Biographie

Wolff, Christian

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Philosoph
* 24. Januar 1679 in Breslau
† 9. April 1754 in Halle/Saale

Christian Wolff kann geradezu als Vater der Gründlichkeit und einer der bedeutendsten Vertreter und Ausgestalter der Aufklärung in Deutschland bezeichnet werden.

Seine Verdienste um gründliches Denken beruhen vor allem aufseiner Logik, die 1713 zum ersten Mal erschienen ist unter dem Titel „Vernünftige Gedanken von den Kräften des mensch­lichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit“. Dieses Werk, mit dem er die Darstellung seiner Philosophie in deutscher Sprache begann, wurde zur Grundlage der Ausbildung akademischer Gymnasien und Universitäten in Deutschland in der Logik, die sich auf alle Studenten erstreckte unabhängig davon, ob sie die Theologie, die Jurisprudenz oder die Medizin zu ihrem Brotstudium erwählt hatten. So wurde die Lehre Wolffs von der Klarheit, Deutlichkeit und Vollständigkeit der Begriffe, von den Sätzen und von den aus Sätzen bestehenden Schlüssen wie auch seine Anweisungen zu ersprießlichen Diskussionen zum Allgemeingut der akademisch Gebildeten. Dadurch kam ein Niveau argumentativen Gedankenaustausches zustande, wie es vorher nicht erreicht worden war.Wolff gebrauchte in seinen Schriften keine Begriffe, die er nicht genau definiert (in seinem noch bei Kant üblichen Sprach­gebrauch: „erklärt“) hatte. Der Philosoph („Welt-Weise“) unterscheidet sich für ihn von einem gemeinen Menschen dadurch, daß er jeweils den Grund dafür angeben kann, weshalb er etwas für möglich oder wirklich hält. In der Fähigkeit, aus stichhaltigen Gründen zu argumentieren, besteht die Gründlichkeit. Und so ist nach ihm Wissenschaft „eine Fertigkeit des Verstandes, alles, was man behauptet, aus unwidersprechlichen Gründen unumstößlich darzutun“ (Deutsche Logik, § 2).

Um ein Beispiel von der Geschliffenheit Wolffscher Definitionen zu geben, sei auf die Definition für den Begriff der Voll­kom­menheit im Unterschied zu der bei Aristoteles anzutreffenden verwiesen. Nach Aristoteles gehört zur Vollkommenheit, daß nichts fehle, was zu einer Sache gehört. Bei Wolff hingegen besteht die Vollkommenheit in der Zusammenstimmung desMannigfaltigen. Man sieht, daß Aristoteles lediglich einen quantitativen Begriff von Vollkommenheit hat, während der Wolffsche qualitativ ist, der den Aristotelischen als Sonderfall unter sich faßt, den wir im Deutschen Vollständigkeit nennen.

Wie schon die Wolffsche Ausarbeitung der aristotelischen Syllogistik selbst auf Studenten gewirkt hat, die gelegentlich ihre Vorlesungen geschwänzt haben, sieht man an der trefflichen Formulierung, die Goethe in seinem „Faust“ in der Schülerszene Mephistopheles dafür finden läßt:

Der Philosoph, der tritt herein

Und beweist euch, es müßt so sein.

Das Erst wär so, das Zweite so

Und dann das Dritt und Vierte so,

Und wenn das Erst und Zweit nicht wär,

Das Dritt und Viert wär nimmermehr.“

So ist es geradezu eine klassische Würdigung der methodischen wie begrifflichen Gründlichkeit Wolffs, wenn Kant in der Vorrede zur 2. Auflage seiner „Kritik der reinen Vernunft“ 1787 sagt:

„In der Ausführung also dieses Plans, den die Kritik vorschreibt, d. i. im künftigen System der Metaphysik, müssen wir dereinst der strengen Methode des berühmten Wolff, des größten unter allen dogmatischen Philosophen, folgen, der zuerst das Beispiel gab (und durch dies Beispiel der Urheber des bisher noch nicht erloschenen Geistes der Gründlichkeit in Deutschland wurde), wie durch gesetzmäßige Feststellung der Prinzipien, deutliche Bestimmung der Begriffe, versuchte Strenge der Beweise, Verhütung kühner Sprünge in Folgerungen der sichere Gang einer Wissenschaft zu nehmen sei.“

Was den Fortschritt zu freiem Denken betrifft, also die Ingangsetzung der Aufklärung als des „Ausgangs des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“, wie Kant 1784 unübertrefflich definiert hat, so besteht die bahnbrechende Erkenntnis Wolffs in der Loslösung der Begründung der Moral von der Autorität Gottes ebenso wie der eines weltlichen Oberherrn. In seiner Ethik „Vernünftige Gedanken von der Menschen Thun und Lassen zur Beförderung ihrer Glückseeligkeit“ von 1720 gründet er die Erkenntnis des Gesetzes der Sittlichkeit allein auf die Vernunft. Das Sittengesetz gilt, „wenn auch gleich der Mensch keinen Oberen hätte, der ihn dazu verbinden könnte, ja es würde statt finden, wenn auch gleich kein Gott wäre“ (§ 20). Oder noch einmal im § 24 seiner Deutschen Moral: „Ja weil wir durch die Vernunft erkennen, was das Gesetze der Natur haben will; so brauchet ein vernünftiger Mensch kein weiteres Gesetze, sondern vermittelst seiner Vernunft ist er ihm selbst ein ein Gesetze.“

Ebenso finden wir, wenn wir Wolffs Deutsche Politik von 1721 („Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen“) aufschlagen, auch dort die Vernunft des Menschen als letzten Maßstab der Beurteilung von Gesetzgebung, Regierung und Rechtsprechung. Daher verlangt er, daß die bürgerlichen Gesetze nichts vorschreiben dürfen, was der Vernunft widerspricht. Daher sollen auch solche, „die im Nachdenken geübet und in Rechts-Gründen erfahren sind“, dem Landesherrn Vorschläge zur Verbesserung der bürgerlichen Gesetze unterbreiten.

So ist es gar nichts anderes als das Philosophieren Wolffs, das Kant in seiner Anmerkung in der Vorrede zur ersten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ von 1781 vor Augen hat, mit der er den Ausdruck „Kritik“ im Titel seines Buches als zeitgemäß rechtfertigen will:

„Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion durch ihre Heiligkeit und Gesetzgebung durch ihre Majestät wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.“

Wie konnte es zu dieser herausragenden Leistung in formaler und inhaltlicher Entwicklung der Philosophie kommen? Es unterliegt keinem Zweifel, daß der Herkunft Christian Wolffs aus der schlesischen Metropole Breslau dafür eine große Bedeutung zukommt. Dort wurde er am 24. Januar 1679 als das zweite von sechs Kindern des Rotgerbers Christoph Wolff und seiner Ehefrau Anna, geb. Giller, geboren. Der Vater unseres Philosophen hatte aus wirtschaftlichen Gründen das Elisabeth-Gymnasium als Primaner verlassen müssen. So bestimmte er seinen ersten Sohn zum Studium. Diese väterliche Intention wurde durch Begabung und Fleiß des Sohnes ungewöhnlich unterstützt. In seiner eigenen Lebensbeschreibung rühmt der dankbare Sohn seinen Eltern nach, daß sie ihm „von der ersten Kindheit an große Liebe zur Gerechtigkeit …, auch einen Eifer für die Religion und Gottesfurcht beigebracht“ haben.

Da schon im Elternhaus die Religion (evangelischen Bekenntnisses) Lebensmittelpunkt war, mußte die konfessionelle Besonderheit Schlesiens für den heranwachsenden lernbegierigen Jungen Stoff zum Nachdenken bieten. Diese Besonderheit Schlesiens war dadurch entstanden, daß die Schlesier, die zunächst nach der Reformation Luthers dem neuen Glauben zugefallen waren, im 17. Jahrhundert gegenreformatorischen Maß­nahmen aus Wien ausgesetzt wurden. So bildete sich im größten Teil Schlesiens eine Bikonfessionalität von Katholiken einerseits und teils lutherischen, teils reformierten Evangelischen andererseits heraus, die zu Gegensätzen, Streitigkeiten und Anpassungen, aber auch zum Nachdenken und zum Wettstreit im Erkennen und im Lebenswandel führte.

Dies zeigte sich besonders im Schulwesen der Stadt Breslau, die einerseits Bischofssitz, als Bürgerstadt aber evangelisch bestimmt war. Den herausragenden Akademischen Gymnasien zu Elisabeth und Maria Magdalenen wurde ein hervorragendes Jesuitengymnasium an die Seite gestellt. Für Wolffs Bildung war diese Doppelung des Christentums in seiner Heimatstadt geradezu prägend. In seiner Lebensbeschreibung hebt er hervor, daß er „der Katolicken Predigten fleißig besuchte und ihren Kirchenfesten beywohnete, …, weil ich ihre Religion recht wollte kennen lernen, nicht aus dem, was ihre Gegner sagen“.

Seine unvoreingenommene Wahrheitsliebe führte auch den angehenden Philosophen dazu, in der Mathematik das methodische Hilfsmittel zu suchen, den richtigen Glauben herauszufinden. Darin bestärkte ihn sein großer Lehrer Caspar Neumann (1649-1715), Sohn eines Breslauer Ratsbeamten, der wie Leibniz bei Weigel in Jena studiert und sich dabei auch in Mathematik und Physik ausgebildet hatte. Neumann hat Wolff 1699, als er sich verabschiedete, um mit einem Ratsstipendium der Stadt Breslau nach Jena zum Studium zu gehen, mit dem Ausspruch entlassen: „Rara avis Theologus, Physicus et Mathematicus“. Wolff war darauf aus, ein solcher „seltener Vogel“ zu werden. Neumann war nicht nur ein auch bei der Jugend ungewöhnlich beliebter Prediger, sondern seit 1697 als Schul- und Kircheninspektor der Stadt Breslau eine tonangebende Persönlichkeit in dieser für damalige Verhältnisse großen Stadt. Nimmt man noch den Altphilologen Christian Gryphius, Sohn des berühmten Barockdichters Andreas Gryphius, hinzu, so wird deutlich, daß Christian Wolff in Breslau auch durch das Niveau seiner Lehrer begünstigt war.

Da Schlesien seit den Zeiten des Späthumanismus im ausgehenden 15. und im 16. Jahrhundert eine führende deutsche Kulturlandschaft war, die im Barockzeitalter mehr Dichter hervorgebracht hat als das ganze übrige Deutschland, so konnte Wolff auch an eine literarische Spitzenstellung im Raum der deutschen Sprache anknüpfen, die seinem in der Muttersprache abgefaßten philosophischen System einen leichten Eingang bei den Gebildeten Deutschlands sicherte. Daß er seine ganze Philosophie zuerst in deutscher Sprache (später für die Gelehrten des Auslands auch lateinisch) abgefaßt hat, bewirkte in Deutschland einen Bildungsaufschwung, wie er zuvor durch die Bibelübersetzung Luthers und danach allenfalls noch durch die inhaltlich auf dem Boden der Humanitätsideale der Wolffschen Philosophie stehende klassische Literatur der Lessing, Goethe, Schiller, Hölderlin und Kleist hervorgerufen wurde.

Zu seiner großen Wirkung trug freilich auch sein Schicksal bei. Nachdem er 1721 in seiner „Rede über die Moralphilosophie der Chinesen“ (Oratio de sinarum philosophia practica) auch noch den empirischen Nachweis dafür geliefert hatte, daß Konfuzius bereits 400 Jahre vor Jesus von Nazareth die richtigen sittlichen Forderungen für den Menschen aufgestellt hatte, das Sittengesetz also nicht erst durch die christliche Offenbarung in die Welt gekommen sein konnte, war für seine theologischen Kollegen August Hermann Francke und Joachim Lange das Maß voll. Sie, denen durch den großen Anklang, den Wolffs Vorlesungen fanden, die Einnahmen aus Hörergeldern drastisch geschmälert worden waren, erreichten bei König Friedrich Wilhelm I. im Herbst 1723 die lang ersehnte Amtsenthebung und Landesverweisung des Philosophen aus Preußen unter Androhung des Todes durch den Strang. Wolff, der zuvor eine Anfrage des Landgrafen von Hessen-Kassel erhalten hatte, ob er nicht an die Universität Marburg kommen wolle, begab sich eilig nach Hessen und wurde nun Professor für Philosophie, Mathematik und Physik in Marburg, bis ihn Friedrich der Große noch 1746 nach Halle zurückberief. Die Marburger Universität kam durch diesen Märtyrer der Wahrheit erst in Blüte. Die Zarin von Rußland, die ihn zu gern in St. Petersburg gehabt hätte und mit deren Vollmacht er viele deutsche Gelehrte an die Petersburger Akademie vermittelte, schickte ihm auch russische Studenten nach Marburg, die er geradezu väterlich betreute. Unter ihnen war auch Lomonossow, nach dem die Moskauer Universität benannt ist. In Marburg schrieb nun Wolff seine gesamte Philosophie noch einmal in erweiterter Form auf lateinisch, um in der ganzen gelehrten Welt wirken zu können. Sein Ruhm verbreitete sich in ganz Europa sowohl durch sein Schicksal wie durch die Klarheit seiner Lehren. Wolffs Rückkehr nach Halle – Friedrich, der sich als Kronprinz durch die Lektüre der Werke Wolffs gebildet hatte, hätte ihn noch lieber in Berlin in führender Stellung bei der Akademie gehabt – gestaltete sich durch die Begeisterung der Studenten zu einem Triumphzug durch das Saaletal.

Und als er 1754 gestorben war, würdigte der berühmte Lehrbuchautor der Wolffschen Schule Georg Friedrich Meier in seinen „Betrachtungen bei dem Tode des Freiherrn von Wolff“ diesen Praeceptor Germaniae et Europae mit den Worten: „Gott sprach, es werde Licht in der Weltweisheit, und es ward Wolff.“

Lit.: Christian Wolff, Gesammelte Werke. In drei Abteilungen. Herausgegeben und bearbeitet von Jean Ecole, J. E. Hofmann, M. Thomann und Hans Werner Arndt. Georg Olms Verlag, Hildesheim, Zürich, New York 1965ff. – Werner Schneider (Hrsg.), Christian Wolff 1679-1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung.Hamburg 1983. – Jean Ecole, La métaphysique de Christian Wolff.Hildesheim, Zürich, New York 1990. – Eberhard G. Schulz, Durch Selbstdenken zur Freiheit. Beiträge zur Geschichte der Philosophie im Zeitalter der Aufklärung. (Darin mehrere Beiträge zu Christian Wolff.)Hildesheim, Zürich, New York 2005.

Eberhard Günter Schulz