Biographie

Wieacker, Franz

Herkunft: Pommern
Beruf: Rechtsgelehrter
* 5. August 1908 in Stargard/Pommern
† 17. Februar 1994 in Göttingen

Dass der große Rechtsgelehrte Franz Wieacker in den Ostdeutschen Gedenktagen gewürdigt wird, ist in der Sache nur gerechtfertigt. Wieackers Geburtsort indessen, Stargard in Hinterpommern, wo er am 5. August 1908 das Licht der Welt erblickte, ist eher kontingent. Der Vater, der den gleichen Vornamen Franz trug, war dorthin als preußischer Richter berufen worden; aufgewachsen ist Wieacker in Weilburg an der Lahn, wohin sich die Familie nach einem schweren Autounfall des Vaters zurückgezogen hatte. Die Jugendjahre verbrachte er vor allem in Stade, wo der Vater als Präsident des Landgerichts wirkte. Beide Elternteile waren also westdeutscher Herkunft, der mütterliche Familienzweig von Pastoren geprägt. Die Familie war evangelisch, teils lutherischer, teils reformierter Prägung. Der Schüler Franz Wieacker scheint umfassend literarisch, philologisch und historisch interessiert gewesen zu sein. Für die Berufswahl bestimmend war indes das väterliche Vorbild. Er studierte zügig, in Tübingen, München, die letzten beiden Semester an dem späteren jahrzehntelangen Wirkungsort Göttingen, und als 21-Jähriger, der das Referendarexamen„mit Auszeichnung“ bestanden hatte, folgte er seinem akademischen Lehrer Pringsheim als Assistent nach Freiburg.

Freiburg wurde der eigentliche Ort der Lehrjahre Wieackers, mit vielfachen Kontakten über die engeren Grenzen der eigenen Disziplin hinaus, unter anderem mit Ernst Forsthoff, Hermann Heimpel, Wolfgang Schadewaldt. Sein genuines Fach wurde das Römische Recht, mit der Promotion im Jahr 1930, der Habilitation nur zwei Jahre später. Schon vor der Habilitation hatte die Königsberger Fakultät Interesse an seiner Berufung bekundet, Franz Beyerle förderte ihn, so dass er in Frankfurt Lehrstuhlvertreter wurde. Nach kürzerer Lehrtätigkeit in Kiel lehrte er seit 1936, zunächst als Vertreter, dann seit dem 1. Januar 1937 als Professor, in Leipzig. Zum nationalsozialistischen Regime hielt er indessen Distanz, obwohl die Juristische Fakultät zu Kiel, einer seiner ersten Wirkungsorte, zu einer nationalsozialistischen Musterfakultät ausgebaut werden sollte. An einer Festschrift zu Ehren von Otto Lenel, einem seiner jüdischen Freunde und Kollegen, beteiligte er sich 1935 mit einem großen Beitrag. Das Kriegsende erlebte er als Soldat in Italien, nahe Rimini. In der Lageruniversität übernahm er rasch die Funktion des Dekans der Juristischen Fakultät und hielt Vorlesungen zur Römischen Rechtsgeschichte. Seine akademische Laufbahn in den Nachkriegsjahren war bewegt und von mehreren Ortswechseln bestimmt: Er lehrte sogleich im Wintersemester 1945 in Göttingen, 1948 folgte er einem Ruf nach Freiburg, 1953 aber wechselte er, bei erneuter Berufung endgültig nach Göttingen. Eine Berufung nach Heidelberg zog er in späteren Jahren immerhin ernsthaft in Betracht, zudem behielt er einen zweiten Wohnsitz in Freiburg bei. 1973 ließ er sich zum frühest möglichen Zeitpunkt in Göttingen emeritieren. Nicht zuletzt durch die Aufkündigung der „Genossenschaft der Lehrenden und Lernenden“, als die er die Universität wahrgenommen hatte, in den Folgen von 1968 hatte er die Freude an der akademischen Lehre verloren. Die folgenden zwanzig Jahre waren eine umso ertragreichere Zeit der Forschung, namentlich der Ausarbeitung der Römischen Rechtsgeschichte für das Handbuch der Altertumswissenschaft: fünf Jahre kostet der erste Textband, ein Jahrzehnt die Nachweise und Anmerkungen, der zweiteBand begleitete ihn bis kurz vor seinem Tod. Er liegt seit 2006 vor. Nach Zeugnissen der Freunde und Schüler weitgehend frei von Altersbeschwerden, konnte er am Ende auf nahezu sechzig intensive Schaffensjahre zurückblicken. Ergebnis ist ein immenses Werk mit ca. 350 Publikationen neben den Opera magna, darunter neben dem Handbuch eine bis heute klassische Privatrechtsgeschichte der Neuzeit.

SeinWerk umfasst neben dem Römischen Recht und der Geschichte des Privatrechts gewichtige Untersuchungen zur Zivilrechtsdogmatik und zur Rechtstheorie, zur Rechtsphilosophie und – in späteren Jahren zunehmend – zu Methodenfragen. Schon früh fällt an seinen Schriften eine entschiedene Wendung gegen Rechtspositivismus und Formalismus auf, daneben die Tendenz, den Liberalismus in die Schranken zu verweisen und die Rechtsentwicklung in den Vordergrund zu rücken. Es ist eine Signatur von Wieackers Lebenswerk, dass er das Recht als lebendige Dimension des geschichtlichen und kulturellen Lebens zu begreifen wusste.

In einem programmatischen Aufsatz von 1935 Zum Wandel der Eigentumsverfassungzeigt sich eine Position, die aus älteren Quellen schöpft, teilweise Nähen zu Max Weber oder Oswald Spengler erkennen lässt, aber durchaus in NS-Rechtsauffassungen integrierbar ist. Im Rückblick hat Wieacker über seine eigene einstige Illusion sehr kritisch geurteilt: Er habe zeitweise ernstlich gemeint, „das neue Regime habe es damals ernstlich auf eine gerechte Neuordnung der Sozial- und Besitzverfassung abgesehen“. Zeitlebens legte Wieacker gewichtige Beiträge zum Zivilrecht vor: Ihm lag dabei an der Bestimmung der Funktionsgehalte des Rechts. Auf diese Weise konnte er die großen konkurrierenden Theorien des 19. Jahrhunderts in einen Zusammenhang bringen und als komplementäre Modelle verständlich machen.

Im Römischen Recht wird von Anfang an besonders deutlich, dass Wieacker, stark von Max Weber geprägt, von der Verbindung sozial- und rechtsgeschichtlicher Probleme ausgeht. Er promovierte über die Lex commissoria, ein Thema des Erwerbsrechts, und die Societas, als Erwerbsgesellschaft des römischen Privatrechts war sein Habilitationsgegenstand. Die frühe römische Rechtsentwicklung zieht dabei besonders Wieackers Augenmerk auf sich: so wendet er sich der Entstehung des Rechtsinstitutes des Testamentes und der Erbteilung zu. Aus einer Vielzahl von Einzelstudien erwächst die Freilegung der archaischen Rechtsstruktur: Wieacker zeigt, in souveräner Beherrschung der einschlägigen altertumswissenschaftlichen Disziplinen, dass die römische Frühzeit keine Normenordnung kennt, wohl aber die Unterscheidung von ius und iustum einerseits von rechtloser Gewalt, vis, andererseits. Wieacker Legt zudem die Bedeutung von rituellen Deklarationsvorgängen für die Genese dieser Unterscheidung dar.

Von unschätzbarem Wert ist Wieackers Werk für die Textkritik der romanistischen Rechtsquellen. Er hat die Genese der einzelnen Rechtsschriften von der Niederschrift bis zu der Auswertung durch die Kompilatoren im einzelnen nachgezeichnet und damit eine wesentliche zweite Säule neben der auf die Justinianschen Interpolationen gerichteten älteren Quellenkritik wesentlich mit errichtet. Schon in den dreißiger Jahren gab es grundlegende textkritische Debatten: Wieacker kann fruchtbar an sie anschließen und sie auf eine neue Ebene heben. Maßgeblich ist hier sein StandardwerkTextstufen klassischer Juristen (1959, 1975).Wieacker hat sich weiterhin mit einzelnen Juristenpersönlichkeiten der römischen Zeit, einschließlich ihres sozialen Umfeldes, eingehend befasst. Dabei hat er zum Teil wichtige Differenzierungen vorgetragen: Gegen Kunkels These von der Adelsjurisprudenzin der hohen Republik macht er deutlich, dass die Jurisprudenz vielmehr ein Weg zum Aufstieg in die Nobilität ist, gegen die Common sense-These vom Erfahrungsgehalt der römischen Juristerei, die primär auf „auctoritas“ gestützt gewesen sei, verweist er auf die Reflexion, die Fallvergleichung und Systematik, in die dieses Erfahrungswissen einbezogen wurde.

In seinem Opus magnum zur römischen Rechtsgeschichte konnte er die Summe aus diesen Forschungen ziehen: orientiert an der umfassenden Offenlegung der empirischen, historisch gewordenen Wirklichkeit des Römischen Rechts. Man hat es hier offensichtlich mit mehr zu tun als einem reinen Handbuch: Der Forschungsstand wird nicht nur kritisch wiedergeben, das Werk ist zugleich in allen behandelten Feldern eine eigenständige Forschungsleistung, klar konturierend und zugleich problematisierend, in einer, wie angemerkt worden ist, eigenständigen wissenschaftlichen Prosa, die sich konsequent des Jargons enthält. Es ist erstaunlich genug, dass Wieacker nach dem Erscheinen des ersten Bandes 1988 bis zu seinem Tode auch den Text des zweiten abschließen und den wissenschaftlichen Apparat zumindest im Umriss anlegen konnte. Er ist pünktlich 2006 im Verlag C.H. Beck erschienen.

Ein bedeutendes Werk ist auch Wieackers Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, in erster Auflage 1952 vorgelegt und als Leitfaden für Vorlesungen konzipiert. Er zeigt eindrucksvoll, wie das römische Ius Commune die einzige verbindliche und universelle Tradition der europäischen Rechtsgeschichte ist. Von ihr her lassen sich Kontinuität der antik-abendländischen Rechtsgeschichte und die Einheit der Rechtsentwicklung erkennen, freilich stets variiert durch das Zusammenspiel von Recht und sozialer Realität. Bis heute ist die Privatrechtsgeschichte ein unverzichtbares Standardwerk, auch für Historiker, ihr Ansehen ist noch immer weiter im Ansteigen begriffen und sie hat längst eine europaweite Rezeption erfahren.

In seinen methodischen Schriften hat sich Wieacker besonders prägnant mit einem Problem höchster Relevanz auseinandergesetzt: dem Zusammenhang von Gesetz und Richterkunst, vor dem Hintergrund, dass die logische Operation einer einfachen Subsumption von Fällen unter das Gesetz nicht hinreicht und vielmehr eine hermeneutische Kunstlehre erforderlich ist, weil das Gesetz, wie schon Platon wusste, selbst nicht über die Bedingungen seiner Anwendung zu befinden vermag. Rechtsdogmatik ist in diesem Sinne eine öffentliche Handlung. Ein abstrakter Szientismus, sei er, wie in den sechziger Jahren gängig, abstrakt logisch, sei er sprachanalytisch verfasst, führt dabei nicht weiter. Begriffs-, Mentalitäts- und Institutionengeschichte sind vielmehr unerlässliche Orientierungen. Von hier her hat Wieacker auch einem abstrakten Moralismus in der Rechtswissenschaft und einer apodiktischen Orientierung am zeitlosen Naturrecht widersprochen. Absolute Geltung können überspositive Normen nicht beanspruchen, da das Recht in eine geschichtliche Entwicklung einbezogen ist. Dies führt zu einer dezidierten Toleranzforderung. Doch Wieacker war darüber hinaus von der Existenz einer Gesetzespositivität transzendierenden Gerechtigkeit überzeugt, wie wohl diese immer nur annäherungsweise und nur in verschiedenen Facetten und Perspektiven zur Erscheinung kommen könne.

Die Urbanität, das Wesen eines souveränen Bewohners der Gelehrtenrepublik, dem Geselligkeit und scharfsinniger Umgang viel bedeuteten, die Freundlichkeit und Lebenszugewandtheit Wieackers sind viel gerühmt worden. Ein großartiger, inspirierender Lehrer muss er gewesen sein, dessen Vorlesung freilich viel abforderte, ihm selbst und den Hörern,Spiegel einer endgültig untergegangenen akademischen Kultur, die sich mit dem Namen Wilhelm von Humboldts verbindet und nach 1945 noch einmal ihre Orientierungs- und Überzeugungskraft bewies. Der spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker hatte zu Wieackers frühen Hörern in der Nachkriegszeit gehört. Er rief dem Lehrer nach: „Kein anderer hat uns, wie er, nahegebracht, nicht nur, dass das Recht von der ganzen Kultur seiner Zeit geprägt wird, sondern in einem wie hohen Maß die Kultur in ihren jeweiligen geschichtlichen Epochen ihr Wesen im Recht findet und ausdrückt“. So sei es nur natürlich gewesen, fährt von Weizsäcker fort, dass Wieackers Vorlesungen ihm selbst und seinen Kommilitonen„zum Leitfaden unseres ganzen Studiums und Reifeprozesses wurden […]. Was sich für uns an Wegzehrung mit dem Namen der Georgia-Augusta verband, das verdanken wir keinem so sehr wie Franz Wieacker, und so ist es geblieben“.

Werke:Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. Göttingen 1952, 21967 (neubearbeitete Auflage). – Römische Rechtsgeschichte. 2 Bände. Im Handbuch der Altertumswissenschaft. München 1988 und 2006 (aus dem Nachlass). – Textstufen klassischer Juristen. Göttingen 1959. 21975 (unveränderte Neuauflage). – Gründer und Bewahrer. Rechtslehrer der neueren deutschen Privatrechtsgeschichte. Göttingen 1959. – Ausgewählte Schriften. Band 1. Methodik der Rechtsgeschichte. Band 2. Theorie des Rechts und der Rechtsgewinnung. Hgg. von D. Simon. Frankfurt/M. 1983.

Lit.:Festschrift für Franz Wieacker zum 70. Geburtstag, hrsg. von O. Behrends u.a., Göttingen 1978. – Rechtsdogmatik und praktische Vernunft. Symposium zum 80. Geburtstag von Franz Wieacker, hrsg. von O. Behrends u.a., Göttingen 1990. – In memoriam Franz Wieacker. Akademische Gedenkfeier am 19. November 1994 in Göttingen, Göttingen 1995, darin insbesondere die Gedenkrede von J. G. Wolf, S. 17ff. und Gedenkworte des ehemaligen Bundespräsidenten R. von Weizsäcker, S. 12 ff. – O. Behrends, Franz Wieacker 5.8.1908-17.2.1994, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Romanistische Abteilung). 112 (1995), S. XIII ff.

Bild:Festschrift für Franz Wieacker zum 70. Geburtstag, Frontispiz.