Richard Wetz ist Zeitgenosse von Pfitzner, Reger und Rachmaninow, aber auch von Debussy, Ravel, Schönberg, Bartók und Strawinsky. Schon diese Aufzählung macht die Pluralität der Stile und Richtungen der Musik in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts deutlich. Wollte man nun Wetz einem der Genannten zuordnen, käme wohl am ehesten Pfitzner in Frage. Und sofort fallen – gleichsam als Bestätigung dieser Zuordnung – Parallelen ins Auge: wie man Pfitzner schlagwortartig mit dem Etikett „Wagner-Nachfolge“ kennzeichnete, so Wetz mit dem der „Bruckner-Nachfolge“. Beide Komponisten rieben und stießen sich an der modernen Musik ihrer Zeit, Pfitzner laut und vernehmlich, von der Öffentlichkeit gehört und beachtet, Wetz in Stille und Einsamkeit, kaum gehört und wenig beachtet.
Schon früh wurde die Einsamkeit – so formulierte Wetz es selbst ohne Beschönigung und Wehleidigkeit – seine „größte Freundin“. Er war gewiß das, was man mit dem etwas distanzierenden Begriff „Eigenbrötler“ umschreibt – eine Spezies, die im Bereich der Musik offenbar gar nicht so selten ist. Wetz war undiplomatisch, unbeugsam, unbeirrbar und kompromißlos. Das zeichnete sich schon während seiner Schulzeit in Gleiwitz ab. „Die Schule wurde mir gleichgültig, die Musik hatte mich ganz“, resümierte er später lapidar und unmißverständlich. Auf dem Leipziger Konservatorium hielt er es ganze 6 Wochen aus; „der Geist, der dazumal dort herrschte, war nicht der, den ich brauchen konnte“, lautet die ungnädige Begründung dafür, daß er es verließ, um fortan seine Ausbildung bei verschiedenen Privatlehrern fortzusetzen, die er mit äußerst kritischen Augen betrachtete und dementsprechend häufig wechselte. Mit 25 Jahren wurde er Theaterkapellmeister an kleineren Häusern (Barmen, Stralsund), aber – wie hätte es anders sein können? – er mochte den dortigen Theaterbetrieb mit seinen Unzulänglichkeiten und Flickschustereien nicht und fühlte sich oft „dem Ersticken nahe“. Nach einigen vergeblichen Versuchen, als Musiklehrer Fuß zu fassen, ging er zu weiteren Studien nach Leipzig zurück. Es folgen „Jahre voller Bitterkeiten und Enttäuschungen“, bis 1906 das vor materieller Not rettende Stellenangebot aus dem thüringischen Erfurt kam, das dann auch seine Wahlheimat wurde: in Erfurt hat er fast 2 Jahrzehnte lang (bis 1925) den Musikverein geleitet. Zwar empfand er das Amt, das ihm zu wenig Zeit zum Komponieren ließ, zuweilen als „Tretmühle“ scheint sich aber doch recht wohl gefühlt zu haben, zumal er als Kompositionslehrer und Professor am Landeskonservatorium Erfurt auch eine ihm gemäße und geachtete Position er hielt.
Als Komponist war er keinesfalls erfolglos, wenn auch nicht gerade populär, wie die von Erich Peter in der Wetz-Dokumentation zusammengetragenen Aufführungshinweise belegen. Danach scheint die 1903 vollendete, später noch einmal umgearbeitete Kleist-Ouvertüre op. 16 – ein düsteres, in herben Klangfarben gehaltenes Seelengemälde, dessen aggressive Klangballungen und schneidende Dissonanzen lange in Gedächtnis haften bleiben – sein erfolgreichstes, d.h. an häufigsten aufgeführtes Werk gewesen zu sein. Kein Geringerer als der berühmte Dirigent Arthur Nikisch hat die Konzertouvertüre, wenn auch nicht uraufgeführt – wie man zuweilen liest –, so doch wiederholt in seine Konzert Programme aufgenommen (und dies natürlich nur ihrer Durchschlagskraft und Wirkung wegen). Selten hört man heute Stücke von Wetz, aber wenn sie gespielt werden, bewähren sie sich vor allem aufgrund gediegener, souveräner Satztechnik und formaler Meisterschaft. Da gilt für seine an Reger (und in weiterem Sinne an Bach) an knüpfende Violinsolosonate op. 33 ebenso wie für die gelegentlich als Bekenntnis zu Schumann gewerteten „Variationen über ein eigenes Thema“ für Klavier op. 42 oder die „Passacaglia und Fuge d-moll“ für Orgel. Für ein besonders hervorragendes und wirkungsvolles, noch der Wiederentdeckung harrendes Werk darf man das 2. Streichquartett op. 49 halten, das sich durch weiträumige Formanlage
, die Einbeziehung kontrapunktischer Techniken und quasi orchestrale Klangfülle auszeichnet und in seiner stilistischen Haltung gewiß im Sinne einer Wahlverwandtschaft von der Bruckner-Verehrung des oberschlesischen Meisters zeugt. Das gilt – aber natürlich niemals im Sinne unselbständiger Anlehnung – auch für sein Hauptwerk, das 1923-25 komponierte Requiem h-Moll op. 50, das nach dem Willen des Komponisten „alles übertreffen“ sollte, was er bis dahin geschrieben hatte. Das an die große spätromantische Oratorientradition anknüpfende Werk bewies 1976 in einer Aufführung im Altenberger Dom, daß es sich neben den großen, einschlägigen Werken dieser Gattung behaupten kann.
Auf der Schallplatte war Wetz bisher – salopp formuliert – ein „seltener Gast“. Kein einziges seiner ca. 100 Lieder ist auf der Schallplatte vertreten. Immerhin aber weist der Bielefelder Katalog 2 Orgelstücke von Wetz aus, die Toccata e-moll sowie die Passacaglia und Fuge d-moll (eingespielt von Rudolf Walter, Heidelberg). Umso überraschender mag die Ankündigung wirken, daß im Herbst 1984 seine 3. Sinfonie auf der Schallplatte herauskommen wird – für Wetz-Interessenten eine gute Gelegenheit, eines der großformatigen und anspruchsvollen Werke des unzeitgemäßen, aber bedeutenden oberschlesischen Meisters kennen- und schätzen zu lernen.
Lit.: Erich Peter (Hg.): Richard Wetz (1875-1935) als Mensch und Künstler in seiner Zeit. Eine Dokumentation mit zeitgenössischen Darstellungen und Selbstzeugnissen zum 100. Geburtstag des Meisters. Dortmund: Forschungsstelle Ostmitteleuropa 1975.
Hans-J. Winterhoff (1985)