Biographie

Urzidil, Johannes

Herkunft: Sudeten (Böhmen u. Mähren, österr. Schlesien)
Beruf: Schriftsteller, Journalist
* 3. Februar 1896 in Prag
† 2. November 1970 in Rom

Dulde mich, Jupiter, hier, und Hermes führe mich später,
Cestius Mal vorbei, leise zum Orkus hinab.

Goethes in den Römischen Elegien ausgesprochener Wunsch, einstens in der Ewigen Stadt seine letzte Ruhestätte zu finden – einem anderthalb Jahrhunderte jüngeren Dichterkollegen, einem, wie Adalbert Stifter, ‚aus seiner Verwandtschaft‘, wurde er erfüllt: Johannes Urzidil liegt im Vatikan am Campo Santo Teutonico in der Gruft des Deutschen Priesterkollegs Santa Maria dell‘ Anima begraben. Die Zeitläufte hatten ihn, wie so manchen seiner Generation, zu einem citizen of the worldgemacht. In einer "Welt der Sicherheit" (Stefan Zweig), vor den mörderischen Ideologien und globalen Kriegen unseres Säkulums, wäre wohl die geliebte Heimatstadt Prag oder das von ihm immer wieder gern aufgesuchte Glöckelberg im südlichen Böhmen seine Grablege geworden. Nun starb er, aus der Neuen Welt kommend, wohin es ihn, den Sohn einer jüdischen Mutter und Gatten einer jüdischen Frau, während des Zweiten Weltkrieges verschlagen hatte, auf einer Vortragsreise, nur scheinbar zufällig, im Zentrum der Alten Welt, in tieferem, eigentlichen Sinne heimgekehrt an den Ursprung seines christlichen Humanismus.

Die Stationen seines Lebens hat er im Alter stichwortartig aufgezeichnet. Wir lassen ihn mit einigen dieser durch ihre Akzentuierungen sein Selbstverständnis bekundenden Notate zu Worte kommen. Ähnlich seinem niederösterreichischen Alters- und Zunftgenossen Heimito von Doderer, mit dem er auch die Spätreife seines Schaffens teilt, ist er der "Sohn eines Eisenbahningenieurs und technischen Erfinders". "Urzidils Vorfahren", so läßt sich der Autor mit spürbar Stifterscher Liebe zum Herkommen vernehmen, "lebten seit dem 15. Jahrhundert in Westböhmen, seit dem 16. Jahrhundert war die Familiensprache deutsch. Die Urzidils waren Goldschläger, Ärzte und Lehrer, Urzidils Mutter starb, als der Knabe noch nicht vier Jahre alt war."

Für den Zeitraum von 1906 bis 1914 notiert er: "Absolvierung des humanistischen Gymnasiums am Graben in der Prager Neustadt". Es folgte im selben Jahre der "Beginn der Studien an der deutschen Universität in Prag mit den Fächern Germanistik, Slawistik, Kunstgeschichte". Von seinen akademischen Lehrern gedenkt er namentlich August Sauers als "bekannten Goethe-, Grillparzer- und Stifter-Forschers". Das Studium beendete er, nach einer zweijährigen Unterbrechung durch "Kriegsdienst in der k. u. k. Armee", 1919 "mit Absolutorium". Dieser Austriazismus besagt, daß er wohl die nötigen Studienleistungen für das Abschlußexamen erbrachte, diesem selbst sich aber nicht unterzog. Sein Weg führte ihn zunächst abseits einer Gelehrtenlaufbahn in den Prager Literatenkreis um Kafka, Werfel und Brod, doch fand er später, durch die Abfassung fachkundiger Standardwerke über Goethe in Böhmen (1932, stark erweitert 1962) und den böhmischen Maler und Graphiker Wenceslaus Hollar (1936), wieder Anschluß an seine wissenschaftlichen Anfänge. Frucht seiner Hinwendung zum literarischen Prag wurde sein in der berühmten Schriftenreihe "Der Jüngste Tag" erschienenes Erstlingswerk:Sturz der Verdammten. Diese noch im expressionistischen Jahrzehnt 1918 veröffentlichte Gedichtsammlung verleugnet nicht ihre Entstehungszeit. Doch finden sich dort auch schon Strophen, die, fern von schriller Ekstase, eine ewig menschliche Sehnsucht nach Ruhe und Geborgenheit bekunden und zugleich in ihrer Rühmung schlichter Erhabenheit ganz altösterreichisch anmuten:

" Das wiegende Schreiten des Mädchens auf der Brücke,
das schlicht erhabene, wovor das Herz mir beklommen still steht,
immer fällt es mir ein im Kommen und Gehen des tönenden Cafés,
oder wenn ich sonstwo einsam lehne und nachdenke."

Journalistische Tätigkeiten schlossen sich an. Während der Jahre 1922 bis 1933 tat Urzidil Dienst als "Pressebeirat an der deutschen Gesandtschaft in Prag", das Protektoratsjahr 1939 zwang ihn zur Flucht über Italien nach England: "Landleben im Forest of Dean", vermerkt der Lebensabriß, und man denkt an das epikureische "Lathe biósas!" (Lebe im Verborgenen!), an Vergils und Horazens ländliche Gedichte, aber auch an Thoreaus Walden, or Life in the Woods und an Stifters Holzhaus imHochwald, mit dem Fernrohrblick auf die kriegszerstörte heimische Burg SYMBOL 150 f "Times New Roman CE" schlicht Erhabenes, doch abgetrotzt einer ständigen Existenzbedrohung: "1941 Ankunft in den USA. Lebensunterhalt durch Arbeit als Lederkunsthandwerker", so lautet die nächste Eintragung.

Endlich, nach Kriegsende, kamen wieder gesichertere Jahre als Mitarbeiter der österreichischen Abteilung der Stimme Amerikas, es kam die stattliche Reihe seiner erzählerischen Werke, die 1945 mit der um Adalbert Stifter zentrierten Novelle Der Trauermantel begann, und es kamen die späten Ehrungen: Urzidil wurde korrespondierendes Mitglied des Adalbert-Stifter-Instituts des Landes Oberösterreich und der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung, und der österreichische Bundespräsident ernannte ihn zum Professor honoris causa.

Als Urzidil im Jahre 1970 starb, war er ein hochgeachteter, vielgenannter und durch mannigfaltige Publikationen, auch in Taschenbuchform, weitverbreiteter Autor. Sogar mit einem Reclambändchen,Neujahrsrummel, war er seit 1957 auf dem Buchmarkt vertreten. Ein Vierteljahrhundert nach seinem Tode sind seine Werkeout of print, und selbst sein Name scheint weithin vergessen. Das darf und wird nicht so bleiben. Sein Goethe-Buch kann nicht veralten, die Wiedereinbeziehung Böhmens in das freie Europa wird den in Karlsbad, Marienbad oder Teplitz auf Goethes Spuren Wandelnden zu diesem kundigsten aller Cicerones greifen lassen; der Stifter-Freund wird im Trauermantel eine der Mörikeschen Mozartnovelle vergleichbare Deutung eines Künstlers durch einen ihm wesensverwandten anderen zu schätzen wissen, und vollends Urzidils noch gar nicht recht rezipiertes reiches Erzählwerk harrt der Erschließung durch Kenner und Liebhaber. Jene haben immerhin mit einem römischen Johannes-Urzidil-Symposion (1984) und einer Prager Johannes-Urzidil-Konferenz (1995) erste Marksteine einer breiteren Urzidil-Forschung gesetzt, diese aber mögen im zweiten Jahrhundert seiner geistigen Existenz mit Kaufinteressen für Urzidil-Bücher die Sortimenter bestürmen, damit seine Werke endlich wieder greifbar werden.

Werke: Im Handel sind Urzidils Werke gegenwärtig nicht lieferbar. Eine ausgezeichnete Gesamtbibliographie der Primärliteratur mit 666 Nummern bietet Vera Machácková-Riegerová in: Johannes  Urzidil: Bekenntnisse eines Pedanten. Zürich und München 1972, S. 217-262. – Die von uns zitierten Urzidil-Notate finden sich in der Tabelle "Johannes Urzidil –  Leben und Werk", in: J.U.: Die verlorene Geliebte. München/Wien 1979, S. 372-374.

Lit.: Einen guten Überblick über die Urzidil-Forschung ermöglicht der Sammelband: Johannes Urzidil und der Prager Kreis. Vorträge des römischen Johannes-Urzidil-Symposions 1984. (= Schriftenreihe des Adalbert-Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich. Folge 36). Linz 1986.

Bild: Studio R. Mollard, Chambéry.

 

    Burkhard Bittrich