Biographie

Westarp, Kuno Graf von

Herkunft: Posener Land
Beruf: Oberverwaltungsgerichtsrat, konservativer Politiker
* 12. August 1864 in Ludom, Kr. Obornik/Provinz Posen
† 30. Juli 1945 in Berlin

Graf Westarp war einer der führenden konservativen Politiker in Deutschland im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Während des Ersten Weltkrieges wirkte er in den entscheidenden parlamentarischen Gremien als Vorsitzender der Reichstagsfraktion der Deutschkonservativen Partei, deren Einfluß angesichts des Ranges ihrer Anhänger in Staat und Gesellschaft trotz 1912 verringerter Mandatszahl bedeutsam war. Als Vorsitzender der Deutschnationalen Volkspartei und der Reichstagsfraktion dieser stärksten bürgerlichen Partei nach 1918 trat er trotz grundsätzlicher Vorbehalte für deren Mitarbeit in der Republik ein.

Der nach dem frühen Tod des Vaters, eines preußischen Forstbeamten, in Potsdam aufgewachsene Westarp hatte nach dem Jurastudium in Tübingen, Leipzig und Breslau sich die Verwaltungslaufbahn in Preußen als Lebensaufgabe gewählt. 1893 erhielt er mit 29 Jahren die erste selbständige Stelle als Landrat des Kreises Bomst (Provinz Posen), 1900 übernahm er das Landratsamt Randow im Vorfeld von Stettin. Auf eine Abordnung ins preußische Innenministerium folgte die Leitung der Polizei in Schöneberg bei Berlin (1904 Polizeipräsident), eine Zeit, in der er sich wissenschaftlicher Arbeit am preußischen Verwaltungsrecht (auch durch Mitarbeit am Handbuch der preußischen Verwaltung, 1. Auflage 1906) widmete. Dies bildete 1908 die Grundlage für seine Berufung als Oberverwaltungsgerichtsrat ins preußische Oberverwaltungsgericht, das in höchster Instanz Recht sprach.

Diese ihm im verhältnismäßig niedrigen Alter von 44 Jahren übertragene Aufgabe höchstrichterlicher Arbeit am Preußischen Verwaltungsrecht und seiner Weiterentwicklung konnte als Krönung der Laufbahn Westarps gelten. Doch da erreichte ihn im selben Jahr unerwartet aus dem Kreis Bomst, den er sieben Jahre verwaltet hatte, die Aufforderung, nach dem Tod des dortigen Reichstagsabgeordneten durch seine Kandidatur den Verlust des Wahlkreises Meseritz-Bomst an die polnische Wählerschaft zu verhindern. Daß er sich aus seiner Kenntnisder nationalen und konfessionellen Gegensätze in den preußischen Ostprovinzen für diese politische Aufgabe entschied – gegen die daneben nicht mehr voll zu leistende Arbeit höchstrichterlicher Rechtsprechung und damit eine gesicherte Lebensstellung -, zeigt seine Grundeinstellung zur Mitarbeit im Staat.

Wenige Wochen nach der Daily Telegraph-Affäre 1908 in den Reichstag gewählt, wurde Westarp in der deutschkonservativen Fraktion, der er sich anschloß, die Bearbeitung zweier schwerwiegender Reformfragen, der Erbschaftssteuer und des preußischen Wahlrechts, anvertraut. Gemeinsam mit dem Führer der Deutschkonservativen, von Heydebrand, entschied er sich hier wie bald darauf hinsichtlich der Weiterbildung des Regierungssystems für eine Beibehaltung der als bewährt angesehenen Grundlagen des preußischen Staates. Seine politischen Anschauungen waren durch die Spätzeit der Kanzlerschaft Bismarcks, durch die Konsolidierung des Reiches und den Aufstieg Deutschlands im Kreis der europäischen Mächte geprägt.

Seit 1913 Fraktionsvorsitzender, trat Westarp während des Ersten Weltkriegs für die volle Anwendung der deutschen Kriegsmittel, so den uneingeschränkten U-Boot-Krieg, ein, beschränkte sich aber im Gegensatz zum Alldeutschen Verband bei den territorialen Kriegszielen auf das für die Sicherheit des Reiches als unerläßlich Angesehene; innere Reformen sollten erst nach dem Krieg durchgeführt werden. Grundsätzliches Eintreten für die Rechte der Krone und der Reichsleitung hinderte die Konservativen nicht – Westarp nun auch in seiner regelmäßigen Mitarbeit in der Kreuzzeitung -, Bethmann Hollwegs Politik als zu schwach zu kritisieren. Die sich abzeichnende Niederlage, für die die Konservativen den fehlenden Kampfwillen der Reichstagsmehrheit und die Schwäche der Reichsleitung verantwortlich machten, erlebten sie in dem bitteren Gefühl, nichts ändern zu können.

Der Umsturz im November 1918 entzog der bisherigen konservativen Politik die Grundlagen, für deren Erhaltung sie sich – gewiß oft zu starr – eingesetzt hatte. Die Abtrennung ostdeutscher Gebiete durch den Versailler Vertrag empfand Westarp als Verlust seiner persönlichen und beruflichen Heimat; ihre Rückkehr war für ihn ein wichtiges Zukunftsziel. Für die Wahl der Verfassunggebenden Nationalversammlung waren die örtlichen Gremien der neuen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), bei deren Zusammenschluß aus mehreren politischen Richtungen Westarp den konservativen Einfluß zu sichern versuchte, nicht bereit, prominente Konservative aufzustellen. Westarp erwog, sich vollständig aus der Politik zurückzuziehen und sich – 54 Jahre alt – nunmehr ganz seinem richterlichen Beruf zu widmen. Doch ließ ihn die Politik nicht los. Er entschloß sich in Auseinandersetzung mit den Forderungen des Tages zur vollen Mitarbeit in der DNVP als einer bürgerlichen Volkspartei, die sich unter nationalem, christlichem und sozialem Vorzeichen sammelte und die ideologischen und wirtschaftspolitischen Gegensätze ihrer Gründerparteien auszugleichen versuchte; hinzu kam eine leitende Mitarbeit in der Kreuzzeitung.

Als unerläßliche Bedingung einer Erneuerung des niedergebrochenen Deutschland bezeichnete Westarp die Wiedererrichtung der Hohenzollern-Monarchie in Preußen und im Reich, auch wenn diese Haltung die Tagespolitik erschwerte. Seit Beginn der Republik bestand das Dilemma, in dem bestehenden, grundsätzlich abgelehnten Staat zur Erreichung eigener Ziele mitarbeiten zu müssen, dadurch aber diesen Staat zu festigen.

Westarp, seit Juni 1920 wieder Mitglied des Reichstags, wurde durch intensive Arbeit an der Bewältigung der Währungsprobleme, der Konsolidierung der an den Kriegsfolgen noch leidenden Wirtschaft und Landwirtschaft bald einer der führenden Politiker der DNVP, die 1924 zur stärksten Reichstagsfraktion (20 Prozent der Mandate) aufstieg und damit vor der Frage einer Regierungsbeteiligung stand. Die Bereitschaft hierzu setzte sich gegen manche Widerstände unter Mitwirkung Westarps 1925 durch und stärkte die Partei, die sich für Interessen ihrer Wähler, etwa auch in der Außenhandelspolitik, einsetzen konnte, aber mit den gestiegenen Erwartungen auch Unzufriedenheit erntete.

Mit der Übernahme des Vorsitzes der Reichstagsfraktion 1925 und 1926 auch des Parteivorsitzes trug Westarp die Verantwortung für eine Beteiligung an der Reichsregierung von Januar 1927 bis April 1928. Während die Schlachten um den Dawes-Plan (1924), die Locarno-Verträge (1925) und den Eintritt in den Völkerbund geschlagen waren, kam es über dem Reichsschulgesetz zum Koalitionsbruch mit dem Zentrum und der Deutschen Volkspartei. Die schwerste Belastung des Koalitionspartners DNVP, die Verlängerung des Republikschutzgesetzes, hatte Westarp im Interesse einer erfolgreichen Aufbaupolitik auf sich genommen, dadurch jedoch schwere Mißstimmung in der monarchistischen Partei geschaffen, die von seinen alldeutschen Gegnern 1928 zu seiner Ablösung als Parteivorsitzender durch Alfred Hugenberg ausgenutzt wurde. Ein erheblicher Rückschlag in den Wahlen 1928 gab dazu den Anlaß.

Der neue Parteivorsitzende Hugenberg betrieb anders als Westarp, der bis 1929 Fraktionsvorsitzender blieb, mit schroffer Ablehnung, ja Obstruktionspolitik, den Sturz der Regierungen, auch des Präsidialkabinetts Brüning mit seinen agrarfreundlichen Vorlagen. Dagegen vertrat Westarp eine Linie konstruktiver Opposition im Interesse des in große wirtschaftliche Schwierigkeiten geratenen Staates. Nach der Spaltung der DNVP im Sommer 1930 entschloß sich Westarp mit der von ihm mitgetragenen Konservativen Volkspartei zur Stützung Brünings gegen die radikale Obstruktion von NSDAP und DNVP. Auf derselben Linie lag die Unterstützung der Wiederwahl Hindenburgs als Reichspräsident im Frühjahr 1932. Mit der Auflösung des Reichstags nach dem Sturz Brünings endete Westarps politische Tätigkeit, für die trotz des Gedankens Hindenburgs, ihn zum Nachfolger des Reichskanzlers Brüning zu machen, angesichts des Aufstiegs der NSDAP und Hitlers keine Grundlage mehr bestand.

Die ersten Erfolge Hitlers in der Revision des Versailler Vertrags verfolgte Westarp, zurückgezogen in Berlin lebend, mit Interesse, allerdings auch mit Bedenken wegen der Methode. Die innerdeutschen Verhältnisse betrachtete er vor allem dann im Zweiten Weltkrieg mit zunehmender Sorge angesichts der wachsenden Rechtlosigkeit, selbst für den Fall eines siegreichen Kriegsendes, ja gerade dafür. Der Zusammenbruch des Reichs im Frühjahr 1945 traf ihn trotz aller Bedenken gegen die bestehende nationalsozialistische Herrschaft als Patrioten schwer. Ende Juni 1945 wurde er, kurz bevor sein Berliner Wohnbezirk von der Sowjetischen Militäradministration an die Westalliierten übergeben wurde, ohne Angabe von Gründen verhaftet. Nach mehrwöchiger Haft wurde er todkrank zu seiner Tochter in den nun unter britischer Besatzungsmacht stehenden Bezirk Grunewald entlassen. Dort ist er bald darauf gestorben.

Werke: Die Regierung des Prinzen Max von Baden und die Konservative Partei. Berlin 1921,21928. – Am Grabe der Parteiherrschaft. Bilanz des deutschen Parlamentarismus von 1928 bis 1932. Berlin 1932. – Konservative Politik im letzten Jahrzehnt des Kaiserreichs. 2 Bände, Berlin 1935. – Das Ende der Monarchie am 9. November 1918. Hrsg. von Werner Conze. Stollhamm-Berlin 1952. – Konservative Politik im Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik. Bearbeitet von Friedrich Frhr. Hiller von Gaertringen (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Dritte Reihe Band X), Düsseldorf (1995, in der Herstellung).

Lit.: Heinrich Teipel: Graf von Westarp. Der Parlamentarier wider den Parlamentarismus. Berlin 1932. – Karl Dietrich Bracher: Die Auflösung der Weimarer Republik. Stuttgart und Berlin21957. – Michael Stürmer: Koalition und Opposition in der Weimarer Republik. Düsseldorf 1969. – Annelise Thimme: Flucht in den Mythos. Die Deutschnationale Volkspartei und die Niederlage von 1918. Göttingen 1969. – Friedrich Frhr. Hiller von Gaertringen: Die Deutschnationale Volkspartei. In: Das Ende der Parteien 1933. Hrsg. von Erich Matthias und Rudolf Morsey. Düsseldorf 1960. – ders.: Zur Beurteilung des ´Monarchismus´ in der Weimarer Republik. In: Tradition und Reform in der deutschen Politik. Gedenkschrift für Waldemar Besson. Hrsg. G. Jasper. Frankfurt/M.-Berlin 1976; auch in: Weimarer Republik. Belagerte Civitas. Hrsg. Michael Stürmer. Königstein/Ts. 1980 (= Neue Wissenschaftliche Bibliothek Bd. 112).

Bild: Photo von Lazi Stuttgart, aus dem Jahre 1930; Archiv des Verfassers.

 

  Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen