Die evangelische Familie Wilamowitz-Moellendorff hat seit der Inbesitznahme des Posener Landes durch die Preußen bei der Zweiten Teilung Polens (1793) an eine Bedeutung gespielt. Der Aufstieg der aus der Prignitz stammenden Familie v. Moellendorff begann mit Wichard Joachim Heinrich von Moellendorff (1724-1816), der seit 1740 als Page König Friedrich II. im Dienst der Hohenzollern stand und es bis zum Generalfeldmarschall brachte. In den Koalitionskriegen gegen die Französische Republik hatte er sich bewährt und erhielt 1792 den Auftrag, das preußische Teilungsgebiet für den König Friedrich Wilhelm II. (1744-1797) in Besitz zu nehmen. Professionell vorbereitet und dank seines warmherzigen Interesses für die polnische Bevölkerung gelang es dem humanistisch gebildeten General der Infanterie, das später Südpreußen genannte Gebiet friedlich in Besitz zu nehmen.
Der Generalfeldmarschall war kinderlos, daher adoptierte er drei Söhne des preußischen Majors a.D. Theodor v. Wilamowitz († 1837), Gutsherr auf Striegleben: Hugo, Ottocar und Arnold. König Friedrich Wilhelm III. erteilte den Adoptivsöhnen am 4. Mai 1815 das Recht, den Doppelnamen Wilamowitz-Moellendorff zu tragen und der älteste wurde mit dem Grafentitel und dem Majorat der elterlichen Güter versehen. Der jüngste der drei Brüder, Arnold Eugen Tello Heinrich ErdmannFreiherr von Wilamowitz (1813-1888), erwarb das bei Strelno gelegene Gut Markowitz (pl. Markowice, Kr. Inowrazlaw, das spätere Hohensalza in der Provinz Posen). Hier wurde am 18. Juni 1840 Hugo Theodor Wichardt Freiherr von Wilamowitz-Moellendorff als ältester Sohn des Gutsherrn Arnold v. Wilamowitz-Moellendorff und dessen Gattin Ulrike, geb. v. Calbo (1820-1874), geboren. Hugo hatte weitere drei Geschwister: der später berühmte deutsche Altphilologe und Gräzist, Ulrich Friedrich Richard von Wilamowitz-Moellendorff (1848-1931), der spätere Major Georg Wichard von Wilamowitz-Moellendorff (1852-1910) und eine Schwester.
Schon früh gingen die Geschwister unterschiedliche Wege. Ulrich wuchs in Ostpreußen auf und besuchte dann die königliche Landesschule St. Marien zur Pforte (Schulpforta) bei Naumburg an der Saale. Bruder Georg trat in die Fußspuren der Vorfahren und trat in die Kadettenanstalt ein. Hugo besuchte das Gymnasium in Bromberg, das damals das zweite Verwaltungszentrum der Provinz Posen war, mit Sitz eines Regierungspräsidiums. Nach dem Abitur besuchte er die Ritterakademie in Brandenburg, studierte in Heidelberg und Berlin Jura und Volkswirtschaft. Nach dem Studium leistete er seinen Militärdienst ab und trat dann als Reserveoffizier in die Landwehr ein.
Die Verwaltungslaufbahn war der zweite klassische Berufsweg eines preußischen Adeligen und Hugo trat seine Laufbahn am Kreisgericht in Berlin an, um seine juristische Ausbildung zu vervollkommnen. Anschließend wurde er nach Posen versetzt und diente bei der dortigen Provinzregierung. Bereits im Alter von 27 Jahren vertraute man ihm 1867 die Verwaltung des Kreises Inowrazlaw an, der damals noch aus den späteren Kreisen Strelno und Inowrazlaw/Hohensalza bestand. Neun Jahre verwaltete er den Kreis zur Zufriedenheit der Verwaltung und Bewohner, als er 1876 die elterlichen Güter Markowitz und Kobelnik übernahm und sich dieser Aufgabe voll und ganz widmen wollte.
Nach dem Austritt aus dem Verwaltungsdienst wurde er politisch aktiv und ließ sich im selben Jahr (1876) von der (Deutsch-) Konservativen Partei für den Wahlkreis Posen-Land 2 (Posen, Obornik) in das Preußische Abgeordnetenhaus wählen. Er gehörte dem Abgeordnetenhaus jedoch nur eine Legislaturperiode (bis 1879) an, doch diese kurze Zeit genügte, um ihn in den entscheidenden politischen Kreisen in Berlin und Posen bekannt zu machen. 1884 wurde er in den Preußischen Staatsrat berufen. Seit 1888 war er Vorsitzender des Posener Provinzialausschusses. Nach dem Tod seines Vaters erhielt er dessen Mandat als Mitglied im Preußischen Herrenhaus, im selben Jahr erhob ihn der König in den Freiherrenstand. Zwei Jahre später (1890) erreichte seine Karriere ihren Höhepunkt durch seine Berufung zum Oberpräsidenten der preußischen Provinz Posen.
In der Zeit von 1815 und 1919 standen 16 Oberpräsidenten an der Spitze der Provinz Posen, aber nur ein einziger, nämlich Hugo v. Wilamowitz-Moellendorff, stammte aus ihr. Dies hatte in Preußen System, denn man beließ Staatsbeamte nicht all zu lange an einem Einsatzort, damit sie sich nicht zu sehr eingewöhnten und es damit zu Abhängigkeiten und Freundschaftsdiensten bis hin zur Korruption kam. Der Nachteil dieser Verwaltungspolitik war, daß sich die Staatsdiener nur selten mit wenig attraktiven Regionen identifizierten und ihnen daher nicht sehr wohl gesonnen waren. Die Provinz Posen galt unter den höheren Beamten als „Preußisch Sibirien“ und sie verfaßten auf die Kreisstädte derbe Reime wie „Kommst Du nach Samter – Verdammter, in Schrimm, da geht’s Dir schlimm, Rogasen ist zum Rasen, in Wreschen, werden sie Dich verdreschen“.
Die preußische Polenpolitik war im 19. Jahrhundert ein stetes hin und her von Milde und Strenge. Der weitgehend ideologiefreie preußische Staat konnte mit dem Phänomen des Nationalismus nur sehr schwer umgehen. Während Bismarck auf einen strengen Kurs gegenüber den Polen gesetzt hatte, war Reichskanzler Leo v. Caprivi mit seiner Politik des „neuen Kurses“ auf eine Versöhnung“ bedacht. Nachdem Robert Graf von Zedlitz-Trützschler (1837-1914) zum preußischen Kultusminister berufen worden war, wählte der Reichskanzler einen einheimischen Nachfolger aus, um den Polen dadurch entgegenzukommen. In den letzten Jahren der Kanzlerschaft Bismarcks hatte sich der Nationalitätenkampf in den Ostprovinzen Preußens verschärft. Zur Stärkung des Deutschtums war die Königlich Preußische Ansiedlungskommission für Posen und Westpreußen gegründet worden, deren Aufgabe die Stärkung des Deutschtums war, was sich natürlich nur zulasten des Polentums umsetzen ließ.
Im März 1891 trat Hugo v. Wilamowitz-Moellendorff sein schweres Amt an. Fast zur selben Zeit (14. Dezember 1891) wurde der moderat agierende Florian v. Stablewski (1841-1906) zum neuen Erzbischof von Gnesen-Posen ernannt. Zudem bot die polnische Fraktion im Reichstag unter ihrem Fraktionsvorsitzenden Józef v. Kościelski der Regierung überraschend ihre Unterstützung und Kooperation an. Die Vorzeichen für eine Beruhigung durch eine gemeinsame beschwichtigende und ausgleichende Politik waren gegeben, doch die Zeitströmung war eine andere.
Reichskanzler Leo v. Caprivi scheiterte mit seiner Politik und trat 1894 zurück. In den Ostprovinzen gärte es vor allem unter den radikalen Junkern und am 3. November 1894 kam es zur Gründung des Deutschen Ostmarkenvereins, dessen Wirken eine weitere negative Wende im polnisch-deutschen Verhältnis darstellte. Der Begriff „Hakatisten“ hat bis heute eine negative Bedeutung in Polen und leitet sich aus den Anfangsbuchstaben (HKT) der drei wichtigsten Vertreter des Ostmarkenvereins ab: Ferdinand v. Hansemann (1861-1900), Hermann Kennemann (1815-1910) und Heinrich v. Tiedemann (1843-1922). Diese „Scharfmacher“ hintertrieben Wilamowitz-Moellendorffs Politik allein durch ihre negative Propaganda, die sie betrieben und damit den polnischen Nationalisten reichlich Material für eine negative internationale Presse lieferten.
Der Oberpräsident verhielt sich in jener Zeit moderat und zurückhaltend, etwa bei der propagandistisch ausgeschlachteten „Pilgerfahrt“ Posener Bürger zum Altkanzler Bismarck nach Varzin (September 1894) oder in dem „Fall Carnap“ (Sommer 1896), bei dem eine respektlose Behandlung des Erzbischofs v. Stablewski seitens eines „landfremden“, rheinischen Distriktskommissars zu Schlagzeilen führte.
Um die preußische Regierung in Berlin über die wirklichen Verhältnisse in seiner Provinz zu unterrichten, verfaßte er im Herbst 1897 eine 24-seitige Denkschrift, versehen mit Ratschlägen. Diese Schrift ist schon deshalb bemerkenswert, weil außer ihm nur der Oberpräsident Eduard v. Flottwell (1786-1865) eine ähnliche Arbeit vorgelegt hat. Leider fand diese Analyse und Vorgabe weder in der Regierung, noch in der Historiographie die Beachtung, die sie verdient. Die reale Politik richtete sich nach 1894 mehr auf eine Stärkung des Deutschtums als auf Ausgleich und Verständigung. Und die „Scharfmacher“ des Ostmarkenvereins hetzten gegen den in Posen noch bestehenden „Versöhnungsstrom Caprivis“ und bemühten sich, die Absetzung Wilamowitz-Moellendorffs zu erreichen. Der Oberpräsident besaß wohl die richtige Einsicht, nicht aber die nötige Härte, diese durchzusetzen, wie sein Bruder Ulrich in seinen Lebenserinnerungen schrieb.
Im Jahr 1899 wurde Hugo v. Wilamowitz-Moellendorff als Oberpräsident durch Dr. Karl Julius Rudolf von Bitter (1846-19l4) ersetzt und zog sich auf sein Gut Kobelnik (pl. Kobelniki, Kr. Strelno, Provinz Posen) zurück, wo er sechs Jahre später, am 30. August 1905, verstarb.
Lit.: Adolf Warschauer, Nachruf, in: Historische Monatsblätter für die Provinz Posen 6 (1905), S. 168-170. – Helmut Neubach, Der „Fall Carnap“ in Opalenitza 1896, in: Jahrbuch Weichsel-Warthe 2001, S. 65-71. – Helmut Neubach, Hugo v. Wilamowitz-Moellendorff (1840-1905), der einzige einheimische Oberpräsident der Provinz Posen, in: Jahrbuch Weichsel-Warthe 2006, S. 66-69.