Biographie

Wander, Karl Friedrich Wilhelm

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Pädagoge, Schriftsteller
* 27. Dezember 1803 in Fischbach, Kr. Hirschberg/Schlesien
† 4. Juni 1879 in Quirl/Hirschberg

Während der Beitrag der sprichwörtlichen „666 Dichter“ Schlesiens zur deutschen Literatur wohl ausreichend erforscht worden ist, läßt sich das vom Beitrag dieser preußischen Provinz zur deutschen Pädagogik ganz und gar nicht behaupten. Daß allerdings ein Pädagoge eine Ausnahme bildet, ist fast allein dem Kulturministerium der ehemaligen sog. DDR zu verdanken. Sie stiftete nämlich eine Karl-Friedrich-Wilhelm-Wander-Medaille für „Pädagogen, die sich um das Werden der wahren Schule des Volkes verdient gemacht haben“. In der Begründung für diese Medaille hieß es: „Sein Erbe ist und bleibt uns lebendig. Es ist Aufruf und Vorbild, die echte Schule des Volkes zu vollenden. Erst im Ergebnis der demokratischen Schulreform von 1946 wurden Wanders fortschrittliche Ideen in der demokratischen Einheitsschule der Deutschen Demokratischen Republik verwirklicht, aus der dann die sozialistische Schule erwachsen konnte.“

Wenn also führende DDR-Pädagogen diesen schlesischen Volksschullehrer „vor ihren Karren spannten“, mußte er ein Zeitgenosse von Marx und Engels, wohl ein Kommunist oder zumindest ein strenger Sozialist gewesen sein. Doch kann man ihn weder als den einen noch als den anderen bezeichnen. Er war ein Kämpfer gegen jeglichen pädagogischen Dirigismus und gegen jegliche politische Unterdrückung. Wäre er in der DDR Lehrer gewesen, hätte er sich gewiß auch gegen die SED-Diktatur aufgelehnt, so wie er hundert Jahre früher unter großen persönlichen Nachteilen gegen die kasernenartige Ausbildung und die Unterdrückung fortschrittlicher Pädagogen durch die weltfremden preußischen Regularien protestiert hatte.

Karl Friedrich Wilhelm Wander wurde am 27. Dezember 1803 als Sohn eines armen Schneiders in dem kleinen Dorf Fischbach bei Hirschberg im Riesengebirge geboren. Von Ostern 1822 bis Ostern 1824 besuchte er das evangelische Lehrerseminar in Bunzlau, das damals zu den führenden preußischen Lehranstalten zählte. Doch die einseitige und allzu fromme Ausbildung stieß ihn ab, so daß er später schreiben konnte, ihn habe „das pietistische Bunzlau zum Rationalisten gemacht“. Seine erste Anstellung erhielt der junge Lehrer in dem unweit gelegenen Gießmannsdorf. Schon 1827 wurde er an die evangelische Stadtschule in Hirschberg, der Kreisstadt des Riesengebirges, versetzt, wo er bis 1849 lebte. Hier fand er Zeit für schriftstellerische Arbeiten. Seine erste Veröffentlichung, die den Deutschunterricht der Pädagogen erleichtern sollte, hatte folgenden langen Titel: „Der Satz in seiner Allseitigkeit. Ein Lesebuch und eine Sprachlehre in notwendiger und zweckmäßiger Verbindung für die mittleren und oberen Klassen der Elementarschulen mit beinahe 1000 sprachlichen Aufgaben und einem Anhang deutscher Musteraufsätze in gebundener und ungebundener Rede“ (Hirschberg 1829). Schon zwei Jahre später folgte eine „Vollständige Übungsschule der deutschen Rechtschreibung für Volksschulen in Lehre und Anwendung“. Wanders Lehrbücher unterschieden sich von gleichartigen dadurch, daß er seine Beispielsätze nicht selber konstruierte, sondern sie den Klassikern entnahm. Auf diese Weise wurden die Schüler gleichzeitig mit brauchbaren, inhaltsreichen Zitaten aus der deutschen Literatur bekannt.

Unerschöpflich schien Wanders Arbeitskraft schon jetzt. Hätte er sich lediglich seinem Beruf und der Schriftstellerei hingegeben, dürfte er mit seiner 1828 geheirateten Frau und seinen drei Söhnen bis zu seinem Tod ein ziemlich ruhiges Leben geführt haben. Aber seitdem er in seinem Reformstreben nicht nur die pietistische Lehrerausbildung, die unzureichenden Lehrbücher und veralteten Unterrichtsmethoden, sondern auch soziale Mißstände zu kritisieren wagte, kam Unruhe in sein Leben. An der Spitze seiner Verbesserungsvorschläge stand die Forderung nach einer von der Kirche unabhängigen Staatsschule, was nichts anderes heißen sollte als die Abschaffung der geistlichen Schulaufsicht. Kein Wunder, daß er deswegen immer wieder von seinen Vorgesetzten verwarnt wurde. Als sein Berliner Gesinnungsfreund Adolf Diesterweg wegen seiner ähnlich fortschrittlichen Ideen in den Jahren 1841/1842 angegriffen wurde, verfaßte Wander unter dem Titel „Der geschmähte Diester­weg“ eine Verteidigungsschrift, die ihn einerseits über Schlesien hinaus bekannt machte, andererseits ihm aber auch ein sich über zwei Jahre hinziehendes Disziplinarverfahren mit einer Ordnungsstrafe von 25 Talern einbrachte. Auch als nach dem Aufstand der schlesischen Weber im Frühjahr 1844 „umstürzlerische Umtriebe“ von der preußischen Polizei noch stärker überwacht wurden, ließ Wander von seiner Kritik nicht ab, was schließlich im März 1845 zu seiner (ersten) Suspension führte, die jedoch nach einem Freispruch des Hirschberger Landgerichtes aufgehoben werden mußte.

Als drei Jahre später die von Wander verständlicherweise mit großer Freude begrüßte Revolution ausbrach, erließ er einen „Aufruf an Deutschlands Lehrer“, in dem er zur Gründung eines „Allgemeinen Deutschen Lehrervereins“ aufrief. Schon im Herbst 1848 kamen etwa 300 Universitätsprofessoren, Gymnasial- und Volksschullehrer in Eisenach zusammen, um eine solche Organisation zu gründen, die jedoch kaum ein Jahr später im Zuge der „Gegenrevolution“ aufgelöst wurde. Der Sieg der Reaktion zwang so manchen Achtundvierziger in die äußere oder innere Emigration, doch Wander blieb seinen liberalen Gedanken und seiner Heimat nach wie vor treu.

Indessen warteten der Regierungspräsident von Liegnitz und der Landrat von Hirschberg nur auf einen Grund, um auch den „widerspenstigen“ Schullehrer endgültig ausschalten zu können, und sie fanden einen solchen bald. Auf einem Schulfest brachte Wander sein Hoch aus auf „das glückliche Vaterland der Zukunft, in dem die Wahrheit frei und die Freiheit wahr sein“ würde. Daraufhin wurde er am am 21. September 1849 endgültig suspendiert. Sicherlich nicht nur auf Rat seines Arztes ging Wander im August 1850 nach Amerika, ähnlich enttäuscht wie Carl Schurz und so mancher andere verfolgte Achtundvierziger. Als er nach einem Jahr zurückkehrte, hatte das Interesse der Polizei an ihm längst nicht nachgelassen. Die Behörden verweigerten dem suspendierten Lehrer überall das Niederlassungsrecht. Wegen des erlittenen Unrechts richtete Wander mehrere Petitionen an das Preußische Abgeordnetenhaus. Bei der Erörterung einer solchen bezeichnete Landrat Hugo v. Grävenitz, der inzwischen zum konservativen Abgeordneten für Hirschberg gewählt worden war, den Lehrer als einen Mann, der „seit Jahren unermessliches Leid über das Hirschberger Tal gebracht“ habe. Mutig verteidigte daraufhin am 11. Februar 1859 der liberale Abgeordnete Adolf Diesterweg seinen alten Gesinnungsfreund, den er als „einen ehrenwerten Mann in jeder Beziehung“ bezeichnete. Die glänzend aufgebaute Philippika, die großes Aufsehen erregte und Wander in ganz Preußen bekannt machte, bewirkte immerhin, daß der suspendierte Lehrer sich in Hermsdorf, Kreis Hirschberg, niederlassen und einen Krämerladen eröffnen konnte, der ihm und seiner Frau den Lebensunterhalt sicherte.

Nun hatte der ehemalige Hirschberger Lehrer genügend Zeit, um sich seinem liebsten Forschungsgebiet widmen zu können, nämlich den Sprichwörtern. Bereits im Jahre 1831 hatte er unter dem merkwürdigen Titel „Scheidemünze“ „ein Taschenbuch für jedermann oder: 5000 neue deutsche Sprichwörter“ veröffentlicht. Mit Bienenfleiß trug er rund 25.000 Sprichwörter und sprichwörtliche Redewendungen zusammen. Der erste Band erschien 1867, der zweite 1870, der dritte 1873 und der vierte 1876. Der fünfte kam erst nach seinem Tode heraus, der ihn am 4. Juni 1879 in Quirl ereilte, in einem kleinen Dorf bei Hirschberg, wohin er sich nach dem Tod seiner Frau zurückgezogen hatte. Dieser letzte Band enthält auch eine Autobiographie, die Wander auf Wunsch Diesterwegs für dessen Reihe „Das pädagogische Deutschland der Gegenwart“ (1835-1836) verfaßt hatte.

Mit seinem fünfbändigen Sprichwörterlexikon hat der suspendierte Volksschullehrer aus dem landschaftlich herrlichen Hirschberger Tal einen unübersehbaren Beitrag sowohl zur Volks­kunde als auch zur Literatur geleistet. Die Philippika Adolf Diesterwegs im Preußischen Abgeordnetenhaus hat dafür gesorgt, daß er zudem in die Geschichte der Pädagogik eingegangen ist. Viertens hat Karl Friedrich Wilhelm Wander ebenfalls einen Beitrag zur Politik, zur politischen Geschichte, geleistet. Mit seinem Reformeifer ist er, den Heinrich von Treitschke „einen der frechsten Radikalen“ nannte, in die Reihe der schlesischen Impulsgeber und „Innovatoren“ Wilhelm Wolff, Johannes Ronge, Ferdinand Lassalle, Lina Morgenstern und Emma Ihrer würdig einzuordnen.

Lit.: Helmut Neubach: Karl Friedrich Wilhelm Wander, in: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 16 (1971), S. 324-340. – Kurt Speth: Der rote Wander, in: Schlesien 24 (1979), S. 219-226 (mit 3 Fotos).

Helmut Neubach