Johann Warkentin ist auf der Krim in einem deutschsprachigen Umfeld geboren, sprach von Kindesbeinen an Deutsch, genoß deutschsprachigen Unterricht und studierte ab 1937 Anglistik an der Universität Leningrad, heute St. Petersburg. 1938 wurde Johann Warkentins Vater verhaftet und blieb seitdem verschollen. Da tröstete auch die posthume Rehabilitierung 1956 nur wenig. Noch 1941 durfte Warkentin bei der Marine im belagerten Leningrad dolmetschen, bis er dann von 1942 bis 1946 Zwangsarbeit in der ostsibirischen Taiga verrichten mußte. 1948 schloß er sein unterbrochenes Sprachstudium ab, war darauf Sprachlehrer im Altai, dann bis 1969 Hochschuldozent in Alma-Ata und Ufa, um dann bis 1980, bis zu seiner Pensionierung, die Literaturabteilung der unionsweitendeutschsprachigen WochenzeitungNeues Leben in Moskau zu leiten.
Ein Jahr danach übersiedelte Warkentin nach Ostberlin. 1990 begann seine jüngste Phase, die gesamtdeutsche, deren reifstes Werk die Rußlanddeutschen Berlin-Sonette sind. Obwohl inzwischen 70jährig, setzte sich Johann Warkentin nunmehr maßgeblich für die rußlanddeutsche Literatur ein. Im vereinten Deutschland zeichnet er als Mitherausgeber von Literaturalmanachen und Literaturbriefen, nimmt an Arbeitskreisen und Konferenzen teil, schreibt Rezensionen und Glossen. Schon in der Sowjetunion hatte Johann Warkentin, seit 1963 Mitglied des Schriftstellerverbandes, zusammen mit Viktor Klein eine kurzgefaßte Darstellung der sowjetdeutschen Literatur im Lehr- und Lesebuch für die 7. und 8. Klasse der Schulen mit muttersprachlichem Deutschunterricht (4., verbesserte und erweiterte Auflage, Moskau 1971, S. 155-314) erarbeitet. In seinem Buch Rußlanddeutsche – Woher? Wohin? (Reclam Verlag, 1986), auf das er auch Bezug nimmt in seinem Beitrag „Notizen zur Sowjetdeutschen Literatur“ (erschienen in der AnthologieIns Gestern tauche ich ein, Schriftenreihe der Künstlergilde Esslingen, Bd. 29, Esslingen 1990), umreißt er die Entwicklung der rußlanddeutschen Entwicklung von 1917 bis zur Perestrojka 1985-1990. Bemüht um Differenzierung, versucht er einen Brückenschlag von der stark von klassischen und romantischen Vorbildern geprägten Dichtung der 20er und 30er Jahre mit ihrer zeittypischen Akklamations- und Optimismusobligatorik über die Jahre des Schweigens in der Verbannung, die faktisch bis 1964 anhielt, bis zur Rehabilitierung, bis hin zur Perestrojka.
Auch Warkentins lyrische Texte sind Versuche eines Brückenschlages. Dabei kam ihm zugute, daß er in der Sowjetunion zu den bekanntesten deutschsprachigen Autoren gehörte und in keiner wichtigen deutschsprachigen Anthologie fehlen durfte. Seine Mitgliedschaft im Schriftstellerverband war eben nicht nur eine „hohe“ Ehre, sondern auch eine harte Notwendigkeit, um professionell arbeiten zu können. Sein 1962 in Alma Ata vollendetes Poem „Du, eine Sowjetdeutsche“ ebnete ihm den Weg in diesen Kreis der „Auserwählten“. Es ist Warkentins Tribut an die Akklamationsliteratur, die Heldenlobpreisung des Großen Vaterländischen Krieges. Er schildert emphatisch das Schicksal einer rußlanddeutschen Frau, das in Kasachstan dann letztlich doch ein glückliches Ende nimmt. Gegen Ende heißt es: „Nun bist in Kasachstan zu heimisch. / sieh einer deine Kleinen an / Fragt man sie nach der Heimat, dann / klingt’s stolz: Wir sind aus Kasachstan! / Ein Stolz, dem sich kein Seufzer beimischt!“
Noch 1980 in seinem AuswahlbandGesammeltes, Verse und Nachdichtung, im Moskauer Verlag Progress erschienen, ist dies nachzulesen. Schon im Jahr zuvor veröffentlichte Robert Weber in der AnthologieLichter in den Fenstern, einem sowjetdeutschen Literaturalmanach, ebenfalls im Progressverlag erschienen, das schon viel kritischere Siegesgedicht „Monument in Wolgograd“. Warkentin weist hier bei aller Lobpreisung auch auf die ungerechte Behandlung der Rußlanddeutschen hin: „Hart ist dein Blick, hart der Befehle Schroffheit. / Doch traf er schuldlos deiner Söhne einen.“
Auch Warkentins Verherrlichung der Natur „der Sowjetheimat“ wird in dieser Auswahl hintergründig differenziert, sogar bis zur bissigen Satire ausgeweitet. In „Meer und Mensch“ wird die majestätische Gewalt des Meeres den spießigen Menschen gegenübergestellt – den Sowjetmenschen, den „neuen Menschen“ – „… verfettet, faul und nackt – / die sich selbst auserlesen zur Kröne der Schöpfungsakts.“ Dagegen sind die von Rudolf Jacquemien [über diesen siehe OGT 1998, S. 81-85] in das StandardwerkSowjetdeutsche Anthologie (2. Bd.) aufgenommenen Gedichte doch wieder sehr herkömmlich, sozialistisch realistischer Machart verpflichtet. „Lebe nicht für dich allein“ wie auch „Lob der Frau“ verherrlichen die Priorität der Gemeinschaft, des Kollektivs, und die beiden Naturgedichte „Issyk“ und „Ninsara“ huldigen desgleichen unverbindlich oberflächlich der kasachischen Natur.
Warkentins bisher wohl reifste Leistung sollte ihm nach der Übersiedlung nach Deutschland, und hier wiederum nach der Wiedervereinigung, in seinen Rußlanddeutschen Berlin-Sonetten (Stuttgart 1996) gelingen. In der Form des Sonetts – das er gar nicht einmal so streng auffaßt, mal italienisch, mal englisch, mal sogar mit freieren Versen – versucht er von der Warte des Alters – mitunter sogar mit der „gefährlichen Heiterkeit (mitunter sogar zynischen) der Greise“ – eine Bilanz seiner Lebenserfahrungen zu ziehen.
Der Leser muß aber nicht durchgängig Grabesstimmung befürchten, denn trotz seiner fast 80 Jahre ist Warkentin in den meisten seiner Sonette noch äußerst lebendig, disputierfreudig, ein grauer Panther, der es noch bestens versteht, mit seiner Pranke empfindlich zuzupacken.
In dem Sonett „Wirrköpfe“ bringt er seine Ablehnung der Aufrechnung der Verbrechen des Nationalsozialismus mit denen des Stalinismus auf den Begriff: „Kein Wundertäter hat es je vermocht, / mit Beelzebub den Teufel auszutreiben.“ Allerdings wird der Stalinismus auch gebraucht, um nicht das Gute an sich selbst messen zu müssen, sondern um einfach aus dem Kontrast heraus besser dazustehen. „Tja ohne Laster wirkt dir Tugend bleich“, heißt es bezeichnenderweise in dem Sonett „Zur Relativitätstheorie“. Dem Ausverkauf der „Kremlfürsten“, von ihm „Matrjoschka-Puppen“ genannt, hält er die Bitte entgegen: „Schön wäre es, wenn aus der dunklen Zeit als Erbe ein Stückchen Freundschaft unverkäuflich wäre!“
Im zweiten Kapitel „Deutsch, Deutsche Befindlichkeiten“ verkündet Johann Warkentin belehrend den Zweck dieses Sonettenzyklus, der DDR weder nostalgisch nachzutrauern noch sie propagandistisch als reine Stasiagentur auszuschlachten, sondern sie nüchtern auf ihre Absichten und deren Ergebnisse hin zu untersuchen, um ihr Scheitern komplex erfassen zu können. Schon Warkentins Erklärung des neuzeitlichen Begriffs „abwickeln“ als „rätselhafte Facette vom „Aufschwung Ost“ zeigt jedoch, wie das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werden kann: „Wer sich am Langhaar zieht (pah, wie ein Mädel!) / hat seine helle Freude an den Schädeln: / die sind jetzt überwiegend ratzekahl…“ Statt der verbotenen Hippies, nun die „erlaubten“ Skinheads!
Statt der Erfahrung Europas als Wertegemeinschaft setze sich oft der westliche Materialismus durch, ohne Rücksicht auf Land und Leute, der Brüder und Schwestern im Osten. In dem Sonett „So viele rote Socken?“ stellt Warkentin fest: „da gab es Leselust – und sei es aus Frust, / manch sozialen Schutz – und sei’s gemußt! – / und Straßensicherheit in Land und Stadt. / – die Wende zeitigte ein Wertestorno. / Wer heut’ noch liest, liest Porno statt Adorno.“ Statt mehr Mut zur Demokratie und zu mehr Bürgerrechten zu beweisen – Adorno steht für diese Anliegen der Studentenrevolte von 1968 –, werde nun der Devise „Sex sells“ (Sex verkauft sich) gefolgt. Das schmerzt Warkentin um so mehr, als er auch aus einem Rußlanddeutschen mennonitischen Umfeld kommt, in dem Ehe, Familie und Glaubenssolidarität besonders hoch gehalten wurden.
In „Spielregeln“ erläutert Warkentin, daß die DDR trotz allem Staatsdirigismus eine „kleine“ Meckerfreiheit hatte: „Schimpf den Hallenleiter, die KWV, den Chefarzt und so weiter“. Wenn bestimmte – allen bekannte – ideologische Fallen vermieden werden konnten, gab’s die „Maulkorbredefreiheit“, während nun, nach der Wende, es die uneingeschränkte Redefreiheit auch nicht so ohne weiteres gebe. „Du darfst [den] Kanzler schimpfen und sein ganzes/Gespann, das sich in Kráhwinkel verschanzt hat. / (hilft nichts, ist aber gut fürs Wertgefühl!)“. Am Arbeitsplatz kann es da schon ganz anders aussehen: „Denn Boss ist Boss, und er bestimmt das Spiel.“ Hier steht der angeblich weltfremde – oder zumindest westfremde – Rußlanddeutsche Warkentin seinem bundesdeutschen Kollegen in der Forderung nach mehr Transparenz und Mitbestimmung am Arbeitsplatz in nichts nach.
Im dritten Teil, „Wir Berliner sind die größten“, rechnet Warkentin wortgewaltig mit den Berufsvergessern und Berufswehklagern ab etwa im Sonett „Berufene – solche und solche“, indem er ihnen auch das so gern verdrängte Schicksal der Rußlanddeutschen vor Augen hält: „wir tausend Meilen weg von jenen Bränden, / die Hitler angefacht, blieben verklagt, / als Brandstifter geächtet, bis die Wende / uns aus Sibirien hat hergebracht.“ Daran schließt sich das Kapitel „Jenseits des Urals“ an, in dem Johann Warkentin die besonders schweren Bedingungen veranschaulicht, unter denen die Rußlanddeutschen für die Wiederherstellung ihrer Staatlichkeit sich engagierten. Einige Schönredner fahren nicht mit nach Moskau, um die Autonomie zu fordern. Die reden sich groteskerweise auf die Rettung der rußlanddeutschen Kultur heraus, die gerade ohne territoriale Selbstverwaltung verlorengeht: „Kann nicht mit, muß im Altai / Schwänke sammeln und derlei!“ (im Sonett „Tribun“). Im Sonett „Professorale Sorgen“ entlarvt er gleichermaßen: „Drauf er: Oh ja, es eilt! Ich muß sofort / auf Tonband nehmen unser Deutsch vor Ort / eh meine Ablautreihen ganz verschwinden.“ Doch auch die um die Wiederherstellung der Staatlichkeit Bemühten sind untereinander zerstritten, so daß Warkentin in dem Sonett „Sind es die Gene?“ fragt: „Wir aber schleppen unsere Querelen / zurück und lassen sie hier weiterschwelen. / So sind wir Deutschen nämlich programmiert.“
Statt einer Anerkennung der Komplexität und der Differenziertheit der Dinge findet Warkentin im fünften Kapitel („Diesseits der Oder“) in Deutschland wie in Rußland bzw. der Sowjetunion Schlagworte und Sprachfloskeln und vor allem ein Abstreiten jeder persönlichen Verantwortung. Richtig gelesen ist das Sonett „Schiefe Dialektik“ die langersehnte emanzipatorische Aufklärung über die Notwendigkeit einer individuellen Schicksalbetrachtung: „Na klar wird nach der Ankunft übertrieben, / wird jede Schweinerei, was es auch sei / (Schikane, Nachbarsneid – ganz einerlei) dem Regiment im Kreml zugeschrieben.“ Die Gefahr für diese schrecklichen Vereinfacher folgt auf dem Fuß: „Wenn ich für all’ und jeden Willkürakt / der mir dort widerfuhr, den Staat verklag’, / weil ihr das Unrecht achtlos habt geduldet, / – dann glaub! Ich bald, daß Vater Staat auch hier / an allem, was im Alltag mir passiert / egal, ob Neid oder Schikane, Schuld ist.“ Im übrigen ist manchmal ein schwerer Anfang auch die Chance eines totalen „Neubeginns“, wie es Warkentin sieht in dem Sonett „Der Mensch lebt nicht von Wertgefühl allein“; „Am Nullpunkt sei dir nicht zu schad fürs Lernen / mein Freund, und packt den Stier fest bei den Hörnern!“
Doch welche Möglichkeiten haben die Rußlanddeutschen im Lande der Ahnen? In Warkentins Sonett „Der eine fährt Mist / der andere spazieren“ heißt es: „In Talkshows, Konferenzen, Tafelrunden / Hofiert als Rußlandkenner, Kremlkundler, / so wort- und weltgewandt, sind sie ganz groß / – wir mit dem eingebleuten Rußlandwissen, / unserem Sibiriendeutsch / mit dem beschissenen, / Wir Hinterwäldler sind da chancenlos.“ Oder auch nicht! Denn Johann Warkentin weist im Sonett „Der Idealfall wäre Zwitter“ auf eine gesamteuropäische Möglichkeit: „Schön wäre es, beider Sprachen vollen Klang / zu hegen und zu pflegen lebenslang! / doch gibt’s normalerweise keine Zwitter.“ Dafür aber Brückenbauer, die beide Ufer, beide Sprachen kennen, wie Johann Warkentin. Damit ist er der doch nicht so seltene Fall eines Ostintellektuellen, der zweisprachig, wenn nicht sogar mehrsprachig ist, wie die Westintellektuellen.
Das Kapitel „Erkenne dich selbst“ trägt einige Züge der resignierten Weisheit des Alters, besonders im Sonett „Denn sie wissen nicht, was sie tun“, wo er gegen die Sprachverhunzung ankämpft und bekennt: „Sie war mein Stolz, mein Leid, mein Traum, mein Trauma, / (Marotte, Grille, Fimmel, klingt banal, / vulgär klingt: Vogel, Zicke, Macke, Knall / und stimmt trotzdem!) – sie war mein Seelentaumel, / die deutsche Muttersprache, als wir kaum noch / ein wenig Luft bekamen, denn brutal / hielt Stalin seinen tabakgelben Daumen an unsere Kehle damals festgekrallt…/ Der Überschwang hat sich gelegt, geblieben / ist eine alltagresistente Liebe, / die sich genügt, sich selber Lohn und Preis ist.“ So findet er im Lande der Ahnen die Erfüllung seiner alten Liebe, und wie der Titel des Sonetts „Heimkehr des verlorenen Sohnes“ schon andeutet, hadert er nicht mehr mit seinem Schicksal.
„Das Land der Väter, das uns Weitversprengten / die Muttersprache gütig wieder schenkt / und Sohnesrecht – sollte ich – nicht lieben?!“
Wieder ein Happy End am Ende einer seiner großen lyrischen Werke?! Ja, aber diesmal nicht überschwenglich, hymnisch, pflichtoptimistisch wie in Kasachstan, sondern nachdenklich, wehmütig in der neuen alten Heimat Deutschland.