Biographie

Wegscheider, Rudolf F.G.

Herkunft: Banat
Beruf: Chemiker
* 8. Oktober 1859 in Groß-Betschkerek/Banat
† 8. Januar 1935 in Wien

Der Sohn eines k. k. Kreiskommissärs schrieb sich nach seiner Gymnasialzeit, die er in seiner Vaterstadt verbracht hatte, an der Universität Wien für Chemie ein. Sein Lehrer war Professor Barth, und sein Hauptinteresse galt zunächst derFarbstoffchemie,jenem Teilgebiet der unerhört aufstrebenden chemischen Wissenschaft, das die sichtbarsten Erfolge verzeichnete. Kurz nach seiner Promotion, 1883, erhielt der ungewöhnlich begabte junge Forscher ein zweijähriges Reisestipendium, das er für ein Studium bei einem Meister der anorganischen Chemie, Professor Handolt, verwendete. So wurde der Organiker auch Anorganiker, bei der Unermeßlichkeit des Stoffes eine seltene Ausnahme. Er bemerkte als einer der ersten, daß die neue Disziplin der physikalischen Chemie die althergebrachte Scheidung verwischt. Wegscheiders berufliche Stationen: Assistent an der Landwirtschaftlichen Hochschule zu Berlin, 1885 Fabrikschemiker in Heilbronn, 1886 Assistent an der Universität Wien und dort 1889 tit. a. o. Professor für Chemie, schließlich 1902 ordentlicher Professor.

In die chemische Wissenschaft kam ein neuer Zug, der ihre Methoden für Jahrzehnte beeinflußte. Als nämlich Wegschneider 29 Jahre nach der Übernahme seiner Lehrkanzel zurücktrat, war bereits die physikalische Chemie zur chemischen Physik geworden. Dies bedeutet „auf weitesten Gebieten der Chemie Besitzergreifung seitens der Physik mit ihrer kaum übersehbaren Fülle an gedanklichem Inhalt, mit ihrem Reichtum an experimentellen Hilfsmitteln, mit der verzweigten Gliederung ihres mathematischen Gerüsts“ (E. Abel). Wegscheider war keineswegs passiver Betrachter dieser Entwicklung, vielmehr ihr großer Kritiker und Diagnostiker, ein „Lessing der Chemie“, wie ihn Zeitgenossen nannten. Der Chemie um die Jahrhundertwende wurden bedeutende neue Aufgaben gestellt: Es galt, Wirken und Umwandlung der kleinsten Bausteine der Materie zu verstehen, die Gesetze des Chemismus durch die Gesetzmäßigkeit zu erkennen, die die Physik der Chemie bietet. Die bis dahin unbewältigte Aufgabe hieß:

„Chemische Reaktion als Arbeitsquelle und chemische Reaktion als Spiel der Moleküle. Es war demnach die Frage zu beantworten: Was und wieviel läßt sich in jeder der beiden Richtungen theoretisch voraussehen? Wegscheider, in beiden Richtungen ein gedankenvoller Beurteiler, hat vornehmlich die letztere Richtung gepflegt und hier vor allem die Theorie der chemischen Reaktionsgeschwindigkeit in ihren subtilen Zusammenhängen entwickelt, nicht aber ohne in erstgenannter Richtung, im Gebiet der chemischen Energetik, besonders auf scharfe Abgrenzung der Begriffe und Definitionen mit aller Entschiedenheit zu drängen. Gedankliche Schärfe – nichts konnte ihn abhalten, diese zu üben, keine wissenschaftliche Frage schien ihm geringfügig genug, um sie nicht der kristallenen Klarheit seines Denkens zu unterwerfen“ (E. Abel, 1957). Der gleiche Fachkollege Wegscheiders urteiltüber ihn: „Wegscheider war kein Konstrukteur, kein Erfinder. Aber er war in vielerlei Hinsicht mehr als jede dieser Komponenten des chemischen Wirkens vermuten läßt: Er war einer der unbeirrtesten Chemiker seiner Zeit, er war einer der letzten, vielleicht geradezu der Letzte, der in allen Teilen des ungeheuer weitverzweigten Gebäudes der Chemie zu Hause war, er war in der Chemie der Allwisser, der Bestwisser seiner Zeit“ (E. Abel, 1957).

Auch organisatorische Verdienste erwarb sich dieser von den Schülern trotz seiner Strenge verehrte Lehrer einer ganzen Generation österreichischer Chemiker: Er vertrat Österreich auf vielen Kongressen, war von 1904 bis 1929, also ein Vierteljahrhundert, Präsident der Österreichischen Chemikerschaft, anschließend ihr Ehrenpräsident.

Schlichtheit, Bescheidenheit, Naturverbundenheit– er war ein einsamer Wanderer –, die Wegscheider nachgerühmt werden, dürften das Erbe der bäuerlichen Vorfahren sein, vielleicht auch seiner donauschwäbischen Heimat. 1949 wurde in einer akademischen Feier in den Arkaden der Wiener Universität eine Wegscheider-Gedenktafel eingeweiht, und alljährlich wird von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ein „Wegscheider-Preis“ für Chemie verliehen.

Lit.: E. Abel: Rudolf Wegscheider – Wegbereiter der physikalischen Chemie. In: Österr. Naturforscher, Ärzte und Techniker. 1957; H. Mark: Rudolf Wegscheider, in: Z. f. Elektrochemie. Bd. 41 (1935); A. Scherer: Schöpferische Donauschwaben. 1957; A. Skrabal: Rudolf Wegscheider, in: Bericht der Deutschen Chemischen Ges. Bd. 68 (1935).