Biographie

Wenzel, Eberhard

Herkunft: Pommern
Beruf: Kirchenmusiker, Komponist
* 22. April 1896 in Pollnow/Pommern
† 27. Januar 1982 in Künzelsau-Kocherstetten

Unter den Wegbereitern und bedeutsamen Förderern der evangelischen Kirchenmusik des 20. Jahrhunderts kommt Eberhard Wenzel eine gewichtige Stellung zu. Er stand gemeinsam mit Johann Nepomuk David, Ernst Pepping und Hugo Distler in der ersten Reihe derer, die die Zeit des lähmenden Stillstandes der evangelischen Kirchenmusik überwanden und sich in der Rückbesinnung auf das Gedankengut der Reformationszeit einer längst notwendig gewordenen Umgestaltung des kirchenmusikalischen Lebens aus dem Geist strenger theologisch-liturgischer Bindung heraus hingaben. Wenzels von tiefem Ernst und großem Verantwortungsbewußtsein bestimmtes Schaffen dokumentiert eine bewundernswerte Einheit von Kunst und gottesdienstlicher Funktion. All seine Werke sind getragen von dem Anliegen, Anbetung, Verkündigung und höchstes Gotteslob in engster Wortbezogenheit künstlerisch und doch allgemein verständlich zum Ausdruck zu bringen.

Als Sohn eines Pfarrers in Pollnow (knappe 50 Kilometer ostsüdöstlich von Köslin) geboren, erhielt Eberhard Wenzel bereits als Schüler eine vielseitige musikalische Ausbildung, die nach der 1907 erfolgten Übersiedlung der Familie Wenzel nach Berlin am dortigen Sternschen Konservatorium fortgesetzt wurde. Nach vierjährigem Kriegsdienst studierte er von 1919 bis 1921 am Akademischen Institut für Kirchen- und Schulmusik in Berlin, insbesondere bei Arnold Ebel (Komposition), Fritz Heitmann (Orgel) und Julius Dahlke (Klavier). 1922 nahm er eine Tätigkeit als Schul- und Kirchenmusiker in Berlin auf und siedelte drei Jahre später nach Neubrandenburg über, wo er die Organistenstelle an St. Marien übernahm und gleichzeitig am dortigen Gymnasium unterrichtete. Von 1930 bis 1950 wirkte Wenzel als Kirchenmusiker an der Peterskirche in Görlitz und betätigte sich zusätzlich als Dirigent mehrerer dortiger Chöre. Außerdem war er maßgeblich an der Gestaltung der bis 1944 alle drei Jahre in Görlitz durchgeführten "Schlesischen Musikfeste" und später auch an den Görlitzer Musiktagen beteiligt. Nach Kriegsende 1945 gehörte Wenzel zu den aktivsten Kräften des kulturellen und kirchenmusikalischen Wiederaufbaus in Görlitz. Seine musikpädagogische Arbeit gipfelte neben einer mehrjährigen Lehrtätigkeit an der Städtischen Musikschule in der Übernahme der Leitung der 1947 neugegründeten Evangelischen Kirchenmusikschule Görlitz.

1951 folgte Wenzel einer Berufung nach Halle/Saale auf die Stelle des Direktors der dortigen Evangelischen Kirchenmusikschule, die er während seines 14jährigen Wirkens trotz mancher staatlichen Behinderungen zu einem der angesehensten kirchenmusikalischen Ausbildungsinstitute auf deutschem Boden machte. Viele seiner Kompositionen gelangten durch den Chor der Evangelischen Kirchenmusikschule Halle zur Uraufführung. Gleichzeitig versah er das Amt des Kantors und Organisten an der Ulrichskirche. Von 1965 ab lebte Wenzel im Ruhestand bei größten kompositorischen Aktivitäten in Stuttgart-Vaihingen, Schwaigern und Künzelsau-Kocherstetten bei seiner ältesten Tochter, wo er am 27. Januar 1982 starb.

Von den zahlreichen Eberhard Wenzel zuerkannten Auszeichnungen seien der Schlesische Musikpreis (1938), der Buxtehudepreis der Stadt Lübeck (1957), das Ehrendoktorat der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg (1962), die Ehrengabe zum Johann-Wenzel-Stamitz-Preis (1974) und die Karl-Straube-Plakette (1980) genannt.

Eberhard Wenzel war ein Mensch von großer Offenheit und Geradlinigkeit, bescheiden, voller Demut, willensstark und beherrscht, dabei von einer unmittelbar ausstrahlenden Herzensgüte und Gemütswärme. Er war ein vom Glauben her geprägter Christ, der sich immer wieder neue Kraft aus dem Wort Gottes schenken ließ. Nur so konnte er sich innerlich stark allen Widernissen des Hitler-Regimes und den zunehmenden Behinderungen seitens des "realen Sozialismus" in der DDR entgegenstellen.

Der Schwerpunkt seines pädagogischen Wirkens lag in seiner Tätigkeit in Görlitz und in Halle. Mit der Ausbildung von weit über 400 jungen Kirchenmusikern war er hier entscheidend an der Neuorientierung des Kirchenmusikerstandes nach dem Zusammenbruch 1945 beteiligt. Er prägte mehrere Generationen von Kirchenmusikern, die heute in seinem Sinne im Dienste der Musica sacra stehen und zum Teil höchst verantwortungsvolle Positionen einnehmen. Hinter dem Pädagogen Wenzel stand die ganze Kraft seiner menschlich und künstlerisch außerordentlich starken und lauteren Persönlichkeit und sein immerwährendes Vorbildsein.

Besondere Verdienste erwarb sich Wenzel als mitreißender Interpret von fesselnder Ausstrahlungskraft. Er lebte seinen Schülern und Chorsängern in der ihm eigenen stillen und bescheidenen Art unmittelbar vor, daß alle Kirchenmusik letztlich im Glauben und im Gottesdienst gründen muß. Hieraus resultierte die starke Aussagekraft seiner Interpretationen, die immer die Untrennbarkeit von Kunst und Glauben demonstrierten. Ihm lag stets an einer textlich, inhaltlich und musikalisch tiefgründigen Ausdeutung der darzubietenden Werke, deren detaillierter Erarbeitung er größte Aufmerksamkeit schenkte. Er war vor allem ein begnadeter Chorinterpret, dessen feinsinnige und homogene, dabei aber gleichzeitig innige und beseelte Chorsprache für jeden Chorsänger und Hörer von unvergeßlicher Eindrücklichkeit war.

Das kompositorische Schaffen Wenzels umfaßt etwa 800 Werke der verschiedensten Genres, die sich wesentlich auf die Kirchenmusik konzentrieren und ihren Mittelpunkt in der gottesdienstlichen Praxis haben. Wenzel fand in konsequenter und organischer Entwicklung zu einem in stetiger Ausreifung begriffenen Stil, der sich zwischen Modernität und gültiger Zeitlosigkeit bewegt. Herkommend von der stark romantisch geprägten Musik der letzten Jahrhundertwende, die seine frühen wie auch die Klavier- und Orgelwerke dieser Zeit bestimmte, ließ er sich dann immer mehr vom reinen Bibeltext und der kernigen Aussage des reformatorischen Kirchenliedes fesseln, so daß er bald in den altbewährten Gattungen der Motette, des Geistlichen Konzertes und der Choralkantate die besten Möglichkeiten seiner musikalischen Aussage sah. Besonders erwähnenswert sind seine vielseitigen Psalmvertonungen und die Historienkompositionen, allen voran die Weihnachtsgeschichte und die Markuspassion. Als hervorragende Werke größeren Stils seien die Oratorien Die Berge des Heils undDas Gleichnis, die dramatische Chorballade Das Belsazerlied, die Missa Alternatim Cantata und das Requiem Media vita in morte sumus genannt. Neben diesen Großwerken steht eine unglaubliche Fülle gottesdienstlicher Gebrauchsmusik in allen Schwierigkeitsgraden. Auch die gereiften Spätwerke wie etwa die Deutsche Messe, Die Zeiten Gottes, die Choralkonzerte, Motetten und Psalmvertonungen jener Epoche verdienen eine besondere Erwähnung.

Selbstverständlich schrieb der begeisterte Organist Eberhard Wenzel auch zahlreiche Orgelwerke: Choralpartiten, Choralvorspiele, Sonate a-Moll,d-Moll Toccata, Fuga Variata, einige Fantasien und das Concertino für Orgel und Streichorchester. In den letzten 15 Jahren seines Lebens wandte er sich auch dem Gebiet der Bläsermusik zu. Geistliche und weltliche Lieder sowie Kammermusik, Klavier- und einige Orchesterwerke runden die vielseitige Palette seines Schaffens ab.

Wenzels Musiksprache ist direkt, wahrhaftig und etwas herb, sie duldet keinerlei Veräußerlichung und ist durch und durch Zeugnis unerschütterlicher Glaubenskraft. Wenzel ging in den sieben Jahrzehnten seines kompositorischen Schaffens mit den jeweiligen Stilrichtungen seiner Zeit ohne Bruch mit und hat stets die Linie des praxisbezogenen Kirchenkomponisten beibehalten. Er war ein genialer Kontrapunktiker, der aber auch um die Ausweitung des Tonraumes und die Erarbeitung neuer Stilmittel bemüht war, so daß er sich auch der freien Handhabung der Zwölftontechnik, und zwar überwiegend im tonalen Bereich, bediente.

Wenzels Wirken und Schaffen hat den Aufbruch, die Entwicklung und Geschichte der evangelischen Kirchenmusik des 20. Jahrhunderts wesentlich mitbestimmt. Er hat maßgeblich dazu beigetragen, daß das Amt des Kirchenmusikers wieder eine angesehene Stellung und klare Zielsetzung bekam und in großer Gewichtigkeit neben das der Wortverkündigung trat. Kompositorisch sorgte er für ein weitgefächertes Angebot aller Formen und Schwierigkeitsgrade, das unmittelbar aus der Praxis heraus entstanden und für den kirchenmusikalischen Dienst geschrieben ist.

Freilich wurde Wenzels kompositorisches Schaffen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von der ganz dem Fortschrittsgedanken verpflichteten "Neuen Musik" in den Hintergrund gedrängt; doch die unabdingbare Wahrhaftigkeit, Klarheit und Ausdruckstiefe der Wenzelschen Musiksprache, die überall spürbar eingebrachte tiefe Gläubigkeit, die Konzentration auf das Wesentliche, das Gotteswort, und die enge Bindung an das Kirchenlied geben Wenzels kirchemusikalischen Werken jenen bleibenden Wert, der sich gewiß auch neben allen anders ausgerichteten Tendenzen der zeitgenössischen Kirchenmusik behaupten wird.

Lit.: Adler, Johannes: Die evangelische Kirchenmusik in Schlesien 1900  – 1945, in: Geistliche Musik in Schlesien, Dülmen 1988, S. 115 ff. – Gadsch, Herbert: Zwischen großer Kirchenmusik und Gebrauchsmusik –  Eberhard Wenzel, in: Credo musicale, Berlin 1969, S. 99 ff. –  Herrmann, Ursula: Eberhard Wenzel/Komponist – Pädagoge –  Interpret, (Ost-)Berlin 1989.  – Riemer, Otto: Eberhard Wenzel –  Rüstigkeit und Reife, in: Pommern 1972, S. 34 f.  –  Speer, Gotthard: Eberhard Wenzel in Görlitz –  Ein gebürtiger Pommer als Mitgestalter schlesischer Musikgeschichte, in: Schlesien 29/1984, S. 36 ff.

Bild: Eberhard Wenzel 1981 (aufgenommen von seinem Enkel Stefan Gehring).