Biographie

Virchow, Rudolf

Herkunft: Pommern
Beruf: Pathologe
* 13. Oktober 1821 in Schivelbein/ Hinterpommern
† 5. September 1902 in Berlin

Rudolf Virchow stammte aus sehr kleinen Verhältnissen. Er wurde am 13. Oktober 1821 in Schivelbein, einem kleinen Dorf in Pommern, geboren. Virchows Vater verband seine bescheidene Landwirtschaft mit einer städtischen Beschäftigung als Kämmerer und vielen erfolglosen Nebentätigkeiten.

Bereits als Kind liebte es Virchow, naturkundliche Bücher anzusehen. Eine intensive Vorschule sowie Privatunterricht bereiteten den Knaben auf den Besuch des Gymnasiums in Köslin vor, wohin er 1835 als 14jähriger aufbrach. Seine Schulleistungen waren glänzend und bei seinen Kameraden war Rudolf überaus beliebt. In der Klasse bekam er daher den Spitznamen „der König“.

Aus seiner Heimat zog Virchow 1839 nach Berlin. In Preußen bestand damals für arme Abiturienten nur eine Möglichkeit, Medizin zu studieren: die Einschreibung in die sog. Pépinière, das Friedrich-Wilhelm-Institut zu Berlin. Diese 1795 gegründete medizinische Lehranstalt bot begabten Anwärtern eine freie heilkundliche Ausbildung, um sie später als Militärärzte einzusetzen. Rudolf Virchow entschloß sich nolens volens für diesen Bildungsweg: 1839 nahm er sein Studium an der Pépinière auf.

Während der Student fleißig studierte, flocht er in seinen Briefen nach 1840 immer häufiger kritische politische Bemerkungen von zunehmender Schärfe ein. In diesen Reflexionen äußert sich früh eine andere wichtige Seite der Persönlichkeit des jungen Gelehrten. Die Briefe spiegeln die politischen Wirren wider, die in Preußen ab 1840 nach dem Tod des alten Königs immer wieder für Unruhe sorgten und aus denen sich 1848 dann die Revolution entwickeln sollte. Virchows Kritik an den politischen Zuständen zeigt sich in seinen ersten Veröffentlichungen, die keine medizinische, sondern geschichtliche Thematik aufweisen. In diesen Aufsätzen des jungen kritischen Geistes finden sich zahlreiche herabsetzende Bemerkungen über die damaligen feudalen Institutionen.

Virchow beendete 1843 mit einer lateinischen Doktorarbeit über den Rheumatismus sein Studium an der Berliner Militärakademie. Bereits dieses wissenschaftliche Erstlingswerk läßt seine späteren Arbeitsgebiete, nämlich die Pathologie (d. h. die Lehre von den Krankheiten) und seine Theorien über die Entzündungen, erkennen.

Noch im selben Jahr wurde Virchow Unterarzt an der berühmten Berliner Charité. Seine damaligen Patienten nannten ihn liebevoll „den kleinen Doktor“, denn Virchow war ein kleiner, magerer Mann, dessen Gestalt alles andere als imponierend gewesen ist. 1844 erhielt Virchow eine Stelle an der Prosektur der Charité; 1846 übernahm er die Leitung dieser Abteilung.

1845 kamen die ersten medizinischen Veröffentlichungen Virchows heraus, die den Beginn seiner Erfolge in der Erforschung der Embolie und der Leukämie markieren. Im Alter von 26 Jahren, 1847, erfolgte die Habilitation zum Dozenten an der Universität, im selben Jahr fungierte er als Mitbegründer der bekannten medizinischen Zeitschrift „Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin“, die er von 1852 bis zu seinem Tod 1902 leitete. Die hohe Qualität der Beiträge im „Archiv“ machte diese Zeitschrift zu einem führenden Organ in der Gestaltung der modernen Medizin.

Auf Geheiß der Regierung trat Rudolf Virchow 1848 eine Reise nach Oberschlesien an, einer preußischen Provinz, wo er die seit 1847 grassierende Hungertyphus-Epidemie und die dortige medizinische Situation untersuchte. Die Lage in Schlesien war zu einem öffentlichen Skandal geworden, der die Regierung zwang, endlich zu handeln. Seine Erlebnisse in Oberschlesien im Februar und März 1848 bestärkten Virchow in seiner Kritik sowohl an den damaligen katastrophalen sozialen Verhältnissen nicht nur in Oberschlesien als auch an der Regierung, die die Lage augenscheinlich nicht in den Griff bekommen konnte oder wollte. In seinem nach der Rückkehr verfaßten sozialmedizinischen Bericht, der ihn auch in größeren Bevölkerungskreisen bekannt machen sollte, bezichtigte Virchow die Regierung vieler Fehler und machte Vorschläge für sozialpolitische Maßnahmen. Der rebellische Arzt empfiehlt nicht irgendwelche neue Arzneien zur Bekämpfung der Epidemie, sondern „volle und unumschränkte Demokratie“, eine der Hauptvoraussetzungen für Freiheit und Wohlstand für die etwa eineinhalb Millionen Armen in Oberschlesien. Im einzelnen forderte Virchow die Selbstverwaltung, die Trennung von Staat und Kirche, die Verbesserung der Landwirtschaft, den Übergang der Steuerlasten von den Armen auf die Reichen, den Bau von Straßen und die Gründung von Genossenschaften.

Kaum aus Schlesien zurückgekehrt, brach in Berlin die Revolution aus. In der Nacht des 18. März stand Rudolf Virchow auf den Barrikaden und kämpfte. Obwohl er sich in der Folgezeit in zahlreichen demokratischen Clubs und Zirkeln engagierte, vernachlässigte er damals keineswegs seine Pflichten als Arzt und Forscher, galt es doch zum Beispiel, eine Choleraepidemie zu bekämpfen.

Noch im Jahr 1848 ließ Virchow mit Gleichgesinnten ein medizinalpolitisches Blatt erscheinen, in dem er seine sozialen und gesundheitspolitischen Ziele veröffentlichte und sich somit als Berliner Wortführer einer über ganz Deutschland sichausbreitenden medizinischen Reformbewegung etablierte. Die Zeitschrift trug den programmatischen Titel „Die Medicinische Reform“. Rudolf Virchow ging von der Überzeugung aus, daß die meisten Erkrankungen durch die soziale Misere bedingt seien. Virchow sah dementsprechend die Heilkunde auch als soziale Wissenschaft an – eine Vorstellung, die der Medizintheoretiker Salomon Neumann in seinem 1847 erschienenen Werk „Die öffentliche Gesundheitspflege und das Eigenthum“ paradigmatisch formuliert hatte. Es ist die Meinung Virchows, daß es Aufgabe des Staates sei, die sozialen Verpflichtungen der Medizin zu garantieren. In der „Medicinischen Reform“ schreibt er: „Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts als die Medizin im Großen.“ Er prägte das berühmte Wort: „Der Arzt ist der natürliche Anwalt der Armen.“

Ehe der politisch aktive Virchow jedoch seine Pläne bei der Obrigkeit durchsetzen konnte, kam es zur Bildung einer neuen Regierung, mit der er sich jedoch nicht anfreunden konnte. Man wollte ihm sogar die Leitung der Prosektur entziehen, und nur der Fürsprache einflußreicher Persönlichkeiten hatte er es zu verdanken, daß er sie behalten durfte. Der Aufenthalt in Berlin war ihm jedoch verleidet, und als ihn 1849 ein Ruf nach Würzburg als Professor für Pathologische Anatomie erreichte, folgte er ihm. 1856 kehrte er wieder nach Berlin zurück und übernahm hier den Lehrstuhl für Pathologische Anatomie, Allgemeine Pathologie und Therapie sowie die Leitung des neuen Pathologischen Instituts. Verschiedene Regierungsaufträge führten ihn durch weite Teile Deutschlands. 1859 kam er nach Norwegen, wo er neuerlich eine Seuche untersuchte.

Auch die politische Tätigkeit hatte ihn wieder in den Bann gezogen. 1861 wurde er Mitglied der Berliner Stadtregierung, 1862 des Preußischen Abgeordnetenhauses. Daneben begründete er die Fortschrittspartei und gehörte dem Deutschen Landtag an.

Virchow organisierte die ersten Sanitätszüge Preußens und wirkte erheblich am Bau mehrerer großer BerlinerKrankenhäuser mit. 1870 wurde er einer der Gründer und mehrfacher Präsident der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte mit Sitz in Berlin. Er nahm an etlichen wissenschaftlichen Reisen teil und veröffentlichte eine Anzahl von Schriften zu diesen Themen. Auf verschiedenen medizinischen und anthropologischen Kongressen hielt er die Eröffnungsreden, weihte Museen ein und wurde mit Ehren überhäuft.

Sein Arbeitsgebiet ist unüberschaubar. Sein größtes Verdienst ist die Entwicklung der Zellularpathologie während seiner Würzburger Zeit, die die Medizintheorie umwälzen sollte. Die Zellularpathologie betrachtete er als allgemeines biologisches Prinzip, das das alte Lehrgebäude der Vier-Säfte-Theorie endgültig zu Fall brachte: Virchow sah nämlich – und dies war revolutionär – als Ursache aller krankhaften Erscheinungen die pathologisch veränderte Zelle an. So legte er mit seiner Lehre beispielsweise den Grundstein für die moderne Erforschung des Krebsleidens und revolutionierte die Tumordiagnostik.

Außerdem machte sich Virchow um Anthropologie und Archäologie verdient, wenngleich sich seine Beurteilung der Schädel von Neandertalern als schwerwiegender Irrtum erweisen sollte. Er stellte neue Theorien über den Ursprung der Germanen auf und verglich Affen- mit Menschenschädeln. Im sozialmedizinischen Bereich führte er hygienische Maßnahmen und Verbesserungen der öffentlichen Fürsorge durch.

Auf dem Gebiet der Pathologie untersuchte Virchow neben der Leukämie und der Embolie die Thrombose, die Infektion, die Syphilis, die Tuberkulose, die Degeneration der Knorpel und Lymphdrüsen, die Geschwülste und das Magengeschwür, die abnormen Schädelformen, die Rachitis, den Kretinismus, die Neubildung grauer Hirnsubstanz und die Blutergüsse der HartenHirnhaut. Virchow fand eine Methode zur Untersuchung von Blutflecken, stellte Studien über trichinenbefallenes Fleisch an und baute die Lehre von den Geschwülsten aus. Er führte eine statistische Untersuchung über die Todesrate bei Tumoren durch und eine andere, bei der er deutsche Schulkinder nach Haar-, Augen- und Hautfarbe einteilte. Sein Name ist in der „Virchowschen Drüse“ verewigt, einer Drüse beim Schlüsselbein, die sich bei einigen Krebsleiden vergrößert. Diese kleine und bei weitem nicht vollständige Aufzählung mag einen Überblick über das Schaffensgebiet dieses großen Gelehrten geben.

1901 konnte Virchow unter Anteilnahme der gesamten medizinischen Welt seinen 80. Geburtstag feiern. Kurze Zeit nach diesem Festtag erlitt er durch Unfall einen Bruch des Schenkelhalses, von dem er sich nicht wieder erholen sollte. Rudolf Virchow starb hoch geehrt am 5. September 1902. Zur dauernden Erinnerung an sein Wirken nannte die Stadt Berlin nach Virchow ihr damals größtes Krankenhaus, das heute noch unter diesem Namen existiert.

Lit.: Erwin H. Ackerknecht: Rudolf Virchow. Arzt. Politiker. Anthropologe, Stuttgart 1957. – Kurt Winter: Rudolf Virchow als Gesundheitspolitiker, in: Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 65 (1971), S. 1045–1049.

Werke: Rudolf Virchow: Die Not im Spessart. Mitteilungen über die in Oberschlesien herrschende Typhus-Epidemie, Hildesheim 1968 (Neudr. der Ausgaben 1852 bzw. 1849).

Bild: Pathologisches Institut der Universität Würzburg.

Werner E. Gerabek