toller, Kommentar und Materialien (= Ges. Werke Bd. 6), München 1978. – C. ter Haar: Ernst Toller. Appell oder Resignation? München 21982. – H.-Ch. Kirsch: Ernst Toller: Revolution und Menschlichkeit, in: Klassiker heute, Frankfurt/M. 1982, S. 307 ff. – W. Rothe: Ernst Toller in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1983. – A. Lixl: Ernst Toller und die Weimarer Republik, Heidelberg 1986 – C. ter Haar: Ernst Toller (1893-1939), „der aber an Deutschland scheiterte…", in: M. Treml – W. Weigand (Hrsg.): Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Lebensläufe, München 1988, S. 309ff. – F. J. Bauer (Bearb.): Die Regierung Eisner 1918/19. Ministerratsprotokolle und Dokumente, Düsseldorf 1987. — D. Henning: Johannes Hoffmann. Sozialdemokrat und Bayerischer Ministerpräsident, München 1990. – R. Dove: He was a German. A biographie of Ernst Toller, London 1990.

Bild: Dove (wie oben).