Biographie

Treiber-Netoliczka, Luise

Herkunft: Siebenbürgen
Beruf: Volkskundlerin
* 29. Juli 1893 in Kronstadt/Siebenbürgen
† 7. Juli 1974 in Gundelsheim/Neckar

Die am 29. Juli 1893 als Tochter des Rektors des Honterus-Gymnasiums in Kronstadt, D.Dr. Oskar Netoliczka, eines bedeutenden Gelehrten und Ehrendoktors der Züricher Universität, geborene Luise besuchte zunächst die Kronstädter Kindergärtnerinnen-Bildungsanstalt bis zur Abschlußprüfung (1910). Erst ein Jahr später wurde auch Mädchen der Besuch in den höheren Knabenschulen gestattet, und Luise trat in die 5. Klasse des humanistischen Honterus-Gymnasiums ein, wo sie mit Auszeichnung ihre Reifeprüfung bestand. 1916 begann Luise Netoliczka ihr Universitätsstudium in Budapest, wo sie das Glück hatte, als einzige Frau in das „Eötvöskollegium“, in dem eine Auslese von Studenten in das Studium eingeführt wurde, aufgenommen zu werden. Nach Prüfungen in den Fächern Deutsch, Geschichte und Ungarisch ging sie nach Leipzig, um dort ihr Studium mit Germanistik und Kunstgeschichte fortzusetzen. Schon in dieser Zeit führte sie Arbeitsaufträge für das Deutsche Auslands-Institut (heute „Institut für Auslandsbeziehungen“) in Stuttgart aus, das ihr auch das Lektorat für Südosteuropa anbot. 1921 ging sie jedoch nach Marburg an der Lahn und promovierte 1924 zum Dr. phil. in den Fächern Deutsche Sprache und Literatur, Kunstgeschichte und Archäologie.

Schuldienst am Evangelischen Mädchenlyceum in Bukarest, dann am deutschen Gymnasium in Klausenburg folgte. In dem hier neu gegründeten Siebenbürgischen Volkskundemuseum (Muzeul etnografic al Ardealului), unter der Leitung von Prof. Dr. Romulus Vuia, arbeitete sie sich in die Volkskunde und Museologie ein und vertiefte in den Fächern Volks- und Völkerkunde sowie Anthropologie durch Teilnahme an Universitätsvorlesungen des Museumsdirektors ihre Kenntnisse. Nach einigen Jahren ganz in die Museumslaufbahn übergewechselt, leitete Luise Netoliczka die Abteilung für Textilien und Volkstrachten, die Siebenbürgisch-sächsische Abteilung, die Ungarische Abteilung sowie die Bibliothek und das Photoarchiv des Museums. In Seminarsitzungen für Studenten der Ethnographie und Folklore unterwies sie die Studenten in der praktischen Museologie sowie in der Geländeforschung im Hinblick auf Volkskunst und Volkstrachten; sie trug eigene Forschungsergebnisse vor und stellte eine umfangreiche volkskundliche Bibliographie zusammen. In jenen Jahren machte sie ausgedehnte Studienreisen ins Ausland und lernte so die bedeutendsten europäischen Volkskundemuseen kennen. Bald schuf sie sich auf Grund zahlreicher Veröffentlichungen in Fachzeitschriften einen Namen als geachtete Volkskundlerin. Wiederholt wurde sie zu Vorträgen ins Ausland geladen, auch hielt sie Referate auf internationalen Kongressen. Hoch geschätzt wurde sie auch von rumänischen Fachgelehrten (so u. a. von dem Historiker Nicolae Jorga), an deren Universitätsinstituten in Klausenburg und Bukarest sie Gelegenheit erhielt, Vorträge zu halten. Der siebenbürgisch-sächsische Germanist Karl Kurt Klein, deren ständige Mitarbeiterin sie an der von ihm herausgegebenen „Siebenbürgischen Vierteljahresschrift“ war, plante sogar, sie neben seinen Lehrstuhl für deutsche Philologie an die Universität Klausenburg als Vertreterin der Volkskunde der Deutschen Rumäniens berufen zu lassen.

Luise Netoliczka war aktives Mitglied in der „Trachtenberatungsstelle des Sebastian-Hann-Vereins“ sowie in mehreren an Museen angeschlossenen Forschungsvereinen und -gesellschaften. Als Museologin hatte sie an der Neuaufstellung des siebenbürgischen Volkskundemuseums in Klausenburg wesentlichen Anteil. Mehrere Museen baten sie, ihre volkskundlichen Abteilungen neu zu gestalten: so das Zentralmuseum der „Astra“ (Rumänische Vereinigung für Literatur und Kultur) in Hermannstadt, das Burzenländer und das Astra-Museum in Kronstadt, das Szekler National-Museum und das für kirchliche Altertümer in Valenii de Munte.

Als 1936 das Mädchengymnasium in Kronstadt eine Germanistin suchte, quittierte sie schweren Herzens den ihr lieb gewordenen Museumsdienst und lehrte seit dieser Zeit nicht nur an dieser Schule, sondern auch an dem damit verbundenen Handelskurs, der Kindergärtnerinnen-Bildungsanstalt und an verschiedenen staatlichen rumänischen Lyceen. Daneben fand Luise Netoliczka immer noch Zeit und Muße für Feldforschungen und Mitarbeit an Museen und wissenschaftlichen Vereinigungen. Bis 1958 blieb sie im Schuldienst, weit über ihr Pensionsalter hinaus. Mit dem Architekten, Siedlungs- und Kirchenforscher sowie Mitbegründer des Burzenländer Sächsischen Museums in Kronstadt, Dipl.-Ing. Gustav Treiber, in dem sie inzwischen ihren Lebengefährten gefunden hatte, unternahm sie viele Forschungsfahrten in die deutschen Gemeinden Siebenbürgens. Beide erfuhren vom rumänischen Staat volle Anerkennung und Unterstützung. Die Akademie der Wissenschaften in Bukarest und die volkskundliche Abteilung des Brukenthal-Museums in Hermannstadt erteilten Luise Treiber-Netoliczka Arbeitsaufträge, auch arbeitete sie eng mit dem Bukarester Volkskunstmuseum zusammen. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich Luise Treiber-Netoliczka verstärkt für volksbildnerische Belange in Wort, Schrift und Bild ein.

1963 übersiedelte sie mit ihrem Mann nach Westdeutschland und lebte seither im Heim der Siebenbürger Sachsen auf Schloß Horneck in Gundelsheim am Neckar, das gleichzeitig Forschungs- und Kulturzentrum mit wissenschaftlicher Bibliothek, Archiv und Museum der Siebenbürger Sachsen ist. Von hier aus war sie jahrelang aktives Mitglied des „Arbeitskreises für Siebenbürgische Landeskunde“. 1968 veröffentlichte die Kommission für ostdeutsche Volkskunde, als Band 6 ihrer Schriftenreihe, ihr Buch „Die Trachtenlandschaften der Siebenbürger Sachsen“, das als Musterbeispiel wissenschaftlicher Darstellung zwischen völkischen Kulturaustausches in diesem Mehrvölkerraum gilt. Am 7. Juli 1974 schloß sie die Augen für immer. Sie hinterließ nicht nur eine menschliche Lücke, ihr Tod bedeutet angesichts der immer drängenderen Fragen nach einem adäquaten Nachfolger und Fachkollegen für die südosteuropäische Forschung einen schweren Verlust.

Luise Treiber-Netoliczkas Leitgedanke ihrer wissenschaftlichen Arbeiten stand von Anfang an unter der Frage des interethnischen Kulturaustausches, hatte sie doch seit ihrer Jugend die enge Verzahnung rumänischer, madjarischer und deutscher Volkskultur und deren gegenseitige Beeinflussung hautnah miterlebt und brachte sie doch zu ihrer Erforschung die rumänischen und madjarischen Sprachkenntnisse als unentbehrliches Rüstzeug mit.

Der inhaltsreiche wissenschaftliche Nachlaß Luise Treiber-Netoliczkas, besonders der Entwurf eines Werkes über „Techniken und Schnitte der siebenbürgisch-sächsischen Trachten“, befindet sich im Archiv auf Schloß Horneck. Hoffentlich glückt es in Zukunft — und sei es durch ein Team von Fachleuten — wenigstens einen Teil der noch unveröffentlichten Forschungsergebnisse der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Lit.: Erhard Riemann, Zum Tode von Dr. Luise Treiber-Netoliczka. In: Jahrbuch für ostdeutsche Volkskunde, hrsg. von E. Riemann, Bd. 17. Marburg 1974, S. 276-282, mit Anführung einer Auswahlbibliographie.