Biographie

Volkelt, Johannes Immanuel

Herkunft: Galizien u. Bukowina
Beruf: Philosoph
* 21. Juli 1848 in Lipnik/Galizien
† 8. Mai 1930 in Leipzig

„Der Reiz des Lebens liegt in der Mischung von Geheimnis und Klarheit“, dieses Wort könnte als Leitmotiv über der Lebens- und Denkgeschichte Johannes Volkelts stehen, der in eine tiefgläubige protestantische Familienwelt hineingeboren wurde. Jugendliche Neigungen zur klassischen Philologie vertieften sich ihm früh zu philosophischem Interesse. 1867/68 begann er das Studium der Philosophie in Wien, wobei ihn der formalistische Charakter des dort vorherrschenden Herbartianismus nicht befriedigte. Auf Empfehlung des Privatdozenten Karl Siegmund Barach, der ihm die Welt des Idealismus erschloß, wechselte er für ein Jahr nach Jena, zu Kuno Fischer. Jena, in dem er noch ein Echo der klassischen Ära deutscher Philosophie und Literatur wahrzunehmen meinte, motivierte ihn zu einer vertieften Begegnung mit Kants Ethik, mit Fichte und vor allem mit Hegel. So studierte Volkelt während seines Jenenser Jahres die Hegelsche Logik durch und war, gegen die positivistische Zeittendenz, von der Selbstbewegung des Begriffs, dem All-Einen des reinen Gedankens, bezaubert. Es sind Hegels früheste Denkerfahrungen, die er in seiner DissertationPantheismus und Individualismus im System Spinozas von 1871 vergegenwärtigte.

Der Bewunderung für Hegel folgte eine jähe Krise, die tiefgehende Erschütterungen in der philosophischen Weltorientierung nach sich zog. Das ‘Sich – Selbst – Wissen des Logischen’ erschien dem jungen Doktor, je mehr er darüber nachsann, „als eine grinsende Leere“. Er suchte nach einem neuen Ankerpunkt und verstrickte sich immer tiefer in verschiedenste Zeittendenzen. In diesen frühen Jahren hielt sich Volkelt noch nicht, wie später, aus dem politischen Streit heraus, vom deutsch-nationalen Gedanken ebenso angezogen wie vom Sozialismus Lassalles. Diese verwirrte Suche nach Konkretion und Erfahrungssättigung irritierte den philosophischen Weg. Dabei machte sich auch Volkelts ungewöhnliche ästhetische Sensibilität, die Liebe zu Musik, Theater und bildender Kunst, geltend. In Wien, wo er während dieser Jahre lebte, lernte er nach eigenem Zeugnis das Sehen. Daneben zog ihn Eduard von Hartmanns Philosophie des Unbewußten in ihren Bann, der er in einer kritischen Auseinandersetzung 1873 noch mit Hegelschen Mitteln zu Leibe zu rücken versuchte, die ihn aber auf das Nicht-Rationale, den Abgrund und das ‘seelische Afrika’ (Jean Paul) des menschlichen Selbst verwies, ohne das seine spätere Erkenntnislehre nicht denkbar wäre. Die Schrift über die Traumphantasie (1875) tat erste tastende Schritte in diese Richtung. Zum Mentor wurde ihm in jenen Jahren Friedrich Theodor Vischer, ein Hegelianer, der, dichterischer Mensch mit kaustisch parodistischen Neigungen und zugleich Philosoph, zu einem wahlverwandten Meister für ihn wurde.

Das Vorhaben einer Wiener Habilitation scheiterte am Widerstand Franz Brentanos und Robert Zimmermanns; der spätere Nobelpreisträger Rudolf Eucken habilitierte Volkelt im Herbst 1876 in Jena, aufgrund einer Arbeit über den Symbol-Begriff in der neuesten Ästhetik. Es folgten drei Privatdozentenjahre, die eine verstärkte Zwiesprache mit Kant mit sich brachten, wobei sich Volkelt zu keinem Zeitpunkt dem herrschenden universitätsphilosophischen Neukantianismus unterwarf. Das Erkenntnisproblem meinte er radikaler als Kant ansetzen zu müssen und legte so den Keim zu seiner späteren Erkenntnisphilosophie. Er hatte dann fast ein Jahrzehnt lang eine Baseler Professur inne, auf die ein kurzes, doch folgenreiches Intermezzo in Würzburg folgte, während dessen sich Volkelt, seinen Neigungen ganz entsprechend, genötigt sah, seine Lehre auf das Feld der Ästhetik zu konzentrieren. 1894 erreichte ihn ein Ruf nach Leipzig, wo er bis kurz vor seinem Tod ohne Unterbrechung lehren sollte. Dem kritischen Geist und dem Weltreichtum der Leipziger Universität jener Jahre hat Volkelt es mit zugute gehalten, daß sein Werk Fülle der Anschauung und gedankliche Klärung erst im letzten Lebensdrittel erreichte. Dies gilt freilich nur für die Zeit nach 1910. Bis dahin war er durch ein zusätzliches Lehrdeputat in theoretischer Pädagogik am Fortgang eigener Fragen eher gehindert gewesen. Während der Würzburger und der Leipziger Jahre hielt er zur politischen Sphäre im engeren Sinn zwar Abstand, er sprach aber in Ästhetischen Zeitfragen (1895) mit und bezog klare Position gegen die enge Nachahmungstheorie des literarischen Naturalismus.

In zwei Sphären artikuliert sich Volkelts systematisches Philosophieren vor allem: in der Ästhetikund im Feld derErkenntniskritik, die sich ihm, anders als den kantianischen Zeitgenossen, zur Bewußtseinsphilosophie vertiefte.Erkenntnislehre ist für Volkelt also eine Grundwissenschaft der Philosophie, die von der Gewißheit zur Wahrheit führen soll. Nach der Markierung seines kantischen Ausgangspunktes in der UntersuchungImmanuel Kants Erkenntnistheorie in ihren Grundprinzipien analysiert (1879) legte er einen ersten Grundriß 1885 unter dem Titel Erfahrung und Denkenvor und kam erst spät nach langer Unterbrechung auf dieses Lebensthema zurück. Seine reife Ausgestaltung fand es in der SchriftGewißheit und Wahrheit, die 1918 zum siebzigsten Geburtstag des Verfassers erschien. Am Anfang allen Erkennens steht bei Volkelt, ähnlich wie bei Husserl, ein solipsistischer Akt. Das philosophische Denken, das nach Gewißheit fragt, beginnt monologisch. Nur unseres unmittelbaren Bewußtseins sind wir uns inne, keiner Gesetzmäßigkeit oder kategorialen Regelmäßigkeit. Doch derart unmittelbar mit uns vertraut sind wir nicht nur hinsichtlich des Ähnlichen der Vernunft, sondern auch bezogen auf ihr Anderes, das Nicht-Bewußte. Es ist im radikalen Unterschied zu Descartes’ und zu Husserls Grundgedanken eine Desorientierung zwischen beiden Sphären, keine erste Gewißheit, auf die der monologische Rückgang auf das Bewußtsein führt.

Von hier her artikuliert sich die Denknotwendigkeit als autonome Selbstgesetzgebung, die zu Gewißheit wird, insofern in jedem Gedanken Transsubjektivität, das „Minimum“ eines Ansinnens an einen anderen, mitgedacht sein muß. Im reifen erkenntniskritischen Hauptwerk wird die Stiftung des Zusammenhangs zwischen der Denkimmanenz und der Welt der Anderen, der Wertephilosophie der Zeit entsprechend, als ‘Gelten’ aufgefaßt: kein Gedanke könnte gedacht werden, ohne daß in ihm der A n s p r u c h einer Wahrheit für andere mitgesetzt würde, seine Geltungskraft. Volkelt bleibt gleichwohl lebenslang bei seiner Grundeinsicht, daß das Denken über den Schacht des Ichs nicht wirklich hinauskomme, daß aller denkende Weltbezug zuerst Selbstbezug ist.

Der höhere Rang der Spätfassung der Erkenntnislehre gegenüber ihrem ersten Entwurf resultiert daraus, daß sie sich nicht mehr dem Positivismus und Empirismus, sondern der Phänomenologie Husserls gegenüber zu artikulieren genötigt sieht. Die Zirkelhaftigkeit von Volkelts Erkenntnis-Denken, bei einer an allem Gegebenen radikal zweifelnden Selbstbesinnung einzusetzen und zu einer Gewißheit zu führen, die sich inne ist, daß „aller Denknotwenigkeit die Möglichkeit des Bezweifeltwerdens“ dauernd anhafte, ja anhaften müsse, führt ihn in seinen späten Jahren zu einer gebrochenen Teleologie des Erkenntnisaktes. Erinnerung, Meinung, die changierenden Übergänge zwischen Bewußtsein und Nicht-Bewußtsein werden als das „Implizit-Bewußte“ gedacht, ohne doch in ihrem kontingenten Wesen in Hegelscher Manier ‘übergriffen’ zu werden. „So erhält der Aufbau (…) des Bewußtseins eine bei weitem verwickeltere Gestalt“, notiert Volkelt aus der Rückschau und gibt zu verstehen, daß derart jedes Urteil und jeder Begriff als ‘Gebilde’ zu denken sei, das erst aus einem flüssigen Urgrund hervorgehen müsse. Bemerkenswert ist es auch, daß nun die Gewißheit des Du gleichfalls als intuitiv ursprünglich verstanden wird.

Dieästhetischen Studien Volkelts, der zweite große Schwerpunkt, haben früh zu ihrer Erfahrungsfülle, spät erst zu ihrem einenden Schlüssel gefunden. Die Zuwendung zur Kunst war keinesfalls eine Flucht aus der Zeit. Das zeigt sich schon daran, daß Volkelts Aufmerksamkeit, ähnlich wie die des jungen Nietzsche, zuerst dem Tragischen galt, der Gestalt-Werdung des zeitlichen Lebensdramas. Von Grillparzers Dichtungen her erschließt sich ihm das Phänomen des Tragischen zuerst und wird in vielfachen Verzweigungen vom attischen Drama bis zu Laube oder Gerhart Hauptmann entfaltet. Das System der Ästhetik (3 Bde., 1905-1914) folgt der Ästhetik des Tragischen(zuerst 1897). Es ist zweipolig gebaut, im Sinne einer Denkstruktur, die Volkelt dauerhaft von der HegelschenLogik übernahm und der zufolge alles Seiende zugleich alsdas ‘Andere seiner selbst’ zu verstehen ist. Einerseits ist die Ästhetik Einfühlungsästhetik: der Gehalt soll in der Form namhaft gemacht werden, andererseits betont Volkelt den Scheincharakter der Kunst. Sie ist im letzten reine Form „frei in sich schwebend“ und in sich scheinend. Im polaren Ineinanderspiel beider Seiten erst wird ein Kunstwerk bedeutungsvoll. Indes bleibt es nicht bei der Forderung. Philosophische Ästhetik ist bei Volkelt zu allererst Ekphrasis und Interpretation. Was die Hellhörigkeit für das schwierige Verhältnis von Kunst und Gedanke angeht, eine Thematik, die die Philosophie des 20. Jahrhunderts in ihren unterschiedlichsten Stilen und Ausprägungen bewegen sollte, kommt Volkelt unter den Zeitgenossen nur einer gleich: Dilthey. Ein Erbe Vischers ist es dagegen, daß auch den nicht mehr schönen und nicht erhabenen Künsten, wie im Vorgriff auf die Moderne des 20. Jahrhunderts, in der Ästhetik ein zentrales Gewicht zuerkannt wird: den Formen von Komik und Humor. Volkelts Kanon ist sehr eigener Art, er bewegt sich am Rande der Bürgerkultur. So sind es vor allem die beiden Meister von Bayreuth, Richard Wagner und Jean Paul, in deren Sphäre sich Volkelts ästhetische Erfahrung abspielt.

Der innere Schlüssel zu dem Phänomenreichtum der Welt der Kunst war hingegen erst gefunden, als der weit über siebzigjährige Volkelt wie die Grundfragen der Erkenntnis so auch das Feld der Ästhetik auf die Bewußtseinsproblematik zurückführte. Dies geschah in seiner zu Recht heute wieder entdeckten späten Schrift Das ästhetische Bewußtsein. Prinzipienfragen der Ästhetikvon 1920. Charakteristisch am ästhetischen Bewußtsein – des schaffenden Künstlers wie in anderer Weise auch des Betrachters – ist danach die Entzentrierung von der Ich-Perspektive, der exzentrisch ekstatische Zug, den ähnlich schon Schelling hervorgehoben hatte. Dieses Phänomen ist vollständig freilich erst erfaßt, wenn auch wahrgenommen wird, wie das ‘Ich’ heimlich im Kunstwerk mitschwingt und sich in ihm bezeugt. Ohne sich dessen inne zu sein, stößt Volkelt durch seine einschlägigen Analysen auf eigenen Wegen auf eine Grundintention romantischer Kunstauffassung: auf die Koinzidenz höchster Reflektiertheit mit einer ‘Grundnaivität’.

Nicht nur durch die eindringende Frage nach dem Bewußtsein sind Erkenntnislehre und Ästhetik bei Volkelt aufeinander bezogen. Sie sind es auch durch eine in den späten Jahren sich vertiefende Suche nach der Möglichkeit von Metaphysik, danach, wie in veränderten Zeitläufen das Wahre noch das Ganze und das Eine sein könne. Volkelt ist sich bewußt, daß Metaphysik nurmehr in Stücken geboten werden kann. Es können nur „Hauptrichtungen“ angezeigt werden, in denen unser Denken immer schon auf das Absolute orientiert ist. Solche transzendenten Ideen sind aber, so markiert Volkelt den unaufhebbaren Abstand zu Hegel, „logisch undurchdringlich“ – und gerade insofern uns immer schon vorgängig. Das auch das Bewußtsein transzendierende Eine bleibt Sehnsucht allen Denkens, auch wenn sich das Absolute nur als Selbst- und Weltbewußtsein überhaupt denken läßt. Dies bedeutet, daß das Böse – überwunden – im „innersten Kern des Seins, in dem Absoluten selbst“ gegenwärtig bleibt. Auch der eine Grund ist also zuinnerst tragisch. Solche Gedanken sind nicht nur näher bei Schelling als bei Hegel, sie lassen auch erst verstehen, daß, wie Volkelt einmal anmerkte, Nietzsches Frühphilosophie wie kaum ein anderes Denken „erregend und aufwühlend“ auf ihn gewirkt hat. Seine geglückte Schopenhauer-Arbeit (Arthur Schopenhauer. Seine Persönlichkeit, seine Lehre, sein Glaube, 1900) scheint er selbst als Vorstudie für einen ähnlichen Versuch über Nietzsche verstanden zu haben, zu dem es aber nie kam. Immerhin meinte Volkelt, im Alter glücklich durch Nietzsche hindurchgegangen zu sein.

Johannes Volkelt wirkte als akademischer Lehrer in über einhundert Semestern nachhaltig auf einen großen Schülerkreis. Gegen die eigene Zeit und für sie vergegenwärtigte er Kants, Fichtes und Hegels Denkart. Doch nicht nur als bescheidener, gütiger und feinfühlender Sachwalter großer deutscher Philosophie im Zeitalter der Epigonen ist er in den Lebensberichten der Zeitgenossen gegenwärtig. Er erschien den Seinen geradezu als Weiser, der das asketische, entsagungsvolle Arbeitsethos des Wissenschaftsbegriffs von Max Weber mit der eigenständigen philosophischen Denkarbeit verband. Seine späten Jahre waren umdunkelt von der Ahnung einer ‘Proletarisierung’ des Geisteslebens, einer Parteibindung, die die Freiheit des Gedankens lähmen müsse. Auch litt er an der geringen Rezeption zentraler Schriften, über die enge Fachwelt hinaus, zumal seiner ‘Aesthetica’. An dieser Misere hat sich bislang wenig geändert. Indes hat Volkelts Denken in sachlicher Hinsicht nicht nur eine Gegenwart, es hat auch eine Zukunft. In geistesgeschichtlichem Betracht ist hier ein ganz eigener Denkweg zwischen Kant und Hegel zu erkennen, der auf ähnlich hohem Rang wie der der Zeitgenossen Dilthey und Husserl steht, ohne doch von ihnen abzuhängen. Daneben ist Volkelt ein Denker der Brückenschläge: er verbindet Spekulation und Beschreibung, Bewußtseins- und Weltdenken, und nicht zuletzt Anschauung und Begriff, die bis heute unter dem Diktat des transzendentalen Scheins in sehr unterschiedlichen Denkschulen, auseinandergerissen zu werden pflegen.

Lit.: Ein vollständiges Verzeichnis der Schriften Volkelts bis zu seinem siebzigsten Lebensjahr, neben den im Text genannten Arbeiten, finden sich in: Festschrift für Johannes Volkelt zum 70. Geburtstag. München 1918, S. 417ff. – Johannes Volkelt: Mein philosophischer Entwicklungsgang, in: R. Schmidt (Hg.), Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Leipzig 1921, S. 201 ff. – Derselbe: Systematische Selbstdarstellung, in: H. Schwarz (Hg.): Deutsche systematische Philosophie nach ihren Gestaltern. Band 1, Berlin 1933, S. 1 ff. – Felix Krueger: Nekrolog auf Johannes Volkelt. Leipzig 1930 (Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philolog. – hist. Klasse, 82. Band 1930, 1. Heft). – Friedrich Lispius: Johannes Volkelt. Zu seinem 70. Geburtstag am 21. Juli 1918. Berlin 1918. – Thomas Neumann: Gewißheit und Skepsis. Untersuchungen zur Philosophie Johannes Volkelts. Amsterdam 1978 (Reihe Elementa, Band IX).

Bild: Aus Raymund Schmidt (Hg.), Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, S. 200.

 

    Harald Seubert