Biographie

Weiss, Ernst

Herkunft: Sudeten (Böhmen u. Mähren, österr. Schlesien)
Beruf: Schriftsteller, Arzt
* 28. August 1882 in Brünn/Mähren
† 15. Juni 1940 in Paris

Thomas Mann nannte ihn „wohl das stärkste Talent unserer neuesten Prosadichtung“, Alfred Döblin und Joseph Roth priesen seine Romane und Erzählungen, und dennoch ist er bis heute nahezu ein gekannter: Ernst Weiß, der 1882 im mährischen Brunn als Sohn eines jüdischen Tuchhändlers geboren wurde. Schon im Gymnasium reizten ihn die Naturwissenschaften; in Prag und Wien studiert er Medizin, gleichermaßen beeindruckt von der Psychoanalyse Sigmund Freuds wie von den therapeutischen Möglichkeiten der Chirurgie, auf die er sich spezialisiert.

Nach mehrjähriger klinischer Praxis in Bern, Berlin und am Wiedener Spital in Wien, auf der chirurgischen Abteilung bei Professor Julius Schnitzler (dem Onkel Arthur Schnitzlers) erscheint 1913 sein erster Roman „Die Galeere“. Darin schildert Weiß das Lebensschicksal eines Wiener Physikers und Radiologen, der trotz seines Strebens nach Liebe die Fesseln seines Schicksals nicht sprengen kann und als Opfer der Röntgenstrahlen zugrunde geht.

Eine Lungentuberkulose zwingt Weiß, die Chirurgie aufzugeben und als Schiffsarzt beim Österreichischen Lloyd anzumustern. Seine Reiseeindrücke aus Indien und Japan hat er seinen späteren Romanen wie „Nahar“ (1922) und „Tiere in Ketten“ (1918) literarisch umgesetzt. Den Ersten Weltkrieg erlebt Weiß als Regiments- und Chefarzt in der Etappe und an der Ostfront. Die Wirklichkeit des Krieges macht den mit hohen Tapferkeitsauszeichnungen dekorierten Sanitätsoffizier zu einem überzeugten Pazifisten. In seinem Gedichtzyklus „Versöhnungsfest“ (1918) und deutlicher noch im Roman „Mensch gegen Mensch“ (1919) hat er die Greuel der technisierten Kriegsführung und die Sehnsucht nach dauerndem Frieden, mehr als zehn Jahre vor den berühmten Antikriegsbüchern Erich Maria Remarques und Ludwig Renns, auf erschütternde Weise festgehalten. Die Novellen der unmittelbaren Nachkriegszeit stehen ganz im Banne expressionistischer Visionen voller vegetativer Sinnlichkeit. Auch die beiden Bühnenwerke dieser Zeit „Tanja“ (1919) und „Olympia“ (1923) tragen das Zeichen des Triebhaften.

Von 1909 bis 1923 lebt Ernst Weiß abwechselnd in Prag, Wien und München, bevor er endgültig nach Berlin übersiedelt. In Prag befreundet er sich eng mit Franz Kafka, in Berlin verkehrt er mit Alfred Döblin. In diesen Jahren nimmt Weiß Abschied von der medizinischen Praxis. Er führt das einsame Leben eines Sonderlings, ein hypersensibler Mensch, stets in einem moralischen Kampf mit sich selbst, um Todesängste und Todessehnsucht zu bewältigen. Für das literarische Schaffen sind es die fruchtbarsten Jahre im Leben von Ernst Weiß. In schneller Folge erscheinen der biblische Torso „Daniel“ (1924), die kriminalistische Analyse „Der Fall Vukobrankovics“ (1924), der Balzac-Roman „Männer in der Nacht“ (1925) und der Roman „Boetius von Orlamünde“ (1928; später unter dem Titel „Der Aristokrat“), für den er mit dem Adalbert-Stifter-Preis ausgezeichnet wird.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten lebt Weiß zunächst isoliert in Prag und emigriert nach dem Tod der Mutter, Anfang 1934, nach Paris, wo er, unterstützt von Stefan Zweig und Thomas Mann, ein ärmliches Leben fristet. In Wien erschien zuvor (1931) noch eines seiner Meisterwerke, der Roman „Georg Letham, Arzt und Mörder“, die Geschichte eines Verbrechers, seiner selbstauferlegten Sühne und der Lösung aus frevlerischer Hybris und der Wandlung zum Sachwalter humanitären Denkens und Handelns. Im Pariser Exil entstehen weitere Hauptwerke, die Romane „Der Gefängnisarzt“ (1934), „Der arme Verschwender“ (1936) und „Der Verführer“ (1938). Ihre Hauptgestalten sind Ärzte, ihre Probleme sind moralische Probleme des Arztes und Bürgers, und die dramatischen Ereignisse vor dem Ersten Weltkrieg, und kurz danach in Wien und im deutschen Inflationsmilieu, bilden den Hintergrund.  Sein letztes Buch „Ich – der Augenzeuge“ (entstanden 1938) ist die exakte Darstellung einer verfehlten Komplexbewältigung. Dieses Buch über die Krankheit des Gefreiten A(dolf) H(itler) und den verheerenden Heilerfolg seiner hysterischen Blindheit konnte erst 1963 veröffentlicht werden. Am 15. Juni 1940, einem Tag, nachdem die Truppen Hitlers in Paris einmarschiert waren, nahm Ernst Weiß ein Schlafmittel und öffnete sich die Pulsadern. Seine Grabstätte ist unbekannt.

Weitere Werke: „Der Kampf“ (R.), Berlin 1916, später u.d.T. „Franziska“; „Stern der Dämonen“ (E.), Wien, Leipzig 1920; „Hodin“ (E.), Berlin 1923; „Ätna“ (N.), München 1923; „Die Feuerprobe“ (R.), Berlin 1923; „Das Unverlierbare“ (Es), Berlin 1928; „Dämonenzug“ (E.), Berlin 1928; „Gesammelte Werke in 16 Bänden“, Frankfurt a.M. 1982.

R = Roman • E = Erzählung • N = Novelle • Es = Essay

Lit.: Eduard Wondrák: Einiges über den Arzt und Schriftsteller Ernst Weiß mit einer autobiographischen Skizze von 1927 und dem Versuch einer Bibliographie. Icking, München 1968; Wolfgang Dieter Elfe: Stiltendenzen im Werk von Ernst Weiß unter besonderer Berücksichtigung seines expressionistischen Stils. Bern, Frankfurt a.M. 1971; Klaus-Peter Hinze: Ernst Weiß. Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur. Hamburg 1977; Peter Engel (Hrsg.): Ernst Weiß. Frankfurt a.M. 1982; Rita Mielke: Das Böse als Krankheit. Entwurf einer neuen Ethik im Werk: von Ernst Weiß. Frankfurt a.M. 1986.