Biographie

Wolf, Christa

Herkunft: Ostbrandenburg
Beruf: Schriftstellerin
* 18. März 1929 in Landsberg/Warthe
† 1. Dezember 2011 in Berlin

Nach Anna Seghers (1900-1983), die, als sie selbst zu schreiben begann, ihr literarisches Vorbild geworden war und mit der sie sich seitdem intensiv auseinandersetzte, war Christa Wolf die bekannteste DDR-Schriftstellerin. Geboren am 18. März 1929 als Tochter von Otto und Herta Ihlenfeld, die einen Lebensmittelladen betrieben, in Landsberg an der Warthe, jenseits der Oder in Ost-Brandenburg gelegen, besuchte sie dort 1939/45 die Oberschule und floh am 29. Januar 1945 mit Tante, Großeltern und dem 1932 geborenen Bruder Horst, aber ohne Mutter, die später nachkam, und ohne Vater, der am 30. Januar in russische Gefangenschaft geriet, über Küstrin in das Dorf Grünefeld bei Berlin. Jahrzehnte später, in ihrem Essay „Blickwechsel“ (1970), hat Christa Wolf diese Flucht beschrieben: „Es war jener kalte Januarmorgen, als ich in aller Hast auf einem Lastwagen meine Stadt in Richtung Küstrin verließ und als ich mich sehr wundern mußte, wie grau diese Stadt doch war, in der ich immer alles Licht und alle Farben gefunden hatte, die ich brauchte. Da sagte jemand in mir laut und deutlich: Das siehst du niemals wieder.“

In der Kreisstadt Nauen ging Christa Ihlenfeld einige Monate zur Schule, ehe die Flucht fortgesetzt wurde, nach Mecklenburg, den amerikanischen Truppen entgegen, bis die Familie im Dorf Gammelin bei Schwerin aufgeben mußte und blieb. Dort arbeitete das inzwischen 16jährige Flüchtlingsmädchen mehrere Monate als Schreibkraft beim Bürgermeister und konnte von März 1946 an die Oberschule in Schwerin besuchen, mußte aber schon im Juni den Schulbesuch abbrechen, weil sie an Tuberkulose erkrankte und in ein Sanatorium eingewiesen wurde.

Im Sommer 1946 kam auch der Vater aus russischer Gefangenschaft zurück und wurde als Leiter eines Kinderheims nach Bad Frankenhausen in Thüringen eingewiesen, wohin die Familie 1947 umzog. Dort besuchte Tochter Christa weiterhin die Oberschule, wurde 1948 Mitglied der „Freien Deutsche Jugend“ (FDJ) und 1949 der „Sozialistischen Einheitspartei“ (SED). Im gleichen Jahr, dem Jahr der DDR-Gründung am 7. Oktober, bestand sie das Abitur und ging im Wintersemester 1949/50 zum Studium der Pädagogik an die Universität Jena. Über ihre politische Entwicklung der drei Nachkriegsjahre 1945/48, vom Mitglied des nationalsozialistischen „Bundes Deutscher Mädel“ (BDM) zum Mitglied des kommunistischen Jugendverbands, ist fast nichts bekannt. Noch 1945/46 hatte sie, wie sie in ihrem Essay „Blickwechsel“ schrieb, „keine Lust auf Befreiung“, mit dem Beginn des Studiums im Herbst 1949, sie wollte damals noch Lehrerin werden, stand sie als „Genossin“ bedingungslos auf der Seite des „neuen Staates“.

In Jena lernte sie während des Studiums den aus Bad Frankenhausen stammenden Germanistikstudenten Gerhard Wolf (1928) kennen, den sie 1951 heiratete und mit ihm nach Leipzig zog, wo sie nun nicht mehr Pädagogik, sondern Germani­stik und Geschichte studierte. Im Jahr 1952, als ihre Tochter Annette geboren wurde, erschien am 20. Juli ihre erste Buchrezension in der SED-Zeitung „Neues Deutschland“, im Jahr darauf schrieb sie bei Hans Mayer (1907-2001), der 1963 die DDR „illegal“ verlassen sollte, ihre Diplomarbeit über Hans Fallada (1893-1947).

Nach dem Studium zog Christa Wolf von Leipzig nach Berlin, wo ihr Ehemann Gerhard bereits als Kulturredakteur des „Deutschlandsenders“ arbeitete, und wurde wissenschaftliche Mitarbeiterin des 1952 gegründeten „Deutschen Schriftstellerverbands“, dessen Präsidentin damals Anna Seghers war. Dort schrieb sie Gutachten über die Manuskripte junger Autoren und veröffentlichte seit 1954 auch Rezensionen in der Verbandszeitschrift „Neue Deutsche Literatur“ (NDL). Auch dem Schriftstellerverband trat sie 1954 bei und stieg sofort als förderungswürdiger Nachwuchskader in den Vorstand auf. Zwei Jahre später, 1956, wurde sie Cheflektorin des Jugendbuchverlags „Neues Leben“,es war das Jahr, in dem ihre zweite Tochter Katrin geboren wurde. Von 1957 bis 1959 arbeitete sie als NDL-Redakteurin und zog 1959 in die Bezirkshauptstadt Halle, um in der Waggonfabrik Halle-Ammendorf die Forderung des „Bitterfelder Wegs“ vom 23. April 1959 zu erfüllen: „Schriftsteller in die Betriebe!“ Sie arbeitete dort in mehreren „Zirkeln schreibender Arbeiter“ mit und war zugleich freischaffende Lektorin des „Mitteldeutschen Verlags“ in Halle, dessen Arbeitsgebiet die aufstrebende DDR-Literatur war. Drei Jahre später, 1962, zog sie von Halle nach Kleinmachnow bei Berlin. Der literarische Ertrag ihrer Ammendorfer Erfahrungen erschien 1963 unter dem Titel „Der geteilte Himmel“ und erregte, weit über den engen Sektor des Literaturbetriebs hinaus, einen Sturm der Entrüstung und der Zustimmung, bei Lesern und Literaturkritikern. Die Autorin hatte mit diesem Roman ein Thema aufgegriffen, das in der Bevölkerung seit Jahren diskutiert wurde, aber noch nie in der Literatur behandelt worden war: Das seit 11. Dezember 1957 mit Gefängnishaft belegte Delikt „Republikflucht“, das zum Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 geführt hatte.

Von ähnlicher Brisanz war fünf Jahre später der Roman „Nachdenken über Christa T.“ (1968), dessen Veröffentlichung aus politischen Gründen um ein Jahr verzögert wurde und dessen niedrige Auflage das Buch für die Leser zur heißbegehrten „Bückware“ machte. Es ging dabei um eine am Leben gescheiterte Lehrerin und Schriftstellerin, 1927 jenseits der Oder geboren und mit Fluchterfahrungen vertraut, die mit ihrem Mann, einem dem Leben zuge­wandten Tierarzt, in der DDR-Provinz wohnt und im Februar 1963 an Leukämie stirbt. Die Erzählerin arbeitet nun mit „authentischem“ Material, das ihr vom Ehemann zugeschickt wurde, dieses jäh abgebrochene Leben der Leipziger Studienfreundin von 1951/54 auf und fragt nach dem Sinn des Lebens im Sozialismus. Im Sommer 1969 wurde der Roman, der inzwischen auch in Westdeutschland erschienen war, auf dem Vl. Schriftstellerkongreß von Vizepräsident Max Walter Schulz gnadenlos verdammt, indem er Christa Wolf vorwarf, „unsere Lebensbewußtheit zu bezweifeln, bewältigte Vergangenheit zu erschüttern, ein gebrochenes Verhältnis zum Hier und Heute und Morgen zu erzeugen.“ Verboten wurde das Buch nicht, die Autorin war schließlich von 1963 bis 1967 Kandidatin des ZK der SED Gewesen und 1964 mit dem Nationalpreis ausgezeichnet worden.

Die Schriftstellerin Christa Wolf verfügte, anders als die meisten DDR-Autoren, über ein feines Gespür für die heiklen Themen der DDR-Gesellschaft. Alle ihre Veröffentlichungen bis zur Erzählung „Was bleibt“ von 1990, die nach dem Untergang des SED-Staates Aufsehen erregte, zeigten es. Früher oder später, das war zu erwarten, würde sie sich auch des Themas „Heimatverlust“ jenseits der Oder annehmen. Der Roman hieß „Kindheitsmuster“ und erschien sechs Jahre nach dem Essay „Blickwechsel“, worin sie ihre Erfahrungen mit Krieg und Nachkrieg schon einmal benannt hatte. Außerdem war dieser Roman auch eine autobiografisch untermauerte Widerlegung des staatlich verordneten „Antifaschismus“: Hier wurde kein kommunistisches Widerstrandsepos geboten, sondern das Arrangement der „kleinen Leute“, die überleben wollten, mit dem „Dritten Reich“ beschrieben.

Erzählt wird auf drei Zeitebenen, deren unterste Erinnerungsschicht Kindheit und Jugend der Nelly Jordan, 1932 bis 1947 in Landsberg an der Warthe und nach dem Krieg in Mecklenburg, sind. Daß die Autorin ihren Lesern hier ein Stück Autobiografie anbietet, hat sie in einer Ostberliner Diskussion 1975 selbst zugegeben. Die biografischen Daten Christa Ihlenfelds und Nelly Jordans stimmen weitgehend überein. Die zweite Ebene ist die Reise der Erzählerin, wodurch die autobiografische Verknüpfung unabweisbar wird, am 10./11. Juli 1971, noch vor der Niederschrift also, in den Geburtsort L. (Landsberg), der heute den polnischen Namen G. (Gorzow Wielkopolski) trägt, mit Ehemann, Bruder und Tochter. Die dritte Ebene schließlich ist die Zeitspanne der Niederschrift des Romans vom 3. November 1972 bis 2. Mai 1975.

Von besonderer Bedeutung ist das 17. Kapitel, das die Autorin mit voller Absicht „Ein Kapitel Angst“ nennt. Auch wenn das Thema „Flucht und Vertreibung“ in der DDR-Literatur seit 1949 nicht ausgespart wurde, aber stark ideologisiert war, so geht Christa Wolf doch einen mutigen Schritt weiter und schildert Vorgänge, die zu beschreiben bisher verboten war: Plünderungen und Vergewaltigungen deutscher Frauen durch Sowjetsoldaten! Freilich muß sie, um das Thema für die Zensur überhaupt akzeptabel zu machen, Abstriche vornehmen und zwei politische Umwege gehen: Sie erzählt das, was geschieht, nicht direkt, sondern läßt die Betroffenen erzählen, die aber auch „nur“ von ihren Ängsten „davor“ berichten („ Eine ausgedehnte Lehrzeit in Angst“) und von ihrem psychischen Zustand „danach“. Es ist wie bei der Teichoskopie auf der Theaterbühne: Der Zuschauer sieht nicht, bekommt aber von den Schauspielern mitgeteilt, was er zu sehen hat! Noch einfallsreicher ist der zweite Umweg: Christa Wolf unterteilt die Sowjetsoldaten in „gute“ und „böse“, in die Besatzungstruppen in Mecklenburg und in die von der „Roten Armee“ desertierten Soldaten in den Wäldern, die deutsche Flüchtlingsfrauen überfallen und vergewaltigen! Jener „Leutnant Pjotr“ von der Kommandantur in Bardikow, der den Frauen hilft, ist ein „guter“ Sowjetsoldat, die anderen sind die „bösen“. Niemand sollte auf den abwegigen Gedanken verfallen, daß die „bösen“ vor ihrer Desertion auch einmal „gute“ gewesen sind.

Immerhin, das Thema war nun existent und konnte aus der DDR-Literatur nicht wieder wegdiskutiert werden.

Werke: „Moskauer Novelle“ (1961). – „Der geteilte Himmel“ (1963), Roman. – „Der geteilte Himmel“ (1964), DEFA-Film (Regie: Konrad Wolf). – „Juninachmittag“ (1967), Erzählung. – „Nachdenken über Christa T.“ (1968), Roman. – „Anna Seghers: Glauben an Irdisches. Essays aus vier Jahrzehnten“ (1969). – “Lesen und Schreiben. Aufsätze und Betrachtungen“ (1971), erweiterte Auflage 1973, wiederum erweiterte Auflage unter dem Titel „Fortgesetzter Versuch. Aufsätze, Gespräche, Essays“ (1979), weitere erweiterte Ausgaben 1980/81. – „Till Eulenspiegel. Erzählung für den Film“ (1972, mit Gerhard Wolf). – „Unter den Linden. Drei unwahrscheinliche Geschichten“ (1974). – „Gesammelte Erzählungen“ (1974), – „Briefwechsel mit Gerti Tetzner“ (1975). – „Kindheitsmuster“ (1976), Roman. – „Karoline von Günderrode: Der Schatten eines Traumes. Gedichte, Prosa, Briefe, Zeugnisse von Zeitgenossen“ (1979). – „Kein Ort. Nirgends“ (1979), Erzählung. – „Geschlechtertausch. Drei Geschichten über die Umwandlung der Verhältnisse“ (1980, mit Sarah Kirsch und Irmtraud Morgner). – „Anna Seghers: Ausgewählte Erzählungen“ (1983). – „Kassandra“ (1983), Erzählung. – „Voraussetzungen einer Erzählung. Kassandra“ (1983), Frankfurter Poetik-Vorlesungen. – „Die Dimension de Autors. Essays und Aufsätze, Reden und Gespräche“ 1959-1985“ (1986), zwei Bände. – „Störfall, Nachrichten eines Tages“ (1987), – Erzählung. „Ansprachen“ (1988), – „Sommerstück“(1989), Erzählung. – „Reden im Herbst. Aktuelle Texte“ (1990). – „Was bleibt“ (1990), Erzählung. – „Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen 1964-1973“ (1993, mit Briefen von Brigitte Reimann). – „Auf dem Weg nach Tabou. Texte 1990-1994“ (1994). – „Monsieur – wir finden uns wieder. Briefe 1968-1984“ (1995; mit Briefen von Franz Fühmann). – „Hierzulande Andernorts“ (1999), Erzählungen und andere Texte. – „Medea“ (2001), Erzählung. – „Leibhaftig“ (2002), Erzählung. – „Das dicht besetzte Leben. Briefe, Gespräche und Essays“ (2003, mit Texten von Anna Seghers). – „Ein Tag im Jahr. 1960-2000“ (2003), Tagebuch. – „Ja, unsere Kreise berühren sich“ (2004), Briefwechsel mit Charlotte Wolff. – Werkausgabe in 13 Bänden (1999-2003).

Lit.: Martin Reso „Der geteilte Himmel und seine Kritiker“ (1965), Dokumentation. – Heinz Ludwig Arnold „Christa Wolf“ (1975), Text + Kritik, Bd. 46, 4.Aufl. 1994. – Alexander Stephan „Christa Wolf“ ( 1976), 4. Aufl. 1991. – Klaus Sauer „Christa Wolf“ (1979), Materialienbuch. – Sonja Hilzinger „ChristaWolf“ (1986). – Angela Drescher „Christa Wolf. Studien, Dokumente, Bibliographie“ (1989), Arbeitsbuch. – Therese Hörnigk „Christa Wolf“ (1989). – Jörg Magenau „Christa Wolf“ (2002), Biographie.

Bild: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen

Jörg Bernhard Bilke