Biographie

Webersinn, Gerhard

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Jurist, Historiker
* 25. April 1904 in Münsterberg/ Niederschlesien
† 19. Februar 1993 in Münster/ Westfalen

Gerhard Webersinn kam als Kind des Uhrmachermeisters Josef Webersinn und seiner Ehefrau Mathilde, geb. Kusenbert, in der damals etwa 8.500 Einwohner zählenden schlesischen Kreisstadt Münsterberg zur Welt, die bereits vor 1253 zu deutschem Recht „ausgesetzt“ gegründet, worden war.

Er besuchte das Realgymnasium in Neisse, der ehemaligen Bischofsstadt, die man auch „das schlesische Rom“ nannte, legte dort die Reifeprüfung ab und widmete sich, dann in Breslau an der Universität dem Studium der Rechts- und Staatswissenschaften. Er wurde ein „schneidiger Student“, schloss sich einer farbentragenden Katholischen deutschen Studentenverbindung des Cartellverbandes (CV) an, des mitgliederstärksten katholischen Studentenverbandes Deutschlands, und war ein Semester lang der Senior der Korporation und auch aller studierenden Breslauer CVer. In einigen Semestern hörte er auch historische Vorlesungen, schaute also interessiert „über den Tellerrand hinaus“.

Schon 1927 erfolgte die Ablegung der Ersten juristischen Staatsprüfung in Breslau und 1931 die Große juristische Staatsprüfung in Berlin. „Zwischendurch“, 1928, erwarb er den Akademischen Grad Dr. jur. aufgrund der Dissertation Die geschichtliche Entwicklung des Gotteslästerungsdeliktes und des mündlichen Examens. Im praktischen juristischen Dienst kam er in viele schlesische Orte, so nach Glatz, Hirschberg und Oppeln, und lernte in Oberschlesien – zum ersten Mal mit Polnischem enger in Berührung kommend – viel von Land und Leuten kennen, was seine späteren schriftlichen Arbeiten befruchtete.

Die schlesische Reisezeit des jungen Volljuristen endete am 1. Mai 1938 mit der Ernennung zum Amtsgerichtsrat in der niederschlesischen Kleinstadt (4.000 Einwohner) Löwen, Kreis Brieg. Ein Jahr später begann der Zweite Weltkrieg; 1943 wurde Webersinn zu den Landesschützen im oberschlesischen Neustadt einberufen, und am Kriegsende im Jahre 1945 geriet er zwar in die zurecht sehr gefürchtete sowjetrussische Kriegsgefangenschaft, hatte aber das Glück, nicht etwa zur Zwangsarbeit in das Donezker Steinkohlerevier oder nach Sibirien verfrachtet zu werden, sondern bereits nach einigen Monaten wieder die Luft der Freiheit atmen zu dürfen.

In die schlesische, russisch und polnisch besetzte Heimat konnte er nicht zurück, und so begann sein Neuanfang in der Ostzone; als Aufsichtsrichter in Finsterwalde/Niederlausitz und zu gleicher Zeit als Richter am Amtsgericht in Cottbus. Politisch interessiert und gewillt, am Aufbau eines neuen und demokratischen Deutschland mitzuarbeiten, trat er bereits im September 1945 der CDU bei – auf Anregung des bis 1933 amtierenden Oberpräsidenten von Oberschlesien Hans Lukaschek, der dann von 1949 bis 1953 dem ersten Kabinett Adenauer als Bundesminister für Angelegenheiten der Vertriebenen angehörte. Weber­sinn wurde in Finsterwalde Stadtverordneter, Vorstandsmitglied der örtlichen CDU und am 20. Oktober 1946 in den Landtag von Brandenburg gewählt. Dem praktisch kommumistisch regierten Mitteldeutschland kehrte er 1950 den Rücken und zog in den freiheitlich-demokratischen Teil Deutschlands, wo er zunächst als Richter am Verwaltungsgericht in Arnsberg (Sauerland) tätig war. Bald erfolgte die Versetzung an das Oberverwaltungsgericht des Landes Nordrhein-Westfa­len in Münster: 1951 Verwaltungsgerichtsrat, 1954 Oberverwaltungsgerichtsrat, 1969 Pensionierung.

„Im Westen“ fand Webersinn trotz der beruflichen Beanspruchung durch die verantwortungsvolle Tätigkeit am höchsten Gericht eines großen und mächtigen Bundeslandes die Zeit und die Kraft, sich tief in die Geschichte Schlesiens hineinzulesen und hineinzuarbeiten und auch selbst zu einem Erforscher und Verkünder derselben zu werden. Dabei lagen vor allem das 19. und das 20. Jahrhundert in seinem Blickfeld, und hier besonders Lebensbeschreibungen, das Biografische. Dazu die Orte und Gegenden, die er persönlich kennen gelernt hatte und/oder ihn besonders anzogen. Hier ist primär an die Region Münsterberg/Frankenstein, an das Neisser Land und an Oberschlesien zu denken – das oft verkannte und von Deutschen und Polen bewohnte umstrittene Grenzland mit seiner der katholischen Kirche treu ergebenen Bevölkerung. Thematisch betrat Webersinn erfreulicherweise so manchen neuen Weg.

Er griff oft und gern zur Feder; wissenschaftlich und publizistisch. Veröffentlichungen von ihm erschienenen seit 1953 u.a. im Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau, im (katholischen) Archiv für schlesische Kirchengeschichte, in der Vierteljahresschrift Schlesien und in den Mitteilungen des Beuthener Geschichts- und Museumsvereins sowie in einschlägigen „schlesischen“ Sammelbänden. Einer relativ breiten Ausstrahlung (Webersinn als „Multiplikator“) dienten seine zahlreichen Artikel in der Wochenzeitung der Landsmannschaft Schlesien, Der Schlesier, und im Organ der Landsmannschaft der Oberschlesier, Unser Oberschlesien. Für das Handbuch der historischen Stätten: Schlesien verfasste er 28 Artikel und stand damit zahlenmäßig an der Spitze der Mitarbeiter von Hugo Weczerka, der dieses Standardwerk im Jahre 1977 (erstmals) herausgab.

Der Vorliebe Webersinns für Biografisches entstammten z.B. seine ausführlichen Abhandlungen über die Zentrumspolitiker Dr. Felix Porsch, Carl Freiherr von Hoiningen gen. von Huene (der „schlesische Bauernkönig“) und Prälat Carl Ulitzka (der „ungekrönte König von Oberschlesien“), also Männer der politischen Mitte, wie er selbst einer war. Für den ersten nach dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Band der wichtigen Reihe Schlesische Lebensbilder schrieb er den Beitrag über Helmuth James Graf v. Moltke, den führenden Kopf des antinationalsozialistischen sog. Kreisauer Kreises, wie ihn Menschen des Widerstandes gegen die braune Diktatur immer wieder thematisch zum Schreiben veranlassten. Stark berücksichtigt wurden auch katholische schlesische Geistliche und besonders die Gegend, in der er aufgewachsen war, über die er „eine Unmenge“ Artikel in der Halbmonatsschrift Frankenstein-Münsterberger Heimatblatt veröffentlichte. „Treu im Glauben, treu dem Freunde“ schrieb er einen großen Teil der Geschichte seiner Breslauer Urverbindung (1965), und 1974 erschien die einzige von ihm veröffentlichte selbstständige Schrift: ein Büchlein über den schlesischen Volkstumskämpfer Otto Ulitz.

Webersinn war ein guter Stilist. Er schrieb gut und gern, flink und flott, anschaulich und klar, zur Lektüre einladend. Das Verzeichnis seiner Veröffentlichungen, in das seine zahlreichen Rezensionen nicht aufgenommen sind, enthält 710 Titel. Eine erstaunliche geistige, publizistische Produktivität! Seit 1965 gehörte er dem Kulturwerk Schlesien (jetzt: Stiftung in Würzburg) an. Er war auch Mitglied der Schlesischen Landesversammlung und wurde im Jahre 1979 von der Landsmannschaft Schlesien, deren Vorsitz damals der langjährige Bundestagsabgeordnete Dr. Herbert Hupka (SPD, dann CDU) innehatte, mit dem Schlesierschild ausgezeichnet.

Die stark umstrittene „neue Ostpolitik“ der Regierung Brandt/ Scheel (Anerkennung des Verlustes der deutschen Ostgebiete; die „Oder-Neisse-Linie“ wurde zur „Oder-Neisse-Grenze“) lehnte Webersinn ab; rechtlich und emotional. Er konnte mit dem polnisch gewordenen umfangreichen bisherigen Teil Deutschlands „nichts anfangen“, wollte nach 1945 nicht mehr nach Schlesien fahren, und unterließ das auch, nachdem Polen die Einreisehürden gesenkt hatte. Der Erforscher und Darsteller schlesischer Geschichte war nach dem Tod seiner Frau ein zweites Mal verheiratet und Vater von vier Söhnen. Er überlebte auch seine zweite Frau.

Am 19. Februar 1993 verstarb er nach langem Kranksein im Alter von 88 Jahren in Münster und wurde sechs Tage später auf dem dortigen Waldfriedhof Lauheide begraben. Gerhard Webersinn „Doktor beider Rechte“, war ein Herr, ein vornehmer Herr mit großer Fliege, ein schlesischer Seigneur aus dem Frankenstein-Münsterberger Land!

Werke: Professor Theodor Goerlitz und sein Werk, in: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 6, 1961, S. 73-99. – Die schlesische Uhrenindustrie, ebd. 8, 1963, S. 122-153. – Karl Georg von TreutIer. Ein deutscher Diplomat aus Schlesien, ebd. 9, 1964, S. 352-380. – Gustav Heinrich Ruffer. Breslauer Bankherr – Pionier des Eisenbahngedankens – Förderer schlesischer Wirtschaft, ebd. 11, 1966, S. 154-196. – Dr. Hans Herschel. Bürgermeister von Breslau, ebd. 12, 1967, S. 246-306. – Dr. Felix Porsch. Vizepräsident des Preußischen Landtages, ebd. 13, 1968, S. 232-283. – Die Provinz Oberschlesien. Ihre Entstehung und der Aufbau der Selbstverwaltung, ebd. 14, 1969, S. 275-329. – Prälat Karl Ulitzka. Politiker im Priester, ebd. 15, 1970, S. 146-205. – Die schlesische Zuckerindustrie, ebd. 18, 1973, S. 140-211. – Eugen Schiffer, in: Schlesische Lebensbilder, 5. Bd., im Auftrag d. Historischen Kommission für Schlesien hrsg. von Helmut Neubach u. Ludwig Petry, Würzburg 1968, S. 148-157. – Helmuth James Graf von Moltke, ebd. S. 269-282. – Zwölf Laien in der Kulturkampfgalerie des Breslauer Diözesanmuseums, in: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 28, 1970, S. 138-152; 29, 1971, S. 141-156.Otto Ulitz, Ein Leben für Oberschlesien, Augsburg 1974 (38. Veröffentlichung d. Oberschlesischen Studienhilfe). – Hans-Ludwig Abmeier, Verzeichnis der Veröffentlichungen von Gerhard Webersinn, in: Mitteilungen des Beuthener Geschichts- und Museumsvereins, Bd. 49, Dortmund 1989, S. 187-241. – Ders., Ergänzungen, ebd., Bd. 52, Dortmund 2002, S. 353-356.

Lit.: Helmut Neubach, Jurist, Historiker, Journalist und Politiker. Zum 65. Geburtstag, in: Der Schlesier 21, 1969, Nr. 17. – Ders., Gerhard Webersinn zum 75. Geburtstag, in Schlesien. Eine Vierteljahresschrift, XXIV, Würzburg 1979, S. 123-124. – Hans-Ludwig Abmeier, Ger­hard Webersinn 80 Jahre, in: Mitteilungen des Beuthener Geschichts- und Museumsvereins 45/47, Dortmund 1985, S. 154-155. – Ders., Gerhard Webersinn (Nachruf), in: Oberschlesisches Jahrbuch 9, 1993, S. 324-327 (P). – Ders., Schlesischer Seigneur. 100 Jahre seit der Geburt von Gerhard Webersinn, in: Kulturpolitische Korrespondenz, Bonn, Nr. 1185 v. 10.5.2004; auch in: Schlesischer Kulturspiegel 39, 2004, Heft 2 (P).

Hans-Ludwig Abmeier