Biographie

Wilm, Nicolai von

Herkunft: Baltikum (Estland, Lettland, Litauen)
Beruf: Komponist
* 4. April 1834 in Riga
† 20. Februar 1911 in Wiesbaden

Peter Nicolai von Wilm war der Sohn des Hofgerichtsadvokaten Jakob Heinrich v. Wilm und der Johanna Charlotte geb. Stieda. In einem überaus musikliebenden Eltern­haus aufgewachsen, wurde er schon früh an die Musik herangeführt. Seine musikalische Ausbildung erhielt er bei den ersten musikalischen Kräften Rigas, bei Konzertmeister Eduard Weller (Vio­line), Carl Eduard Willmans (Klavier) sowie bei Kapellmeister Johann Schramek und beim Domorganisten Johann Christoph Agthe (Komposition). Durch die Fürsprache von Konradin Kreutzer, der in Begleitung seiner Tocher nach Riga gekommen war, die als Sängerin am Rigaer Stadttheater engagiert war, konnte Wilm die mu­si­ka­li­sche Laufbahn einschlagen. Er stu­dierte 1851 bis 1856 am Leipziger Kon­ser­va­torium bei Ferdinand David (Violine), Thomaskantor Moritz Hauptmann, Gewandhauskapellmeister Julius Rietz, Louis Plaidy (Klavier) und Raimond Dreyschock (Violine). Nach Abschluss der Studien reiste er nach Frankreich, Belgien und durch Deutschland. Über Kassel, wo er Louis Spohr eigene Kom­positionen vorspielte, welcher „den jungen Kollegen zu weiterem Schaffen ermunterte“, kehrte er nach Riga zurück. Dort über­nahm er 1857 die II. Kapellmeisterstelle am Stadt­theater, gab sie aber nach einem Jahr wie­der auf. Seiner vornehmen Art soll das Theaterleben nicht entsprochen haben. Er ging, durch die Vermitt­lung des deutschbaltischen Beethoven-Forschers Wilhelm v. Lenz 1858 nach St. Peters­burg und wurde 1860 dort Lehrer für Theorie und Klavier am kaiserl. Nikolai-Institut. 1873 heiratete er Jenny Lessig, die Tochter eines Petersburger Staatsrats. Im selben Jahr ließ er sich pensionieren um sich ganz sei­nem kompositorischen Schaffen zu widmen. Wilm ging nach Deutschland und ließ sich ab 1873 für drei Jahre in Dresden nieder. 1877 hielt er sich in Bad Warmbrunn/Schlesien auf, was sich auch in seinen vierhändigen Klavierstücken Reisebilder aus Schlesien op. 18 niederschlug. Seit 1878 bis zu seinem Tod lebte er in Wiesbaden.

Seine baltische Heimat be­suchte er immer wieder, so 1880 zum Balti­schen Sängerfest in Riga, bei einer Reise 1885, die ihn auch nach Finnland führte sowie im Jahre 1904. 1883 wurde Wilm zum Ehren­mitglied der Rigaer Liedertafel ernannt, welcher er die Ge­sänge op. 19 wid­mete.

Wilm ist der fruchtbarste deutschbaltische Komponist gewesen. Bemerkenswert ist, dass er bis zu sei­ner Pensionierung 1875 kaum 20 Wer­ke veröffentlicht hatte. Zu seinem 1899 bei Leuckart in Leipzig veröffentlichten Werkverzeichnis erschien ein Anhang von op. 165 bis op. 208. Bis zu seinem Tod 1911 war sein Œuvre auf über 250 Werke angewachsen. Der Schwerpunkt seines Schaffens lag auf der Klaviermusik, wobei der pädagogisch ausgerichtete Anteil beachtlich ist. Noch heute wird manches Klavierstück im Unterricht verwendet. Er hat aber auch in größerer Zahl brillan­te Wer­ke für den Konzertsaal ge­schrieben, außer­dem ein um­fangreicheres Chor- und Liedschaffen sowie einige Kammermusikwerke. Nicht nur besetzungsmäßig bemerkenswert ist sein Streichernonett op. 150 für Doppelquartett und Kontrabass, anspruchsvoll wie die meisten seiner Kammermusikwerke.

Lyrisches Ta­lent zeigte sich auch in der Veröffentlichung des Gedichtbands Ein Gruß aus der Ferne, der 1881 bei Stieda in Riga erschien. Allerdings hat Wilm für seine Vokalmusik seltener eigene Texte verwendet. Bevorzugte Dichter waren Hoffmann von Fallersleben, Emanuel Geibel, Ludwig Uhland, Robert Reinick, Otto von Roquette und der Schweizer Dichterpfarrer Friedrich Oser.

Be­son­dere Be­achtung verdienen mehrere Sammlungen russi­scher Volksmusik und russische Romanzen „älterer und neuerer Periode“ sowie Moskauer Zigeuner-Lieder. Seine Bear­beitungen für Klavier, die in einer größeren Zahl von Alben bei verschiedenen Verlagen in mehreren Auflagen erschienen, haben so wesentlich zur Popu­larisierung der russischen Volks­musik in vielen Län­dern beigetragen.

Gattungsmäßig hat Wilm sich auf Klaviermusik, Chorwerke, Lieder und Kammermusik beschränkt, eines Orchesters hat er sich wohl nur einmal, bei dem Concerstück für Harfe op. 122 zur Begleitung bedient. Sein Werk zeich­net sich durch fei­nen künstlerischen Geschmack und vornehme Zurückhaltung aus. Schon die Titel seiner Zyklen und Stücke für Klavier sind von farbenprächtiger Bildhaftigkeit, so die vielen Reisemusiken wie Völker und Zeiten im Spiegel ihrer Tänze op. 31, Im russischen Dorf op. 37, Eine Nordlandfahrt op. 53, Aus Italien op. 161, Am Gestade der Ostsee op. 169, Musikalische Ansichtskarten op. 186 usw. aber auch Naturbilder wie Schneeflocken op. 8, Sommerfäden op. 12, Herbstfrüchte op. 16, Kalendarium op. 39, Bilder vom Lande op. 146, Efeuranken op. 175, Heideblumen op. 176 oder mehrere Suiten teils mit alten Tänzen wie Menuett, Gigue, Sarabande, Courante, Gavotte usw. oder Val­ses de Salon der Zeit. Besonders vielseitig sind seine Charakterstücke, die in der Nachfolge von Robert Schumann zu sehen sind, wie Jugendlust, Eine Bitte, Stille Sorge, Ernste Stunde, Zärtlichkeit, Übermut u.v.m., aber es gibt auch Zeitbezogenes, wie z. B. Im Auto op. 249/6. Besonders gelobt und häufiger zu seiner Zeit aufgeführt waren die Acht mehrstimmigen geistlichen Motetten op. 40 für drei bis acht Stimmen. Wilms Kompositionen fanden außergewöhnlich viele Verleger, nicht nur in den mei­sten Ländern Eu­ropas, son­dern in größerer Zahl auch in den USA.

Sein Schaffen fand in den letzten Jahrzehnten selten in den Konzertsaal und zu Aufnahmen auf Tonträgern. Eine gewisse Ausnahme bildeten einige Stücke für Violine und Harfe, die zum Teil mit Yehudi Menuhin auch einen prominenten Interpreten fanden. In letzter Zeit sind einige Klavierwerke von dem Pianisten John Kersey eingespielt worden. 2011 hat das Malin­conia-Ensemble Stuttgart in einigen Konzerten seines 100. Todesjahres gedacht.

Wilms Schaffen repräsentiert jenen romantischen Stil, der in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreitet war, sich später in Richtung zu einer gemäßigten Spätromantik entwickelnd. Seine Musik ist von melodischer Erfindungsgabe in kompositorischer Individualität, wohlklingend, modulations- und nuancenreich, reich an Erfindung, die kleinen Stücke delikat und von feiner Charakteri­sierung.

Wilm enstpricht mit seinem Schaffen nicht solchen Anforderungen, die heute an die Musik gestellt werden, nämlich dass Musik spannend sein soll. Hingegen erfüllt sie auf vornehme Art das Seelische sublim, beredsam, erlesen, in einer Weise, die zu einer besonderen Bereicherung führt, nicht Erschütterung bezweckend. So scheint die Wilmsche Musik nicht in unsere Zeit zu passen, aber mit ihrer Intimität leistet sie Widerstand gegen manche Unerträglichkeit der Gegenwart.

Lit.: Musik in Geschichte und Gegenwart, Riemann, Frank-Altmann. – P. Th. Falck: Der Komponist N. v. Wilm – Ein Gedenkblatt, Baltische Monatsschrift Riga 1911 S. 489ff. – H. Scheunchen: Lexikon deutschbaltischer Musik, Wedemark-Elze 2002 S. 295-307 (WVZ n. Gattungen).

Bild: Private Ostdeutsche Studiensammlung

Helmut Scheunchen