Biographie

Ulitz, Otto

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Politiker
* 28. September 1885 in Kempten/ Allgäu
† 28. Oktober 1972 in Borgholzhausen

Das Leben und Wirken von Otto Ulitz, einem jüngeren Bruder des Schriftstellers Arnold Ulitz (1888-1971), war eng verbunden mit dem Schicksal Oberschlesiens im 20. Jahrhundert. Dabei war Ulitz kein gebürtiger Oberschlesier. Sein Vater stammte aus Breslau, seine Mutter aus dem ländlichen Oberschwaben, er selbst wurde in Kempten (Allgäu) geboren und betrat erst 1895 als Zehnjähriger den oberschlesischen Boden, als sein Vater, ein Eisenbahnsekretär, aus Breslau nach Kattowitz versetzt worden war.

Nach dem Besuch der Oberrealschule begann Ulitz mit dem Jurastudium, das er jedoch wegen der finanziellen Lage der sechsköpfigen Familie bald abbrechen musste. 1902 trat er als Auszubildender in die Kattowitzer Stadtverwaltung ein, wechselte 1905 in den städtischen Polizeidienst und stieg 1912 zum Polizeikommissar auf. Von August 1914 bis November 1918 kämpfte Ulitz als Artillerieoffizier im Ersten Weltkrieg, er wur­de zum Oberleutnant befördert und erhielt das Eiserne Kreuz I. und II. Klasse.

Nach Kriegsende kehrte Ulitz nach Kattowitz zurück und wurde 1919 Leiter der Polizeiexekutive im 1916 verstaatlichten Polizeipräsidium. Seit der Jahreswende 1918/19 engagierte er sich auch stark politisch. Er trat der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) bei und setzte es durch, dass der Kattowitzer Oberbürgermeister Alexander Pohlmann anstelle des zuerst favorisierten Fürsten Karl Max von Lichnowsky, des ehemaligen kaiserlichen Botschafters in London (1912-1914), als Spitzenkandidat der oberschlesischen Linksliberalen aufgestellt und folglich 1919 in die Weimarer Nationalversammlung gewählt wurde.

Im Juni 1920 wurde Ulitz – beim gleichzeitigen Ausscheiden aus dem Polizeidienst – von der DDP ins Deutsche Plebiszitkommissariat delegiert, das die Vorbereitungen für die oberschlesische Volksabstimmung leiten sollte, die über den Verbleib bei Deutschland oder Abtretung an Polen des größten Teiles Oberschlesiens entscheiden sollte. An den Kämpfen des dritten polnischen Aufstandes in Oberschlesien (Mai-Juli 1921) war Ulitz nicht beteiligt, er koordinierte in dieser Zeit im von Aufständischen belagerten Kattowitz die Arbeit des Deutschen Plebiszitkommissariats. Mit der Teilung Oberschlesiens 1922 nahm Ulitz die polnische Staatsangehörigkeit an und blieb im an Polen abgetretenen Kattowitz, dem Hauptort der neuen polnischen Woiwodschaft Schlesien, gebildet aus dem bis dahin preußischen Ostoberschlesien und der östlichen Hälfte des früher österreichischen Teschener Schlesiens. Bereits zuvor, im November 1921, war Ulitz zum Geschäftsführer des von ihm initiierten Deutsch-Oberschlesischen Volksbundes für Polnisch-Schlesien zur Wahrung der Minderheitsrechte (ab 1925 Deutscher Volksbund für Polnisch-Schlesien), der Dachorganisation der deutschen Minderheit in Ostoberschlesien, gewählt worden. Er war auch einer der Gründer und Anführer der Deutschen Partei (DP) in der Woiwodschaft Schlesien, die u.a. die ehem. oberschlesischen Anhänger der DDP, der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) und der Deutschen Volkspartei (DVP) in ihren Reihen vereinigte. 1922-1935 saß er als Abgeordneter der DP im Schlesischen Sejm, einem Regionalparlament der halbautonomen Woiwodschaft Schlesien.

Ulitz blieb bis zum Kriegsausbruch 1939 hauptamtlicher Geschäftsführer (Dez. 1938-1939 fungierte er auch als Volksbund-Präsident) und, für alle sichtbar, der starke Mann des Volksbundes – mit Recht bezeichnete ihn der deutsche Generalkonsul in Kattowitz Wilhelm Nöldeke 1935 als „einen Geschäftsführer mit diktatorischer Stellung“ (PA AA, RAV 290/67). Neben Eduard Pant und Rudolf Wiesner war Ulitz der maßgebende deutsche Politiker in der Woiwodschaft Schlesien, er war auch einer der profiliertesten Politiker der deutschen Minderheit in ganz Polen. Wiederholt vertrat er die Klagen der deutschen Minderheit aus Ostoberschlesien vor dem Völkerbund in Genf und war daher auch auf der europäischen Bühne bekannt. Für seinen Einsatz zugunsten der Minderheitenrechte verlieh ihm die juristische Fakultät der Breslauer Universität 1932 die Würde eines Ehrendoktors.

Nach dem deutschen Überfall auf Polen und Bildung des neuen Regierungsbezirks Kattowitz innerhalb der um annektierte polnische Gebiete stark vergrößerten Provinz Schlesien (1938-1941) bzw. Oberschlesien (1941-1945) wurde Ulitz Ende Oktober 1939 zum Leiter der II. Abteilung für Kirchen und Schulen im Kattowitzer Regierungspräsidium ernannt. In diesem relativ hohen, „regionalpolitisch bedeutsame[n] Amt“ (Schwartz, S. 327) – und dennoch war er „letzten Endes nachgeordnete[r] Abteilungsleiter“ (Schwartz, S. 332) – blieb Ulitz bis 1945 als Teil des NS-Verwaltungs- und Besatzungsapparats tätig, ab März 1941 im Rang eines Ministerialrates. Am 18. Oktober 1939 erhielt Ulitz ehrenhalber das Goldene Ehrenzeichen der NSDAP zusammen mit fünf anderen Vertretern der deutschen Minderheit in Polen in der Zwischenkriegszeit und zwar „in Anerkennung seiner Verdienste im Kampf um die Selbstbehauptung des Volksdeutschtums im ehemaligen polnischen Staat“ (BAB, R 9361-II/1152716). Am 1. Oktober 1941 wurde er Mitglied der NSDAP.

Im September 1946 wurde Ulitz in der Sowjetischen Besatzungszone verhaftet und kam in sowjetische Internierungs- bzw. Speziallager, u.a. nach Buchenwald. 1950 wurde er der DDR-Justiz übergeben und in einem Schnellverfahren im Zuge der berüchtigten Waldheimer Prozesse als „Naziverbrecher“ zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Im Herbst 1952 wurde Ulitz vorzeitig entlassen, das Westberliner Kammergericht erklärte den DDR-Urteilsspruch für null und nichtig. Nach seiner Niederlassung in Westdeutschland engagierte sich Ulitz in der Vertriebenenarbeit. 1953 wurde er zum Sprecher der Landsmannschaft der Oberschlesier (LdO) gewählt und hatte das Amt bis 1969 inne, anschließend wurde er im selben Jahr zum Präsidenten des neu geschaffenen Rates der LdO berufen. Er gehörte auch dem ersten Präsidium des Bundes der Vertriebenen (BdV) 1958 an und blieb BdV-Präsidiumsmitglied bis zu seinem Tod 1972 (mit Unterbrechung von April 1968 bis Februar 1970).

In den 1960er Jahren wurden seitens der DDR schwere Anschuldigungen gegen Ulitz erhoben. Im ‚Braunbuch‘ (3. Auflage 1968) warf man ihm u.a. die Teilnahme an den Vorbereitungen für die berüchtigte Gleiwitzer Provokation am 31. August 1939 (fingierter, von der SS durchgeführter Überfall auf den Sender Gleiwitz) vor, die den Vorwand für den Überfall auf Polen liefern sollte. Diese Vorwürfe entbehrten jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach jeder Grundlage und wurden ausgerechnet seitens der am meisten interessierten Volksrepublik Polen nicht aufgegriffen.

Ulitz war auch anscheinend kein Nationalsozialist. Deutsche jüdischen Glaubens waren Mitglieder im Volksbund, auch in Führungspositionen und auch nach 1933, was der NS-„Rassenlehre“ diametral widersprach. Seine „jüdische“ und von Berlin finanzierte (wie auch andere Stellen im Volksbund) Sekretärin konnte er bis 1936 (sic!) beschäftigen, was ihm harte Angriffe seitens der NS-Anhänger unter den Deutschen in Polen einbrachte. Seinen Antrag auf die NSDAP-Mitgliedschaft stellte Ulitz erst im Juli 1941 und nicht freiwillig, sondern auf „sanften“ Druck der NS-Stellen. Ulitz‘ Name stand auch offenbar auf der von Grafen von der Schulenburg erstellten Personalliste für die Stellenbesetzungen nach einem gelungenen Staatsstreich (20. Juli 1944). Noch im Januar 1944 soll Schulenburg darauf gedrängt haben, Ulitz nach dem Staatsstreich „als Landesverweser in Posen für das Wartheland vorzusehen“ (Krebs, S. 276, in Verbindung mit Schwerin, S. 541). Seine nicht nationalsozialistische Grundhaltung bestätigten gewichtige Zeitzeugen wie Hans Lukaschek und Herbert Hupka. Auch die NS-Stellen bescheinigten Ulitz intern, dass er „zu Deutschland positiv“ eingestellt sei (Nationalsozialismus, … Online-Datenbank. De Gruyter) vermieden aber, ihn als Nationalsozialisten zu bezeichnen, und zwar im Gegensatz zu einigen anderen „volksdeutschen“ Minderheitenführern. Und dennoch zeigte sich Ulitz nach 1933 und vor allem nach Kriegsausbruch 1939 anpassungsfähig bzw. anpassungsbereit und opportunistisch genug, um dem NS-Regime bis zum Untergang zu dienen.

Werke: Aus der Geschichte Oberschlesiens, Bonn 1957.Aus der Geschichte Oberschlesiens, Bonn 1962 (2. erw. Aufl.).Oberschlesien. Aus seiner Geschichte, Bonn 1971 (3. erw. Aufl.).

Quellen: BAB (Bundesarchiv Berlin), R 9361-II/1152716, Volksdeutsche Mittelstelle an Parteikanzlei der NSDAP, Berlin, 20. Februar 1941, o. Bl. – Nationalsozialismus, Holocaust, Widerstand und Exil 1933-1945. Online-Datenbank. De Gruyter, Elf Vorschläge der Volksdeutschen Mittelstelle zur Einladung von Volksdeutschen als …, Berlin, 11. Juli 1938, (Regest 12742), abgerufen 05.12.2023. – PA AA (Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes), RAV 290/67, [Wilhelm] Nöldeke, Deutsches Generalkonsulat, an Auswärtiges Amt, Kattowitz, 12. April 1935, Durchdruck für die Deutsche Botschaft in Warschau.

Lit.: Braunbuch. Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik und in Westberlin – Staat, Wirtschaft, Verwaltung, Armee, Justiz, Wissenschaft, Hrsg. Nationalrat der Nationalen Front des demokratischen Deutschland und Dokumentationszentrum der staatlichen Archivverwaltung, [Ost-]Berlin 1968 (3. Auflage). – André Brissaud, Die SD-Story. Hitlers Geheimarmee: Mord auf Bestellung, Herrsching 1980. – Mirosław Cygański, SS w polityce zagranicznej III Rzeszy w latach 1934-1945 [Die SS in der Außenpolitik des Dritten Reiches in den Jahren 1934-1945], Warszawa, Wrocław 1975. – Ders., Hitlerowska V kolumna w województwach śląskim i krakowskim w 1939 roku [Die hitlerfaschistische fünfte Kolonne in den Woiwodschaften Schlesien und Krakau im Jahre 1939], Opole 1972. – Ders., Volksbund w służbie III Rzeszy 1933-1938 [Der Volksbund im Dienst des Dritten Reiches 1933-1938], Opole 1968. – Ders., Z dziejów Volksbundu (1921-1932) [Aus der Geschichte des Volksbundes (1921-1932)], Opole 1966. – Ders., Zawsze przeciwko Polsce. Kariera Otto Ulitza [Immer gegen Polen. Die Karriere von Otto Ulitz], Warszawa 1966. – Piotr Greiner, Ryszard Kaczmarek, Leksykon mniejszości niemieckiej w woje­wództwie śląskim w latach 1922–1939. Zarys dziejów, organizacje, działacze [Lexikon der deutschen Minderheit in der Woiwodschaft Schlesien in den Jahren 1922–1939. Geschichtlicher Abriss, Organisationen, Aktivisten], Katowice 2002. – Karol Grünberg, Nazi-Front Schlesien. Niemieckie organizacje polityczne w województwie śląskim w latach 1933–1939 [Nazi-Front Schlesien. Die deutschen politischen Organisationen in der Woiwodschaft Schlesien in den Jahren 1933-1939], Katowice 1963. – Albert Krebs, Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg. Zwischen Staatsraison und Hochverrat, Hamburg 1964. – Matthias Lempart, Otto Ulitz und der NS-Staat, insbesondere in den Jahren 1933-1939, in: Bernard Linek (Hrsg.), Deutsche Minderheit in der Zweiten Republik Polen, Opole 2022, S. 213-240. – Ders., Polen, in: Walter Ziegler (Hrsg.), Die Vertriebenen vor der Vertreibung. Die Heimatländer der deutschen Vertriebenen im 19. und 20. Jahrhundert: Strukturen, Entwicklungen, Erfahrung, Bd. 1, München 1999, S. 406-495. – Mitglieder-Versammlung vom 18. Dezember 1933, Hrsg. Deutscher Volksbund für Polnisch-Schlesien (t.z.), o.O. [Kattowitz], o.J.; [gedruckter Bericht]. – Alfons Perlick, Dr. jur. h.c. Otto Ulitz (1885-1972), in: Mitteilungen des Beuthener Geschichts- und Muse­umsvereins 1974/1979, H. 36/41, S. 302-303. – Jürgen Runzheimer, Der Überfall auf den Sender Gleiwitz im Jahre 1939, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 1962, Bd. 10, H. 4, S. 408-426. – Michael Schwartz, Funktionäre mit Vergangenheit. Das Gründungspräsidium des Bundes der Vertriebenen und das „Dritte Reich“, München 2013. – Detlef Graf von Schwerin, „Dann sind‘s die besten Köpfe, die man henkt“. Die junge Generation im deutschen Widerstand, München/ Zürich 1994. – Alfred Spieß, Lichtenstein Heiner, Unternehmen Tannenberg. Der Anlass zum Zweiten Weltkrieg, Frankfurt/ M. u.a. 1989. – Matthias Stickler, „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“. Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949-1972, Düsseldorf 2004. – Strauß und Brandt mobilisieren die SS. Drahtzieher der Revanchehetze um Westberlin, Hrsg. Nationalrat der Nationalen Front des demokratischen Deutschland, [Ost-]Berlin 1962. – Andrzej Szefer, Hitlerowska prowokacja gliwicka oraz w Stodołach i Byczynie 31 sierpnia 1939 roku [Die hitlerfaschistische Provokation von Gleiwitz sowie in Stodoll/Hochlinden und Pitschen am 31. August 1939], Gliwice 1989. – Webersinn Gerhard, Otto Ulitz. Ein Leben für Oberschlesien, Augsburg 1974.

Bild: nach Cover von Gerhard Webersinn „Otto Ulitz. Ein Leben für Oberschlesien“

Matthias Lempart