Biographie

Weber, Robert

Herkunft: Rußland (Wolga- u. Schwarzmeer)
Beruf: Dichter
* 1. Januar 1938 in Pawlow-Posad, Gebiet Moskau

Robert Weber kam als Kind während des Krieges hinter den Ural in die Altai-Region. Die Jugend verbrachte er in Karabanowo im Gebiet Wladimir, wo er die Mittelschule abschloss und dann ein Jahr lang als Elektriker arbeitete. Das anschließende Studium an der 1. Moskauer Medizinischen Hochschule gab er nach drei Jahren auf. Nach einem neuerlichen Intermezzo als Arbeiter in einem Industriewerk in Tscheljabinsk im östlichen Ural konnte Weber von 1961 bis 1966 erneut ein Studium in Moskau, das der Anglistik und Germanistik an der Maurice-Thorez-Hochschule, absolvieren, und diesmal beendete er es mit einem Abschluss. Als Fremdsprachenlehrer arbeitend galt er mit seinen Gedichten als der „modernste“ unter den russlanddeutschen Poeten und als eine der letzten Hoffnungen der nicht ausgewanderten russlanddeutschen Literatur – neben Hugo Wormsbecher, seinem gleichaltrigen Moskauer Schriftstellerkollegen, und Herold Belger, seinem um vier Jahre älteren Kollegen aus Alma-Ata. Im Jahre 2000 jedoch wanderte auch Robert Weber aus, und er hat nach einer langen Schreibkrise erst 2007 wieder zu veröffentlichen begonnen. Heute lebt er als freier Schriftsteller und Übersetzer in Augsburg.

Ein lyrischer Klang schwingt immer mit bei Robert Weber, so auch in Reise in die Erinnerungvon 1994, erschienen in der AnthologieWo bist du Vater?im Raduga Verlag Moskau. Hier wird dem Leser eine fast repräsentative russlanddeutsche Kriegskindheit vor Augen geführt. Der Protagonist – ein Alter Ego Webers – unternimmt als Sonderkorrespondent seiner Zeitung eine Dienstfahrt in eine entfernte Sowchose. Unterwegs kommt er an den Stationen vorbei, die er als Kind mit seiner Mutter und seinen Geschwistern zurückgelegt hatte, um den Vater abzuholen, der 1946 aus der Zwangsarbeit aus Kotlas an der nördlichen Dwina im hohen Norden nach Westsibirien zu seiner deportierten Familie entlassen worden war. Die sonst in der russlanddeutschen Literatur so beliebte lineare Erzählweise verlassend gelingt es Weber, Erinnerungsverschränkungen zu gestalten, die die Zeitebenen zum Teil aufheben. Durch das Einfügen lyrischer Texte – seien es Gedichte von Welemir Chlebnikow, die vorgelesen werden (ohne dass sie der Hauptheld wegen ihrer Modernität richtig versteht) oder eigene Gedichte – enthält dieser Text stellenweise eine schwebende Leichtigkeit, die ihn zur lyrischen Prosa werden lässt.

In dieser Einnerungscollage taucht im Verbannungsdorf der immer gut gelaunte Landstreicher Mitroschka auf, ein Dorflehrer, der entlassen wurde, weil er den Kindern aus dem Evangelium vorgelesen hatte. Nachdem Mitroschka sich als Verladearbeiter bei der Eisenbahn dem Trunk ergeben hatte, war er sogar eine Zeitlang in einer Irrenanstalt eingesperrt worden. Auch nach der Entlassung hielt man ihn für einen „stillen Wahnsinnnigen“.

Am eindringlichsten schildert Robert Weber die naive Unbekümmertheit der Kinder, die auch unter den äußerst schwierigen Bedingungen der Kriegszeit ihre Beobachtungsgabe bewahren, ja vielleicht sogar noch schärfen, etwa wenn sie feststellen, dass sie eigentlich nur beim Leichenschmaus – Tote gab es viele – richtig etwas zu essen bekommen. An das Heulen der jungen Frauen und das Klagen der alten Weiber gewöhnen sie sich rasch, weil sie sich das Leben im Dorf gar nicht anders vorstellen können. Sie quälen auch unbekümmert den träge gewordenen Wolfshund des alten Hirten. Mit der unschuldigen Grausamkeit von Kriegskindern bewerfen sie mit Steinen das bedauernswerte Tier, das zu allem Unglück auch noch Adolf heißt. „Wir waren unglücklich und deshalb auch grausam“, erinnert sich der Hauptheld. Dabe hatte der Wolfshund Adolf ein fünfjähriges Mädchen aus einen Eisloch gezogen, später dann sogar ein Rudel Wölfe von einem Wagenzug mit Kleinvieh abgehalten und dabei fast sein Leben eingebüßt. Auch das Kaufen und Schlachten eines anderen alten Köters, dessen ausgelassenes Hundeschmalz der Dorfarzt als Medizin für den tuberkulosekranken Großvater verordnet hatte, wird kindlich-naiv und neugierig geschildert. Das Fleisch des Hundes ergab ein Festmahl, an dem sich die Kinder endlich einmal satt essen konnten. Da war nichts mehr von der russischen Seele, „die alles Lebendige liebt“, in diesen schweren Zeiten übrig geblieben – oder doch?„Die Großmutter weinte in ihren Schürzenzipfel. Im Ofen kochte die Brennesselsuppe mit Knochen, aber die war schon für morgen. Über dem Ofen trocknete das Hundefell, das nach ein paar Wochen zu zwei guten Mützen wurde.“ Natürlich fehlt auch in dieser Kriegsgeschichte nicht die Episode, wo dem kleinen Russlanddeutschen bei einer Rauferei von seinem russischen Spielkameraden vorgeworfen wird, „… und … deine Mutter … ist eine Deutsche … eine Faschistin“, worauf er erwidert: „Wer ist deine Mutter? Eine Verräterin … eine Beischläferin.“ – weil der Mann dieser Frau an der Front kämpfte, hatte sie ihm treu zu sein. Weber löst den Konflikt lyrisch: „Warum mussten wir plötzlich das wiederholen, was böse Zungen faselten? Ja, wir waren eben zwei winzige Moleküle der Welt, in der der Krieg die Menschlichkeit zu vernichten suchte.“

Die intensiv-genaue Bildhaftigkeit der Aussage ist Webers Stärke. Dabei spielt sicherlich auch die Zeit seines Medizinstudiums eine nicht unwesentliche Rolle und reiht ihn ein in die beachtliche Zahl deutschsprachiger Schriftstellerärzte wie Friedrich Schiller, Alfred Döblin, Gottfried Benn, Hans Carossa, Peter Bamm, Heinar Kipphardt, Reinald Maria Goetz. Schon in einer der ersten bundesdeutschen Anthologien über die russlanddeutsche Literatur, die Alexander Ritter, der große Förderer der auslanddeutschen Literatur, herausgab,Nachrichten aus Kasachstan (Olms Presse Hildesheim-New York 1974), wird Robert Webers Talent durch nicht weniger als neun Gedichte gewürdigt. Seine Utopie einer sozial gerechten Zukunft ist nicht losungshaft, sondern metaphorisch. In Rote Banner 1917 sehen vernunftbegabte Wesen aus dem Weltall in ein Meer von roten Fahnen: „Eine der Apfelbacken/ läuft rot an!/ Er reift –/ der rätselhafte Planet!!!/“Wer will, kann hier eine Anspielung auf den Apfel der Eva für den Weltraum sehen.

Dem billigen Pflichtoptimismus setzt Weber realistische Gedanken gegenüber, etwa dass, wenn die Richtung des Alltäglichen die Horizontale ist und die Zukunftsperspektive die Vertikale, es erst recht Grund zur Beunruhigung geben kann. Im GedichtIm Schnittpunkt ist das Ende unerwartet: „Neulich/ schwärmte ich/ schrankenlos/ wie immer/ für den hellen Schein/ der Vertikale/ und stolperte/ auf einmal/ über die dunkle Krümmung / der Horizontale …“ Im Gedicht Drei Generationen schlägt er einen Bogen vom Großvater, einem Bürgerkriegsteilnehmer in Budjonnys Reiterarmee, über den Vater, einem Kämpfer im Großen Vaterländischen Krieg, zum Sohn, der sich den Kosmonautenanzug anzieht: „Großvater, Vater und Ich –/ sind wir nicht/ drei Stufen eines Traums?“ Hier wird man an Conrad Ferdinand Meyers berühmtes Gedicht Der römische Brunnen als Symbol einer Generationenkette erinnert, wo eine Schale in die andere überfließt und jede gibt und nimmt.

Geradezu subversiv für den dogmatischen sozialistischen Realismus ist sein Gedicht Der Dichter. Dies ist auch sein poetisches Credo. Einem Alltagsbanausen mit Binsenwahrheiten:„Der Schnee ist weiß/ Zweimal zwei ist vier/ die Wolga mündet/ ins Kaspische Meer“, bohrt er ein Loch in den Kopf und legt seine poetischen Zündschnüre hinein, die am nächsten Morgen die Explosion bewirken. Der Banause sieht plötzlich:„Draußen fallen/ schwarze Schneeflocken/ … – plötzlich …/ Was ist los?/ Er fühlt die Wolga/ irgendwo in seinem Herzen/ münden …/. – Morgen fragt er mich/ im Treppenhaus/ stockend und/ mit irrem Blick:/ Wieviel ist zweimal zwei/ – ich weiß es nicht.“

Der Dichter hat die Welt verzaubert, das Gegenteil dessen gemacht, was die Aufklärung untentwegt fordert: erklären, erklären, erklären! Den Kerker der dogmatischen Vernunft hat der Dichter gesprengt.

In der 1979 erschienenen AnthologieLichter in den Fenstern, Verlag Progress, Moskau, hat Weber in den obligaten Lenin- und Revolutionsgedichten doch noch ein kritisches Augenzwinkern für den ausufernden Personenkult. In Objektiv wendet sich Lenin höchstpersönlich an Sergej Eisensteins berühmten Kameramann Eduard Tisse und fordert ihn auf: „Halten Sie auf dem Film/ nicht mich fest,/ sondern das Volk.“ Insgesamt bietet diese Anthologie jedoch keine glückliche Auslese der Gedichte Webers.

Im StandardwerkAnthologie der sowjetdeutschen Literatur findet man von Robert Weber erfreulicherweise auch zwei charakteristische Gedichte: Schreie mein Baby!, in dem er nach der Geburt seiner Tochter verwundert fragt: „Warum schweigen die Zeitungen? Warum zieht man keine Fahnen auf?/ Das zwanzigste Jahrhundert/ muß von den großen Ereignissen erfahren.“Das Recht des Individuums, bei all den dröhnenden Staatsfeierlichkeiten auch seine ureigensten Sehnsüchte zur Geltung zu bringen, ist das Anliegen dieser Freudenausbrüche. Dies gilt auch für alle Landsleute Webers. In der Anthologie der russlanddeutschen Autorentage I in Hohenheim 1991/1992 heißt es im Gedicht Schicksal meines Volkes:„Die trockenen Samen/ einer ausgequetschten Zitrone/ im heißen Sand/ am morgendlichen Wolgaufer …/ Behutsam lege ich sie/ in die harte Schale/ und lasse sie flußab schwimmen –/ der mißtrauischen Sonne entgegen:/ vielleicht werden sie irgendwo/ aufkeimen und Früchte bringen?/ Wasser tropft von der Hand./ Können die Finger weinen?“ Ausgangspunkt bleibt die angestammte Heimat, das morgendliche Wolgaufer. Das Wasser der Wolga nimmt auf seinem Weg auch die oft so enttäuschten Hoffnungen der Russlanddeutschen mit, die nicht ganz verlorengegeben werden, obwohl Wasser wie Tränen von den die Hoffnung setzenden Fingern tropft. Jetzt kann die Wolga, wie im Gedicht Der Dichter, das diese Anthologie auch enthält, ein Wunder vollbringen:„Es fühlt die Wolga/ irgendwo in seinem Herzen/ münden./ Hoffnung fließt zurück.“

Bild:Archiv des Autors.