Biographie

Wormsbecher, Hugo

Herkunft: Rußland (Wolga- u. Schwarzmeer)
Beruf: Schriftsteller
* 26. Juni 1938 in Marxstadt an der Wolga/Russland

Den in Marxstadt (heute Marx) in der wolgadeutschen Republik geborenen Hugo Wormsbecher traf 1941 das Schicksal der Aussiedlung nach Westsibirien, wo er in Barnaul im Altai die Schule besuchte und seinen Militärdienst absolvierte. 1962 übersiedelte er nach Kasachstan, nach Alma-Ata. Dort arbeitete er zunächst als Elektrotechniker, dann als Techniker im Holzschlag, bevor er Deutsch und Sport unterrichtete. Ab 1965 erfolgte die Mitarbeit an der ZeitungFreundschaft aus Alma-Ata und ab 1969 an der Zeitung Neues Leben aus Moskau. Der Absolvent der Fakultät für Redakteure des Moskauer Polygraphischen Instituts wurde 1969 in den Journalistenverband aufgenommen. In Moskau lebt und wirkt Hugo Wormsbecher noch heute.

Wie kaum ein anderer suchte Wormsbecher in seinen literarischen Arbeiten, die Traumata seiner vom Totalitarismus des 20. Jahrhunderts, von den Verbrechen Hitlers und Stalins so sehr betroffenen Landsleute zu bewältigen, die immer noch oft als unerwünschte Belastung diskriminiert werden, sowohl in ihrer alten Heimat Russland und den GUS-Staaten als auch in der neuen Heimat Deutschland. Dem Vorwurf der Kollaboration mit dem faschistischen Aggressor – Stalins Vorwand, um die Wolgadeutschen und neben ihnen noch ein Dutzend weiterer Völker mit Verbannung und Zwangsarbeit zu „bestrafen“ – suchte Wormsbecher mit der Schilderung der außergewöhnlichen Loyalität seiner Landsleute ihrer Heimat gegenüber zu begegnen.

Sein 1986 zu Beginn der Perestrojka-Politik Gorbatschows im Raduga-(Regenbogen-)Verlag Moskau erschienener Prosaband Unser Hof beginnt symbolisch mit der Erzählung Deinen Namen gibt der Sieg dir wieder. Um der Verbannung zu entgehen und den Arbeitskonzentrationslagern zu entkommen, kämpften einige Russlanddeutsche „freiwillig“ in der Roten Armee, aber unter falschen, d.h. nicht deutschen Namen. Ein solcher „Held“ von Stalins Gnaden ist Paul Schmidt, die Hauptgestalt dieser bekannten Erzählung. Nach dem Sieg über die Faschisten offenbart sich Paul Schmidt, der unter einem aserbaidschanischen Namen, Achmedytsch Achmedow, als Sergant gedient hatte, seinen vorgesetzten Ofizieren als Russlanddeutscher. Wenn diese Erzählung auch einige rührselige Klischees von Männerfreundschaft nicht vermeidet, widerspricht sie doch couragiert der Kollektivschuldthese. Weniger glücklich wirkt dagegen die Erzählung Im Feuer gestählt, in der der russlanddeutsche Partisan David Schulz„junge Waghälse“, wie er selbst einer gewesen war, ausbildet. Die Figur des David Schulz wirkt durchgehend schablonenhaft.

Weit heikler und abgründiger als diese wohlgemeinten Heldendichtungen sind Wormsbechers Bemühungen, dem im Stalinismus erlittenen Unrecht seiner Landsleute gerecht zu werden. In einer seiner besten Prosaarbeiten des BandesUnser Hof schildert er aus der Perspektive des Kindes Fritz, wie dessen Familie dem Terror zum Opfer fällt. Der Vater, ein Lehrer, wird deportiert und in ein Arbeitslager zum Holzfällen gebracht. Dort erleidet er einen schweren Unfall, wird gelähmt und erblindet nach Hause zurück gebracht, um dort zu sterben, ohne von Fritz wieder als Vater erkannt zu werden. Die mit drei Kindern Arno, Fritz und Mariechen allein gebliebene Mutter wird nach einiger Zeit zur Kommandantur bestellt, um auf Arbeitsfähigkeit in einem Lager überprüft zu werden. Zwar entlässt man sie, doch stirbt sie an den Folgen der Erfrierungen, die sie sich auf dem Gewaltmarsch nach Hause zuzieht. Die Schwester Mariechen wird Opfer eines Wolfsrudels, das den Pferdeschlitten anfällt, mit dem ein gutmütiger Bekannter, Großväterchen Semjonytsch, die drei Waisen in den Nachbarort bringen will. Bruder Arno verlässt Großväterchen Semjonytsch, um seine richtigen Großeltern zu suchen. Das allein gebliebene Fritzchen erkrankt vor Kummer und hat Traumvisionen, die es noch einmal in sein Vaterhaus „unseren Hof“ an der Wolga zurückführt, wo die ganze Familie vor seinem geistigen Auge erscheint, selbst der Großvater, ein Held aus Zeiten des Bürgerkrieges, der von den Weißen erhängt wurde – ein bitteres Ende, denn dieser Kämpfer für ein besseres Leben in einem besseren Land hätte selbst in seinen schlimmsten Befürchtungen sich niemals vorstellen können, dass seine Familie einst verfolgt sein würde vom zum Stalinismus verkommenen Ideal seines Lebens und Sterbens.

Die poetisch dichteste Erzählung dürfte Ein Haus für dich sein. Ein realsozialistischer Parzival und Don Quichotte in ein und derselben Gestalt baut ein Haus wie ein Heiligtum für seine große Liebe. Doch vor lauter Arbeit versäumt er es, seine Liebe zu offenbaren und muss zweimal erleben, wie seine Angebetete in unglückliche Beziehungen schlittert. Dieses Prosastück ist auch eine Anspielung auf die Gefahren, welche die Tugenden der Russlanddeutschen – Tüchtigkeit, Ausdauer und eiserner Arbeitseifer, selbst und härtesten Bedingungen – in sich bergen. Ihr bescheidener Wohlstand, ihre Häuschen, Gärten und später auch Autos fördern mitunter den Vertreibungsdruck, da nicht wenige – häufig Funktionäre – billig an diese Früchte des Fleißes der Russlanddeutschen kommen wollen.

In seinen Reportagen, die den mühsamen Aufstieg der hart arbeitenden Russlanddeutschen zum Thema haben, zollt Wormsbecher – wie nicht anders zu erwarten – dem Schema vom positiven Helden der sozialistischen Alltagsaufbauarbeit Tribut, wenn es allerdings bei ihm auch „gleichberechtigte“ Russlanddeutsche sind. Doch auch hier fehlen die Spitzen nicht ganz, wenn etwa im Kolchos des „großen Vorsitzenden“ Friedrich Schneider, die auf Kosten des Kolchos ausgebildeten Jugendlichen anderen Betrieben zugeteilt werden. Damit werden die erwirtschafteten Güter des Kolchos ihren Mitgliedern weggenommen und administrativ weniger ertragreichen Betrieben zugeschanzt: Eine offene Form der Ausbeutung unter der Losung gegenseitiger Hilfeleistung, von oben diktiert.

Genauso ernst wie sein eigenes Werk hat Hugo Wormsbecher die Herausgabe des 1981 bis 1989 zweimal jährlich erscheinenden LiteraturalmanachsHeimatliche Welten genommen. Hier veröffentlichte er in zehn Folgen Gerhard Sawatzkis Schlüsselroman der RusslanddeutschenWir selbst, der schon 1938 im Druck vorlag, dann verboten wurde und die Verschleppung des Autors in ein sibirisches Arbeitslager nach sich zog, in dem Sawatzki im Dezember 1944, nach sechs qualvollen Jahren, elendig zugrunde ging. Dieser Almanach war auch ein Forum sowohl altbewährter Autoren wie Woldemar Ekkert, Lew Malinowski, aber auch junger Autoren wie Katharina Töws. Seine Einstellung Ende der 1980er Jahre, als die Perestrojka vieles Ungesagte nun auch für die Russlanddeutschen sagbar und gestaltbar machte, war ein herber und bis heute nicht zu verschmerzender Verlust für das gesamte russlanddeutsche Geistesleben.

Neben der schriftstellerischen und journalistischen Arbeit darf Wormsbechers Engagement für die Autonomiebewegung der Russlanddeutschen nicht unerwähnt bleiben. Ohne ein Gebiet mit lebendiger deutscher Umgangssprache – wie es vormals die Wolgadeutsche Republik und die deutschsprachigen Rayons (Bezirke) gewesen waren, schien ihm eine Bewahrung und Fortführung der russlanddeutschen Kultur kaum möglich. Einzelne Gruppen aktiver Russlanddeutscher schlossen sich 1989 zur Allunionsgesellschaft der Sowjetdeutschen ‚Wiedergeburt‘ für Politik, Kultur und Bildung – kurz Wiedergeburt genannt – zusammen. Sie zielten auf die Bewahrung der russlanddeutschen Kultur, die volle Rehabilitierung der Deutschen, Wiederherstellung der autonomen Republik an der Wolga und der nationalen Landkreise in Gebieten mit kompakt siedelnder deutscher Bevölkerung ab. Auffassungen gerade über den letztere Punkte führten indes zur Spaltung derWiedergeburt. Unter Leitung des bisherigen Vizepräsidenten Wormsbecher wurde 1991 der Verband der Deutschen in der UdSSR gegründet, der später in Zwischennationaler Verband der Deutschen in der GUS umbenannt wurde. Die beiden heute vorhandenen autonomen Rayons der Russlanddeutschen in Westsibirien, Halbstadt und Assowo, sind für Wormsbecher ein vielversprechender Anfang.

Hugo Wormsbecher, der als Fels in der Brandung russlanddeutscher Vergangenheitsbewältigung und als Zukunftshoffnung gilt, konnte sich bei all seinen Aktivitäten allerdings nicht zerreißen in einen Herausgeber, einen Autor, einen Journalisten und einen Kämpfer für die Autonomie der Russlanddeutschen. Den Bestrebungen der Stablisierung der „Daheimgebliebenen“ in der alten Heimat Russland widmet er zur Zeit alle seine Kräfte, doch ist zu hoffen, dass er eines Tages wieder zur Feder greifen wird und seine Erfahrungen – gerade auch hinsichtlich der Bemühungen um eine gleichberechtigte Autonomie der Russlanddeutschen mit den anderen 153 Völkerschaften der ehemaligen Sowjetunion – literarisch Gestalt annehmen lasssen wird.

Bild:Kulturstiftung.