Biographie

Winter, Eduard

Herkunft: Siebenbürgen
Beruf: Historiker
* 16. September 1896 in Grottau/Nordböhmen
† 3. März 1982 in Berlin

Eduard Winter, Sohn kleinbürgerlicher Eltern vom Nordrand Böhmens, an der Grenze zu Sachsen, gegenüber Zittau, begann als katholischer Geistlicher und Theologe. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Böhmisch-Leipa studierte er, nachdem er als Kriegsfreiwilliger 1914 nicht angenommen worden war, vier Jahre lang an der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck, an der ausschließlich Jesuiten lehrten. Im Sommer 1919 empfing er die Priesterweihe. An einer Wirksamkeit als Gemeindepfarrer uninteressiert, erhielt er auf Fürsprache des Bischofs von Leitmeritz hin die Erlaubnis, seine Studien an der Deutschen Universität in Prag fortzuführen, wo er seit Herbst 1919 eine Assistentenstelle innehatte. 1921 bestand er das Doktorexamen.

Entsprechend dem sozialtheoretischen Interesse, das Winter während seiner Studien gezeigt hatte, wirkte er in der katholischen Studentenbewegung tatkräftig als geistiger Führer im Sinne einer Loslösung vom Korporationswesen und einer Hinwendung zur Jugendbewegung. "Der geistigen und nationalen Not der eigenen Volksgruppe, schicksalhaft in die Grenzen des neuen Staates verwiesen, aus religiösen Kräften zu begegnen, … [wurde] sein Programm" (Kurt A. Huber).

Nach der theologischen Habilitation im Jahre 1922 legte Winter 1926 eine philosophisch-systematische Habilitationsschrift zu der philosophisch-dogmatischen Spekulation Anton Günthers (1783-1863) vor, der eine "Rekonstruktion des Christentums" als Wissenschaft entworfen hatte. Auch aufgrund eines Romaufenthaltes 1926/27 gelang es ihm 1929, eine neugeschaffene unbesoldete außerordentliche Professur für Christliche Philosophie zu erlangen, die 1931 in eine besoldete umgewandelt wurde. Am 13. Juli 1934 erfolgte Winters Ernennung zum Nachfolger August Naegles als Ordinarius für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Deutschen Universität zu Prag.

Die Grundlage hierfür bot der Ruf, den sich Winter inzwischen als Kirchenhistoriker erworben hatte. Es waren von ihm die Schriften Die geistige Entwicklung Anton Günthers und seiner Schule (Paderborn 1931), Religion und Offenbarung in der Religionsphilosophie Bernard Bolzanos (Breslau 1932) und Bernard Bolzano und sein Kreis (Leipzig 1933, 1935 auch tschechisch) erschienen. Das letztere Werk hatte die Philosophische Fakultät der Deutschen Karls-Universität als Habilitationsschrift angenommen. 1938 erschien Winters BuchTausend Jahre Geisteskampf im Sudetenraum. Das religiöse Ringen zweier Völker, ein Überblick über die Kirchengeschichte Böhmens und Mährens in geistesgeschichtlicher Behandlung, d. h. eine Darstellung, die nicht wie Kirchengeschichte sonst von der Institution Kirche und dem Kirchenrecht ausging.

Mit diesem Werk wurde eine wachsende Entfernung Winters von seiner Kirche erkennbar. Schon seine Beschäftigung mit dem Prager Priester Bolzano, der den Menschen in den Mittelpunkt der Religion gerückt und kirchliche Reformen für notwendig erklärt hatte und deshalb aus seinem Lehramt entfernt worden war (1820), mochte Hinweise darauf bieten. Winter stieß sich als ein Mann, der Kirche rein geistig verstanden zu haben scheint, an der Gestalt, die die römische Kirche im Verlaufe ihrer Geschichte angenommen hatte. Auch meinte er, daß die Papstkirche dem Behauptungskampf des Deutschtums in Böhmen und Mähren nicht gerecht werde, ihm nicht die notwendige Unterstützung gewähre. Winter befürchtete, daß die von ihm festgestellte Vernachlässigung der nationalen Frage durch die Kirche sich ähnlich verhängnisvoll auswirken werde wie deren fehlendes Verständnis für die soziale Frage.

Vor diesem Hintergrund muß die Zwiespältigkeit der Haltung Winters nach der Abtretung des Sudetenlandes an Deutschland im Herbst 1938 und der Errichtung des "Protektorats Böhmen und Mähren" im Frühjahr 1939 gesehen werden. So sehr er nämlich von dem Geschehen in Deutschland seit 1933 unter volksdeutschem Gesichtspunkt beeindruckt war, so sehr fürchtete er, daß namentlich das geistige Leben zu leiden haben werde, wenn es sich mit der Politik verbinde bzw. mit ihr verbunden werde. Zudem war ihm die Gemeinschaft mit dem tschechischen Volk stets wichtig gewesen. In seinem BuchTausend Jahre Geisteskampf erscheint das Zusammenleben der beiden den Sudetenraum bewohnenden Völker als selbstverständliche Voraussetzung; das Buch hatte noch 1940 in Olmütz in tschechischer Sprache erscheinen können, war aber im Original bereits 1939 von der Reichsschrifttumskammer unterdrückt, später freilich zum Abverkauf freigegeben worden (Neudruck München 1955).

Andererseits mußte die Tatsache, daß Winter nunmehr mit seiner Kirche brach, ihn in eine größere Nähe zum Nationalsozialismus bringen. Den Anstoß zur Entscheidung boten die eheliche Bindung an seine Mitarbeiterin Maria Kögl und die Geburt eines gemeinsamen Kindes. Am 4. September 1940 ließ Winter den Reichserziehungsminister wissen, daß es ihm "weltanschaulich nicht mehr möglich" sei, seiner "Lehrverpflichtung für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Deutschen Universität Prag" zu entsprechen, und bat ihn um "sofortige Entpflichtung". Der Inhalt dieses Ansuchens kam auch in die Presse. Die kirchlichen Folgerungen daraus reichten bis zur Exkommunikation. Im Herbst 1941 wurde Winters bisheriger kirchengeschichtlicher Lehrstuhl auf die Philosophische Fakultät übertragen, in eine Forschungsprofessur für "Europäische Geistesgeschichte" umgewandelt und erneut mit ihm besetzt; in der Theologischen Fakultät wurde die Kirchengeschichte fortan nur noch durch Lehrbeauftragte wahrgenommen.

Ganz in Übereinstimmung mit seiner persönlichen Entwicklung war und blieb das Thema Winters der Reformkatholizismus und die Aufklärung. So veröffentlichte er 1943 bei Rudolf M. Rohrer in Brünn sein großes Josefinismus-Werk (Der Josefinismus und seine Geschichte. Beiträge zur Geistesgeschichte Österreichs 1740-1848, zweite Auflage unter dem Titel Der Josefinismus. Die Geschichte des österreichischen Reformkatholizismus 1740-1848, [Ost-]Berlin 1962). Es handelte sich dabei, so der Verfasser, "um eine Einordnung der Kirchenreformen Kaiser Josefs II. als geistesgeschichtliche Erscheinung in letzter metaphysischer Begründung", d. h. als einer am Wesen des Urchristentums orientierten Reform; die "kirchenrechtliche Sicht" trat ebenso zurück "wie die staats- und nationalpolitische Betrachtung…, die F. Valjavec übt" (dessen Josefinismus-Werk 1944 ebenfalls bei Rohrer und in zweiter Auflage 1945 bei Oldenbourg in München erschien). Böhmen und Mähren, die "stets klassische Länder des Josefinismus waren", standen im Mittelpunkt. Heinrich Ritter von Srbik bemerkte bald nach Erscheinen des Werkes, in diesem hätte stärker "das Unzureichende einer überwiegend rationalistischen und verflachten Religionsansicht" herausgearbeitet werden müssen. "Es ist gleichwohl ein hohes wissenschaftliches Verdienst, daß Winter den Verunglimpfungen, denen der josefinische Reformwille immer wieder ausgesetzt worden ist, mit großem Erfolg entgegentritt, und man wird es begreiflich finden, daß der apologetische Ton bei ihm manchmal zu sehr überwiegt, wenn man die Maßlosigkeit und Unwissenschaftlichkeit der ultramontanen Angriffe gegen den Josefinismus sich vergegenwärtigt."

Über einer Fülle von Arbeiten, mit denen Winter in dieser Zeit beschäftigt war – es erschienenByzanz und Rom im Kampf um die Ukraine (Leipzig 1942) und Der Bolzanoprozeß. Dokumente zur Geschichte der Prager Karls-Universität im Vormärz (Brünn 1944) – nahte die Katastrophe des Deutschtums in Böhmen und Mähren heran. Winters Hoffnung, seine persönliche und wissenschaftliche Existenz dort über den Zusammenbruch hinwegretten zu können, zerschlug sich; er verlor sein Haus in Liboch an der Elbe (etwa 40 Kilometer nördlich von Prag), seine Bibliothek (die in das Nationalmuseum inPrag überführt wurde) und mußte schließlich froh darüber sein, Ende Juli 1945 nach Österreich ausreisen zu können, wo sich bereits seine Familie aufhielt.

Angesichts des Mißbrauchs der Stellung des deutschen Volkstums in Böhmen und Mähren durch den Nationalsozialismus hatte Winter nach eigenem Bekenntnis das "Katholisch-Nationale" überwunden. Zudem zeigte er sich von der Machtentfaltung der Sowjetunion in Mitteleuropa sowie ihrer marxistisch-leninistischen Staatsideologie beeindruckt. Nachdem seine Versuche, in Wien wissenschaftlich wieder fußzufassen, trotz sowjetischer Protektion gescheitert waren (nicht zuletzt deshalb, weil ihm die katholische Kirche nach Kräften Steine in den Weg gelegt hatte), kam ihm ein Ruf auf den Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg sehr gelegen, den er 1947 annahm.

Hier wie an der Humboldt-Universität in (Ost-)Berlin, an der er seit 1951 (bis zu seiner Emeritierung 1966) wiederum Ordinarius für Osteuropäische Geschichte war und das Institut für Geschichte der Völker der UdSSR leitete, sowie an der Deutschen Akademie der Wissenschaften (der späteren Akademie der Wissenschaften der DDR) ebenfalls in Berlin, der er seit 1955 als ordentliches Mitglied angehörte, hat Winter neue Möglichkeiten des Schaffens und Wirkens gefunden, gelehrt, eine Schule gebildet, wissenschaftliche Unternehmungen konzipiert und geleitet, Kongresse organisiert und selbst eine reiche wissenschaftliche Produktion entfaltet. Er hat es den Sowjetzonen- bzw. DDR-Machthabern durch ein deutliches Bekenntnis zu ihnen und auch dadurch gedankt, daß er sich für sie und ihre Ideologie propagandistisch in Dienst nehmen ließ. Dabei blieb er österreichischer Staatsbürger, der er seit 1945 war, und erhielt sich sein Sommerrefugium in Tirol.

Im übrigen ging Winter seinen wissenschaftlichen Weg in der ihm gemäßen Weise weiter, d. h. er schrieb Geistesgeschichte, die sonst nicht zu den Disziplinen der DDR-Historiographie zählte. So waren seine (auf Vorlesungen beruhenden) Bücher Der Frühhumanismus ([Ost-]Berlin 1964), Die Frühaufklärung(ebenda 1966) und Der Frühliberalismus (ebenda 1968) Zeiten geistigen Aufbruchs gewidmet, die den von ihm erforschten Reformkatholizismus erst möglich gemacht bzw. befördert hatten. Er setzte an der Wiener Akademie der Wissenschaften die Begründung einer Bolzano-Kommission durch, die eine Gesamtausgabe der Schriften Bolzanos begann. Bezeichnenderweise hat sein Schüler Conrad Grau in einer DDR-offiziellen Würdigung von 1989 festgestellt, daß Winter "ungeachtet seiner Progressivität und seiner Rezeptierung marxistischen Gedankenguts insgesamt bürgerlichem Wissenschaftsverständnis verpflichtet blieb".

Freilich widmete sich Winter entsprechend seinen dienstlichen Pflichten nunmehr als akademischer Lehrer, als Organisator eines wissenschaftlichen Austauschs mit Osteuropa und als Herausgeber, aber auch als Forscher mehr als bisher der Geschichte Osteuropas und den deutsch-slawischen Beziehungen. Und zweifellos kamen das zweibändige Werk Rußland und das Papsttum ( [Ost-]Berlin 1960 und 1961) sowie der ErgänzungsbandDie Sowjetunion und der Vatikan (ebenda 1972) in ihrer Tendenz, die durch Winters persönliche Entwicklung begründet war, dem kommunistischen System entgegen, weshalb die drei Bände auch in russischer Sprache erschienen.

Winters Stärke lag weniger in der erschöpfenden Analyse historischer Ereignisse und Phänomene als in einer umsichtigen, mitunter glänzenden und fesselnden Darstellung großer geistesgeschichtlicher Stoffe und Zusammenhänge. Als Grundlage diente ihm stets die überlegene Kenntnis und Beherrschung eines umfassenden Quellenstoffs. In den in Wien herausgekommenen Werken Barock, Absolutismus und Aufklärung in der Donaumonarchie (1971), Romantismus, Restauration und Frühliberalismus im österreichischen Vormärz (1968) undRevolution, Neoabsolutismus und Liberalismus in der Donaumonarchie (1969) ist diese Gabe zur Reife gelangt.

Eduard Winter war im Konflikt mit der Papstkirche, die er vor den sozialen und politischen Aufgaben der modernen Welt versagen sah, zum Historiker geworden. Besessen von seiner Aufgabe, in umfangreichen geistesgeschichtlichen Darstellungen die Krise der alten Kirche offenzulegen und Versuche zu ihrer Reform ins Licht zu rücken, und erfüllt von dem Drang, auch als Wissenschaftsorganisator Einfluß zu üben, ist es ihm zu keiner Zeit auf politische Zugeständnisse an diejenigen angekommen, die ihm die materielle Grundlage für seine Wirksamkeit boten. Insbesondere der menschenverachtende und gewalttätige Charakter der politischen Regime, denen er sich unterwarf, muß den von ihm gezahlten Preis jedoch als zu hoch erscheinen lassen. Für die kommunistische Gleichschaltung der Universitäten und Hochschulen in der Sowjetzone bzw. der DDR ist Winter, der von 1948 bis 1951, also in der entscheidenden Zeit, an der Universität Halle Rektor war, mitverantwortlich. An dem historiographischen und wissenschaftsorganisatorischen Werk Winters wird man auch in Zukunft nicht vorbeigehen können.

Weitere Werke: Ketzerschicksale. Christliche Denker aus neun Jahrhunderten, Zürich/Köln 1980. – Mein Leben im Dienst des Völkerverständnisses. Nach Tagebuchaufzeichnungen, Briefen, Dokumenten und Erinnerungen, Bd. 1 (= Beiträge zur Geschichte des religiösen und wissenschaftlichen Denkens, Bd. 10), (Ost-)Berlin 1981 (Reicht bis zum Jahre 1947; Bd. 2 als Manuskript im Nachlaß Winter; Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin).

Bibliographie: Wegbereiter der deutsch-slawischen Wechselseitigkeit, hrsg. von Eduard Winter und Günther Jarosch (= Quellen und Studien zur Geschichte Osteuropas, XXVI), (Ost-)Berlin 1983, S. 413-448 (Verzeichnis von über 500 Titeln).

Lit.: Kurt A. Huber: Eduard Winter (1896-1982). In: Archiv für Kirchengeschichte von Böhmen-Mähren-Schlesien, Bd. VI, Königstein/Taunus 1982, S. 7-37. – Conrad Grau: Eduard Winter. 1896 bis 1982. In: Wegbereiter der DDR-Geschichtswissenschaft, (Ost-)Berlin 1989, S. 358-375.

Bild: Eduard Winter 1956; Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften zu Berlin.

 

  Peter Mast