Biographie

Wernicke, Carl

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Psychiater, Neurologe
* 15. Mai 1848 in Tarnowitz/Oberschlesien
† 15. Juni 1905 in Dörrberg, Gräfenroda/Thüringen

Als Sohn eines Oberbergamtsrevisors wuchs Carl Wernicke in einfachen Verhältnissen auf. Er besuchte das Gymnasium in Oppeln, später in Breslau, wo er im 17. Lebensjahr das Abitur bestand. An der Breslauer Universität nahm Wernicke anschließend das Studium der Medizin auf, das er 1870 erfolgreich mit der Promotion abschloß. Die erst fünf Jahre später im Druck erschienene Dissertation trägt den Titel Erkrankung der inneren Kapsel. Ein Beitrag zur Diagnose der Herderkrankungen. 1870 stellte ihn der Breslauer Ophthalmologe Professor Richard Förster als Assistenzarzt ein. Nach seiner Teilnahme am Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 fand Carl Wernicke eine Anstellung als Assistent bei Professor Heinrich Neumann in der Irrenabteilung des Breslauer Allerheiligenhospitals. 1874 veröffentlichte Wernicke die Schrift Der aphasische Symptomenkomplex, die seinen weiteren beruflichen Werdegang entscheidend beeinflussen sollte. In dieser Arbeit teilte er seine Entdeckung des sensorischen Sprachzentrums mit.

Nachdem er einen halbjährigen Studienaufenthalt in Wien bei Professor Theodor Meynert absolviert hatte, habilitierte sich Wernicke 1876 an der Psychiatrischen Klinik der Charité zu Berlin bei Professor Carl Westphal, dem Nachfolger Wilhelm Griesingers. In seiner Habilitationsschrift befaßte sich Wernicke mit dem Urwindungssystem des menschlichen Gehirns. Nachdem er sich mit der Klinikleitung überworfen hatte, ließ er sich in Berlin vorübergehend als Nervenarzt nieder. In jener Zeit verfaßte er sein Lehrbuch der Gehirnkrankheiten für Ärzte und Studierende, das in den Jahren von 1881 bis 1883 erschien. Im Jahre 1885 folgte er einem Ruf als außerplanmäßiger Professor nach Breslau, wo er 1890 als Nachfolger seines Lehrers Heinrich Neumann auch den Lehrstuhl für Psychiatrie übernahm. 1904 wurde Carl Wernicke auf den Hallenser Lehrstuhl für Psychiatrie berufen und zum Direktor der dortigen Psychiatrischen Klinik ernannt. In Halle verblieb ihm jedoch nur wenig Zeit zur Entfaltung seines Wirkens. Denn bereits im nächsten Jahr verunglückte Wernicke im Geratal im Thüringer Wald tödlich: Nach einem Sturz vom Fahrrad wurde er von einem Holzfuhrwerk überrollt. Zwei Tage später verstarb er, seine leiblichen Überreste wurden am 16. Juni 1905 in Gotha eingeäschert.

Als Hirnforscher war es das Hauptanliegen Wernickes gewesen, die materiellen, d.h. biochemischen und morphologischen Grundlagen des menschlichen Bewußtseins, ja sogar der Seele im Gehirn zu bestimmen bzw. zu lokalisieren. Er steht somit in der uralten abendländischen Tradition der Lokalisationsforschung, die, getragen von Ärzten, Philosophen und Biologen, bis in das 6. vorchristliche Jahrhundert zurückreicht. Seine Forschungen auf diesem Gebiet wurden bald mit der Entdeckung der sensorischen Aphasie gekrönt, d.h. es glückte ihm, die Behinderung bzw. Aufhebung des Sprach- und Leseverständnisses, die durch eine Läsion des sensorischen Sprachzentrums bedingt ist, zu erklären. Auf Grund dieser Entdeckung setzte sich Wernicke zu Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn intensiv mit der Hirnforschung auseinander. Die entsprechenden Ergebnisse fanden ihren Niederschlag im Lehrbuch der Gehirnkrankheiten.

Die anatomische Betrachtungsweise war auch später grundlegend für Carl Wernickes Forschungen. Seine Schrift Grundriß der Psychiatrie zielt darauf ab, einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen krankhaften Gehirnstrukturen und psychopathologischen Symptomen zu postulieren, eine Vorgehensweise, welche die Kritik zahlreicher zeitgenössischer Mediziner und Philosophen hervorrief. So nannte ihn beispielsweise Karl Jaspers einen „Hirnmythologen“ (Jaspers, S. 13), der fälschlicherweise die unterschiedlichsten psychischen Störungen verschiedenen Hirnbereichen zugeordnet habe, um diese dann für alle Störungen des Seelenlebens verantwortlich zu machen. Wernickes Schüler hingegen, vor allem Hugo Liepmann, nahmen ihren Lehrer vor solchen Angriffen in Schutz. Sie konterten, Wernicke habe an sich gar keine gehirnanatomischen Lokalisationen vorgenommen, sondern lediglich das seelische Leben in solche Elemente zergliedert, die „als subjektive Parallelvorgänge zu Funktionen eines nervösen Apparates“ (Lanczik, S. 80) gelten könnten.

Carl Wernickes Einfluß auf die Psychiatrie wird insbesondere im Wirken seiner Schüler Karl Heilbronner, Karl Kleist, Karl Bonhoeffer, des Vaters des von den Nationalsozialisten hingerichteten Pfarrers Dietrich Bonhoeffer, und Hugo Liepmann greifbar.

Wernicke trat nicht nur als bedeutender Hirnforscher hervor, sondern auch als Kliniker, der zahlreiche psychopathologische Fachtermini schuf, die bis heute gebräuchlich sind. Auch auf die Neurologie hat Wernicke befruchtend eingewirkt. So erforschte er die zerebrale Hemiplegie (Lähmung einer Körperseite), die „Wernicke-Enzephalopathie“ (ein Gehirnleiden mit Augenmuskellähmung, entzündlicher Veränderung der Pupillen, Störung der Koordination von Muskelbewegungen und Benommenheit), die Tastlähmung (Unfähigkeit, durch Betasten einen Gegenstand zu erkennen) sowie die Pupillenstarre bei Ausfall einer Hälfte des Gesichtsfeldes (hemianopische Pupillenstarre).

Die Universität Breslau hat es vor allem dem Wirken Carl Wernickes zu verdanken, daß sie im 19. Jahrhundert zu einem Zentrum der Nervenheilkunde und der Psychiatrie avancieren konnte.

Werke: Der aphasische Symptomencomplex. Eine psychologische Studie auf anatomischer Basis, Breslau 1874. – Erkrankung der inneren Kapsel. Ein Beitrag zur Diagnose der Herderkrankungen, med. Diss. Breslau 1875. – Über das Urwindungssystem des menschlichen Gehirns, in: Arch. Psych. 6 (1876), S. 298-326. – Lehrbuch der Gehirnkrankheiten für Ärzte und Studierende, I-III, Kassel und Berlin 1881-1883. – Über die hemiopische Pupillenreaction, in: Gesammelte Aufsätze und kritische Referate zur Pathologie des Nervensystems, hrsg. von Carl Wernicke, Berlin 1893, S. 209-214. – Grundriß der Psychiatrie in klinischen Vorlesungen, Leipzig 1894-1900, 2. Aufl. ebd. 1906. – Zus. mit OtfridFoerster und Paul Schröder (Hrsgg.): Atlas des Gehirns, I-III, Berlin 1897-1903. – Der aphasische Symptomenkomplex, in: Die deutsche Klinik am Eingange des zwanzigsten Jahrhunderts, VI, hg. von Ernst von Leyden und Felix Klemperer, Berlin und Wien 1906, S. 487-556.

Lit.: Karl Jaspers: Allgemeine Psychopathologie, 3.Aufl. 1922. – Kurt Goldstein: Carl Wernicke (1848-1905), in: Webb Haymaker (Hrsgg.), The Founders of Neurology, Washington 1957, S. 406-409. – Otto M. Marx: Nineteenth-century Medical Psychology. Theoretical Problems in the Work of Griesinger, Meynert and Wernicke, in: Isis 61 (1970), S. 335-370. – Rudolf Degkwitz: Hundert Jahre Nervenheilkunde, Stuttgart 1985. – Mario Lanczik: Der Breslauer Psychiater Carl Wernicke.Werkanalyse und Wirkungsgeschichte als Beitrag zur Medizingeschichte Schlesiens, Sigmaringen 1988 (= Schlesische Forschungen, 2) [Bibl. und Portr.Wernickes]. – Gundolf Keil und Mario Lanczik: Carl Wernicke’s Localization Theory and its Significance for the Development of Scientific Psychiatry, in: Hist. Psychiatr. 2 (1991), S. 171-180. – P.J. Mathews, L.K. Obler und M.L. Albert: Wernicke and Alzheimer on the Language Disturbances of Dementia and Aphasia, in: Brain Lang. 46 (1994), S. 439-462.

 

 Werner E. Gerabek