Biographie

Zedlitz und Neukirch, Heinrich Freiherr v.

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Regierungspräsident
* 20. August 1863 in Trautmannsdorf/ Kr. Schönau
† 14. November 1943 in Neukirch

Der Sohn des Kammerherrn und Schlosshauptmanns Hugo Freiherr v. Zedlitz und Neukirch (1816-1893) und dessen Frau Ellen, geb. Cowell (1835-1912), hatte sich schon als Primaner für die junge nationale Bewegung in der Studentenschaft interessiert, die seiner Ansicht nach in den Vereinen Deutscher Studenten (VDSt) ihren organisatorischen Ausdruck fand. Er trat daher zu Beginn seines Jurastudiums im Sommersemester 1882 dem VDSt Berlin bei und war im Sommersemester 1883 an der Gründung des VDSt Tübingen beteiligt. Wieder zurück in Berlin wurde ihm der Vorsitz des VDSt im Wintersemester 1884/85 übertragen. Obwohl er dieses Semester zur Vorbereitung auf sein Referendarsexamen nutzen wollte, wurde er in den Berliner Studentenausschuss gewählt. Dort kam es zu Auseinandersetzungen mit dem Ausschussmitglied Oehlke über die Teilnahme des Dichters Julius Wolff am Reichsgründungskommers des VDSt Berlin am 18. Januar 1884. Es folgte eine Forderung Oehlkes an drei Ausschussmitglieder, darunter die VDSter Zedlitz und Richard Holzapfel. Das folgende Duell am 5. Januar 1885 sorgte reichsweit für Aufsehen. Während der Kugelwechsel Zedlitz-Oehlke unblutig endete, wurde Holzapfel im folgenden Duell getötet. In der anschließenden Schwurgerichtsverhandlung wurde Zedlitz freigesprochen, obwohl er sich als „schuldig“ bekannt hatte. Schon 14 Tage nach seinem Freispruch hielt er die Rede der deutschen Studentenschaft anlässlich des 70. Geburtstags von Reichskanzler Bismarck. Dieser bedankte sich – so Zedlitz – mit den Worten: „Es heißt wohl: Was ein Häkchen werden will, krümmt sich beizeiten. Angesichts der Jugend sage ich aber: Was ein Mastbaum werden will, reckt sich beizeiten.“ In vielen Zeitungsberichten über das Ereignis war jedoch nur der erste Satz zu lesen, womit Zedlitz diskreditiert werden sollte. Auch bei anderen Gelegenheiten trat Zedlitz in der Geschichte der Vereine Deutscher Studenten an prominenter Stelle in Erscheinung: Bei der Enthüllung des Botschaftsgedenksteins am Kyffhäuser hielt er 1896 die Festrede. Ebenso hielt er 1906 eine Ansprache bei der Einweihung der Bismarcksäule des Verbandes auf der Rothenburg. VDSt-Historiker Herman v. Petersdorff sah ihn als den „in mancher Beziehung … glücklichste(n) Vertreter der … deutsch-nationalen Studentenbewegung“ an. Danach war Zedlitz „ein ernster Christ“ und ein „gemäßigter“ Antisemit. Seine Haltung gegenüber der „Judenfrage“ hatte Zedlitz 1888 in einem Aufsatz in den Akademischen Blättern, dem Verbandsorgan des Kyffhäuser-Verbandes der Vereine Deutscher Studenten (KV), dargelegt, deren Redaktion er 1886 bis 1888 angehörte. Danach sah er die Notwenigkeit eines Kampfes gegen das Judentum nur wenn es galt, Monarchie, Reich, Sozialreform und Christentum zu verteidigen: „Wir haben die Juden weder als Rasse, noch als Religionsgemeinschaft zu bekämpfen; unsere Aufgabe ist es vielmehr allein, uns gegen die antinationale Wirksamkeit des Judentums auf den von uns in Betracht gezogenen Gebieten zu wenden.“ Eine Haltung, die sich gegen radikalere Ansichten im KV nicht durchsetzte.

1885 diente Zedlitz als Einjährig-Freiwilliger beim 5. Jäger-Bataillon in Görlitz. Als Referendar war er am Amtsgericht Muskau, darauf beim Amtsgericht Neurode und dann im Landgericht I Berlin tätig. Am 30. Juni 1888 wurde er zur Regierung nach Bromberg versetzt.

In erster Ehe heiratete er am 23. September 1889 in Berlin Helene v. Ohlen u. Adlerskron (1867-1901). Aus der Ehe gingen die Kinder Friedrich (1891-1915), Eberhard (* 1892), Werner (1894-1918), Hertha Viktoria (* 1895), Wilhelm (*† 1899) und Helene (* 1901) hervor.

1891 kam er zur Regierung nach Merseburg. Er bestand als Regierungsreferendar am 30. Mai 1891 die zweite Prüfung für den höheren Verwaltungsdienst und wurde zum Regierungsassessor ernannt. Als solcher wurde er 1891 der königlichen Regierung in Osnabrück zugeteilt und am 1. Juli 1894 an das königliche Oberpräsidium in Hannover versetzt, wo er an der Gründung des dortigen VDSt mitwirkte. Ab Herbst 1897 verwaltete er zunächst als Regierungsassessor kommissarisch, dann als Landrat die westpreußische Kleinstadt Konitz. Dort brachen in Folge des Mordes an einem Gymnasiasten 1900 die schwersten antisemitischen Unruhen im wilhelminischen Kaiserreich aus. Aufgestachelt durch die seit dem Mittelalter bestehende Legende vom jüdischen „Ritualmord“, nach dem Juden für ihre kultischen Handlungen das Blut ermordeter Christen benötigen würden, sahen die Konitzer in den Juden des Ortes die Schuldigen. Inmitten einer von zahllosen Gerüchten und Meineiden geprägten Stimmung aus Angst und Unsicherheit – der Mörder wurde nie ermittelt – stand ein antisemitischer Mob mehrfach der preußischen Obrigkeit gegenüber. Deren höchster ortsansässiger Vertreter war Landrat Zedlitz. Höhepunkt war der antisemitische Pogrom vom 10. Juni 1900 mit Morddrohungen gegen Juden, eingeworfenen Fensterscheiben und geschändeten Grabsteinen. Hierbei trat Zedlitz mehreren tausend Personen entgegen. Sein gütliches Zureden blieb ergebnislos, die Menge war nicht zu beruhigen. Er selbst und ein jüdisches Kaufhaus wurden mit Steinen beworfen. Die Gendarmen zogen ihre Pistolen und Säbel, einen Moment dachte Zedlitz daran den Feuerbefehl zu geben. Eine Eskalation des Tumults fürchtend, trat er jedoch den Rückzug an. Seine wenigen Gendarmen hätten einen Sturm auf die Häuser der jüdischen Bewohner nicht verhindern können. 150 von ihm angeforderte Soldaten gingen einige Stunden später schließlich mit aufgepflanzten Bajonetten gegen die Aufrührer vor. In der Folge flaute die Erregung ab. Seine Berichte über die „Konitzer Affäre“ an den preußischen Innenminister zeigen ihn zwar zunächst als Sympathisanten der Antisemiten. Für die Konitzer Juden trat er allerdings entschieden ein, als gegen diese in der Presse eine Hetze einsetzte, die mit für die antisemitischen Unruhen verantwortlich war. Zedlitz sah das Schüren der „Erregung der Bevölkerung“ durch „eine gewisse Sorte antisemitischer Zeitungen“ als unverantwortlich an.

Sein Eintreten für die jüdische Bevölkerung kann nicht nur mit Pflichtbewusstsein und der Sorge um seine Karriere erklärt werden. Vielmehr passte es zu seiner schon früher geäußerten Einstellung. Antisemitische Ressentiments waren bei ihm zwar vorhanden, doch schloss er sich nach kurzem Zweifeln dem judenfeindlichen Konsens nicht an. Er verteidigte die jüdischen Bewohner von Konitz vielmehr und erklärte, dass er „einen Ritualmord seitens der jüdischen Cultusgemeinde selbstverständlich als Aberglaube betrachte“. Zwar zeigte er Schwäche, als er dem Mob gegenüberstand, da er sich auf sein von Petersdorff gerühmtes Talent als ausgleichender Redner in schwierigen Situationen verlies, doch zeigte er diese – auch angesichts der wenigen ihm zur Verfügung stehenden Gendarmen – vielleicht genau im richtigen Augenblick. Diesen Eindruck hatte jedenfalls der Verein zur Abwehr des Antisemitismus, der in seinen Mitteilungen einen Artikel der Ostdeutschen Tageszeitung abdruckte: „Christen und Juden erkennen in gleicher Weise an, daß Herr Landrath v. Zedlitz-Neukirch in objektiver Weise in Konitz seines Amtes gewalten hat … Es läßt sich ja nicht in Abrede stellen, daß unser Herr Landrath in den kritischen Konitzer Tagen nicht mit strengsten Maßnahmen gegen die Verhetzten und Aufgeregten vorging, sondern als humaner Mann der aufgehetzten Menge besänftigend gegenübertrat. Ein Einsichtiger wird dem Herrn Landrath aber sein humanes Verhalten nicht nachtragen. Dadurch wurde der Stadt vielleicht ein beklagenswertes Blutvergießen erspart.“ Sein Aufgabe – den Schutz der jüdischen Bevölkerung – erfüllte er jedenfalls.

Geprägt durch die Ereignisse verließ er seine westpreußische Heimat aber im folgenden Jahr. Ab 1. Juli 1901 war er Landrat in Linden bei Hannover, ab Januar 1904 Oberleutnant a.D., ab Mitte 1904 Geheimer Regierungsrat und vortragender Rat im Preußischen Kultusministerium. Im Dezember 1906 gehörte er zu den Unterzeichnern eines Aufrufs innerhalb des KV, nachdem alle Sympathisanten der Sozialdemokratie aus dem Verband austreten sollten. Drei Jahre später wurde er zum Oberregierungsrat ernannt. Als parlamentarischer Kommissar war er in beiden Häusern des Preußischen Landtages und im Reichstag tätig. In zweiter Ehe heiratete er am 15. Oktober 1909 in Potsdam Natalie v. Bredow a. d. H. Senzke (1862-1934). Um 1912 wechselte er in das Preußische Innenministerium und wurde Anfang 1914 Regierungspräsident in Köslin. 1914 erhielt er den Kronenorden zweiter Klasse. 1917 erhielt er das Eiserne Kreuz am schwarz-weißen Bande. 1918 erhielt er den Charakter als Wirklicher Geheimer Oberregierungsrat und das Österreichische Kriegskreuz für Zivilverdienste 2. Klasse verliehen. Die Revolution lehnte er entschieden ab und stellte sich dem Arbeiter- und Soldatenrat in Köslin im Rahmen seiner Möglichkeiten entgegen. Dies wurde ihm durch seinen persönlichen Einfluss und durch das Ansehen erleichtert, dass er genoss. „So lange das Stadium der Revolution und die Gefahr eines spartakistischen Sieges in Berlin bestand, hielt ich mich für verpflichtet, im Amte auszuharren“. Am 1. Juli 1919 verließ er aber nach Verabschiedung der Verfassung schließlich den Staatsdienst: „Organ der sozialdemokratischen Staatsregierung konnte ich nicht sein.“ Der Ehrenritter des Johanniter Ordens wohnte zunächst in Görlitz und zog 1934 auf das Zedlitzsche Stammschloss in Neukirch an der Katzbach. Die Erfahrungen in Konitz, der Kriegstod zweier Söhne, die schwere Kriegsbeschädigung eines Dritten sowie Zusammenbruch und Revolution 1918/19 hatten bei ihm zu schweren seelischen Erschütterungen geführt. In dritter Ehe heiratete er am 18. November 1938 in Bennigsen Margareta v. Benningsen (1891-1966).

Werke: Berechtigung und Bedeutung studentischer Bestrebungen für die Zukunft, in: Akademische Blätter (Ak. Bl.,), 1. Jg. 1886/87, 135-136. – Was thut uns not?, in: Ak. Bl., 2. Jg. 1887/88, 45-46. – Die Stellung des Kyffhäuser-Verbandes zur Judenfrage, in: ebenda, 161-162. – Mit Johannes Quandt und Christian Rogge (Hrsg.), Taschenbuch für die Mitglieder des Kyffhäuser-Verbandes der Vereine Deutscher Studenten, 1. Auflage Berlin 1888. – Sollen wir agitieren?, in: Ak. Bl., 6. Jg. 1891/92, 106-107. – Mit Johannes Quandt und Christian Rogge (Hrsg.), Taschenbuch für die Mitglieder des Kyffhäuser-Verbandes der Vereine Deutscher Studenten, 2. Auflage Berlin 1892. – Unsere Praktische Arbeit, in: Taschenbuch für die Mitglieder des Kyffhäuser-Verbandes der Vereine Deutscher Studenten, 3. Aufl. 1897, S. 47-53. – Unsere praktische Arbeit, in: Otto Hoetzsch (Hrsg.), Taschenbuch für den Kyffhäuser-Verband der Vereine Deutscher Studenten, 4. Auflage Berlin 1903, 66-72. – Unsere praktische Arbeit, in: Karl Kormann (Hrsg.), Taschenbuch für den Kyffhäuser-Verband der Vereine Deutscher Studenten, 5. Auflage Berlin 1910, S. 63-68. – Einzelerinnerungen aus meinem Leben, (MS) Weihnachten 1935 (Familienarchiv Caspar v. Zedlitz und Neukirch, Bergisch-Gladbach).

Lit.: Auskunft von Caspar und Matthias von Zedlitz und Neukirch. – J. Paalzow und J. Rindermann (Hrsg.), Das Duell Holzapfel-Oehlke vor dem Schwurgericht. Stenographischer Bericht der Verhandlungen vom 18. März 1885, Berlin 1885. – Die Vereine Deutscher Studenten. 12 Jahre akademischer Kämpfe, hrsg. von Herman v. Petersdorff unter Mitwirkung von Christian Rogge, Waldemar Zetsche u.a., 3. Auflage Leipzig 1900. – Mitteilungen des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus vom 26. Juni 1901, S. 222. – Frhr. von Zedlitz und Neukirch an die Verbandstagung 1935, in: Ak. Bl., 50. Jg. 1935/36, S. 134. – Genealogisches Handbuch des Adels, Freiherrliche Häuser A, Bd. X, Limburg 1977, S. 474-475. – Norbert Kampe, Studenten und „Judenfrage“ im Deutschen Kaiserreich. Die Entstehung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus, Göttingen 1988. – Ders., „Studentische Judenfrage“ und „Neuer Nationalismus“ im Deutschen Kaiserreich. Zur Wirkungsgeschichte der Vereine Deutscher Studenten, in: Marc Zirlewagen (Hrsg.), Kaisertreue – Führergedanke – Demokratie, Köln 2000, S. 37-77. – Christoph Nonn, Eine Stadt sucht einen Mörder. Gerücht, Gewalt und Antisemitismus im Kaiserreich, Göttingen 2002. – Helmut Walser Smith, Die Geschichte des Schlachters. Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt, Göttingen 2002.

Bild: Familienarchiv Caspar v. Zedlitz und Neukirch, Bergisch-Gladbach.

Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_von_Zedlitz_und_Neukirch.

Marc Zirlewagen