Einen “Bodelschwingh der Volksdeutschen in der galizischen Diaspora” hat ihn Bischof Otto Dibelius genannt und hinzugefügt, daß “niemand die Geschichte der evangelischen Liebesarbeit in den letzten hundert Jahren schreiben dürfe, ohne Theodor Zöcklers zu gedenken.” Einen Wohltäter nannten ihn Tausende in Not geratene Kinder, arme Alte und Gebrechliche. Dazu war er der profilierteste Kopf einer von Volk und Vaterland verlassenen auslanddeutschen Splittergruppe, die ihm die Führung und Wegweisung verdankt, zudem Fels der evangelischen Glaubenslehre in einer von Polen, Ukrainern, Juden und Rumänen dominierten anderssprachigen und andersgläubigen Umwelt.
Niemand hatte voraussehen können, daß sich der Greifswalder Professorensohn zu einer so überragenden geistigen und theologischen Persönlichkeit und allerseits verehrten Vaterfigur der Galiziendeutschen entwickeln würde. Als junger Mann absolvierte er – wie in Kreisen des Bildungsbürgertums üblich–Gymnasium und Universität und erhielt eine gediegene theologische Ausbildung in Greifswald, Leipzig und Erlangen, die hoffen ließ, daß er in die Fußstapfen seines angesehenen Vaters treten würde. Auch fand sich bald an seiner Seite Lillie Bredenkamp aus einer Bremer Kaufmannsfamilie als standesgemäße Braut ein. “Juden seien zu missionieren”, beantwortete Zöckler dem Zeitgeist der Leipziger theologischen Schule von Professor Delitzsch gemäß die Frage, welcher Lebensaufgabe er sich stellen wolle. Dazu war es notwendig, dorthin zu fahren, wo Juden und Rabbiner in altreligiösen Bindungen in großer Zahl lebten: in das ostgalizisch-rumänische Grenzgebiet der österreichischen Monarchie.
In dieses– damals vom kaiserlichen Deutschen Reich ausgesehen weit entfernte– ausländische Gebiet unternahm der 23jährige 1891 eine Reise. Er fuhr nach Stanislau in Ostgalizien, um die Vertretung eines dort bereits tätigen Studienfreundes zu übernehmen, der nach Deutschland zurückkehrte– nicht ahnend, daß dieser Ort sein zukünftiger Lebensmittelpunkt und Zentrum eines segensreichen Schaffens werden sollte. Er erzählte später, er sei gleich nach der Ankunft, vom Bahnhof weg, von einigen Evangelischen zur Beerdigung einer armen Witwe geholt worden, die ein Häuflein Kinder hinterließ. “Wir müssen die Kinder in ein polnisches Waisenhaus geben, in dem sie als katholische Polen aufwachsen werden”, bedeuteten ihm bedauernd die Beerdigungsteilnehmer. So wurde er gleich am ersten Tag mit der Not der in der Diaspora lebenden evangelischen Deutschen konfrontiert und verstand die Warnung eines befreundeten Judenchristen, daß sich die Juden nie zum Christentum bekehren würden, solange sie zusehen müßten, wie wenig sich die Christen um ihre eigenen Volks- und Glaubensgenossen kümmerten. Erschüttert von der von ihm vorgefundenen materiellen, geistigen und religiösen Not beschloß Zöckler, in Stanislau zu bleiben und sich des Schicksals dieser Evangelischen anzunehmen.
Zunächst versuchte Zöckler mit Unterstützung seiner ihm 1893 nach Galizien gefolgten Frau, die die gleiche hohe Gesinnung mit ihm teilte, die Not der bedrängten Kinder zu lindern, welche ihm besonders am Herzen lagen. Unter Verwendung eines Teils der Erbschaft seiner Frau, die später voll Dankbarkeit und Verehrung nur “Mutter Zöckler” genannt wurde, gründete das Ehepaar Zöckler 1896 ein Kinderheim, in dem auch eine deutsche Volksschule eingerichtet wurde. Von überall her wurden ihnen daraufhin Kinder anvertraut. Als es mehr als 100 waren, kaufte das Ehepaar 1904 weitere zwei Häuser für Knaben und Mädchen dazu, ferner 1908 ein Zinshaus, in dem ein genossenschaftliches Warenhaus, eine Raiffeisenkasse, ein Heim für auswärtige Schüler und ein Kandidatenkonvikt für junge Theologen untergebracht wurden. 1913 schenkte ein von diesem Liebeswerk tief beeindruckter Unternehmer den “Zöcklerschen Anstalten” ein weiteres Haus, das als Diakonissenhaus Verwendung fand. Nun konnten junge Frauen zu Mitarbeiterinnen in den Wohltätigkeitsanstalten ausgebildet werden, die nach und nach Abteilungen für Säuglinge, Kleinkinder, Heime für Jugendliche, alte Männer und Frauen und für Gebrechliche umfaßten– alles ohne staatliche Unterstützung und folglich Tag für Tag belastet mit der Sorge um das tägliche Brot. Auch nichtdeutsche Pfleglinge wurden aus christlich-ökomenischer Gesinnung aufgenommen.
Einen schweren Rückschlag erfuhr dieses Werk der Humanität im Ersten Weltkrieg. Schon wenige Tage nach seinem Ausbruch eroberte die russische Armee die Landeshauptstadt Lemberg, danach Stanislau und stieß bis zum Wintereinbruch bis tief in die Karpaten hinein vor. Zöcklers Lebenswerk war aufs Äußerste bedroht. Es blieb ihm kein anderer Ausweg, als 200 Kinder inmitten zurückflutender österreichischer Militäreinheiten und Trecks flüchtender Zivilisten zu Fuß auf staubigen Landstraßen die Karpaten entlang nach Westen in Sicherheit zu bringen. Vom österreichischen Gallneukirchen aus, wo die Kinder Unterkunft fanden, organisierte Zöckler einen Hilfsausschuß zur Unterstützung der geflüchteten Galiziendeutschen, ferner eine Sammlung von Geld- und Sachspenden, mit denen bis 1917 Hilfsgüter im Umfang von 47 Eisenbahnwaggons zur Linderung der Flüchlingsnot und später zum Wiederaufbau kriegszerstörter bäuerlicher Anwesen zur Verfügung gestellt werden konnten. Seine Diakonissen leisteten auch Dienst in österreichischen Kriegslazaretten. Andere, zu Schulschwestern ausgebildete Frauen, vertraten in den deutsch-evangelischen Siedlungen die zum Kriegsdienst eingezogenen Lehrer und übten sogar pfarramtliche Funktionen bei Gottesdiensten aus. Nach Rückkehr gab es in dem vom Krieg verwüsteten Land überall unversorgte Kleinkinder, die Zöckler in einem Kriegskinderheim aufnahm.
Schwer gestaltete sich die Existenz dieser deutsch-evangelischen Wohlfahrtseinrichtung in den folgenden polnischen Nachkriegsjahren. Ihr Ende fand sie nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges mit der Umsiedlung der Galiziendeutschen und anderer Minderheitengruppen aus dem östlichen Raum, wobei 390000 Deutsche vom Baltikum bis Bessarabien “ins Reich umgesetzt” wurden. Nach Ende des Krieges gab es lediglich ein letztes Domizil für Zöcklers Diakonissen im “Diakonissenhaus Ariel, Zöcklersche Anstalten” im Evangelischen Krankenhaus in Göttingen-Weende.
Zöckler war zum Patriarchen der Galiziendeutschen aufgestiegen. Er hatte ein stetig steigendes Maß an Aufgaben und Verantwortung auf sich genommen und war seit 1923 Oberhaupt der gesamten evangelischen Kirche Südpolens. Mit Strenge achtete er darauf, daß seine Kirche in der fremdvölkischen Welt ihren deutschen Charakter beibehielt. Denn nur an dieser Kirche hatten die Evangelischen unter der im Lande verstreuten deutschgalizischen Minderheit eine Stütze. An Zöcklers starker Stellung prallten alle Versuche des Warschauer Generalsuperintendenten Bursche ab, Polnisch als Kirchensprache einzuführen und das kirchliche Leben zu polonisieren. Nur in Krakau gelang den Polen handstreichartig ein Einbruch. Zöcklers Ausstrahlungskraft veranlaßte Mitte der 20er Jahre sogar Tausende von Ukrainern, eine ukrainisch-evangelische Kirche unter seinem Patronat zu gründen.
Schon am Ausgang des 19. Jahrhunderts erschwerten wirtschaftlicher Niedergang und von den katholischen Polen ausgehende Pressionen gegen alles Deutsche und Evangelische zunehmend die Existenz der evangelischen Deutsch-Galizier. Nach und nach wichen 27000 Deutsche diesen Schwierigkeiten durch die Auswanderung nach Amerika aus. Die preußische Ansiedlungskommission für Posen und Westpreußen verschärfte die Lage zusätzlich, als sie ihrerseits begann, deutsche Bauern und Handwerker zur Übersiedlung in das Posener Gebiet zu gewinnen und abermals Tausende diesem Ruffolgten. Dadurch verschwanden deutsche Gemeinden von der galizischen Landkarte, andere mußten Schulen und Kirchen schließen, und die verbleibenden Deutschen gerieten in ihren Dörfern durch den Zuzug von Polen und Ukrainern in die Minderheit.
Es war Zöckler, der die existentielle Gefahr dieses Aderlasses erkannte und scharf gegen die Auswanderung Stellung bezog. Zur Abwehr der preußischen Werbungen gründete er ein “Aktionskomitee zur Wahrung der Interessen der galizischen evangelischen Landeskirche” und schuf das Evangelische Gemeindeblatt, mit dessen Hilfe er seine Glaubensgenossen erreichen und beeinflußen konnte. Er reichte seinen bedrängten deutsch-katholischen Brüdern die Hand, und beide Volksteile gründeten 1907 den überkonfessionellen “Bund der christlichen Deutschen in Galizien”, dazu als Sprachrohr das Deutsche Volksblatt für Galizien, den “Verein deutscher Lehrer”, ferner Raiffeisenkassen zur Linderung der wirtschaftlichen Not und anderes. Um die Belange der Deutschen den Behörden gegenüber vertreten zu können, wurde der “Deutsche Volksrat für Galizien” geschaffen und Zöckler an seine Spitze berufen. So sah er sichein Jahrzehnt nach der Einrichtung seines ersten Kinderheimes auf das Podest des Repräsentanten des evangelischen und katholischen deutschen Volksteils dieses riesigen Landes gehoben, das sich damals von der oberschlesischen Grenze bis in die Bukowina hinein erstreckte. Von dem Recht, die Anliegen der deutschen Minderheit vertreten zu dürfen, machten er gegenüber der Wiener Zentralregierung, der polnischen Landesregierung in Lemberg und der Ende des Ersten Weltkrieges kurzzeitig herrschenden ukrainischen Regierung regen Gebrauch. So erreichte er finanzielle Zuschüsse für die deutschen Schulen und manche andere Hilfen und Zugeständnisse für die deutsche Bevölkerung, unter anderem auch die Genehmigung, an seiner Stanislauer Wirkungsstätte ein privates deutsch-evangelisches Gymnasium gründen zu dürfen.
Der “Bund der christlichen Deutschen”, der bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges bereits über 108 Ortsgruppen verfügte, wurde 1923 von den polnischen Behörden verboten– ein Menetekel für die Schwierigkeiten, denen sich die deutsche Minderheit in dem neu entstandenen polnischen Staat noch gegenübersehen sollte. Auch der politische Umschwung in Deutschland und die von dort her gelenkte nationalsozialistische Bewegung, die vor allem die Jugend mitriß, erschwerte die Lage der Deutschen in Galizien und heizte den Haß der Polen gegen sie an. Zunehmend sah Zöckler die Existenz seiner Stanislauer Anstalten, der evangelischen Kirche und der Privatschulen bedroht.
Schließlich wurden Zöckler und sein Sohn bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zusammen mit anderen Deutschen von der polnischen Polizei verhaftet und erst beim Eintreffen der sowjetischen Armee freigelassen, die damals das ostpolnische Gebiet besetzte. Bald danach wurde die deutsche Minderheit “heim ins Reich” umgesiedelt. Indessen war im NS-Staat Zöcklers Mitwirkung bei der Ansiedlung und kirchlichen Betreuung der Galiziendeutschen nicht gefragt. Die von ihm erhoffte Wiedererrichtung seiner Wohlfahrtsanstalten wurde untersagt. Auch seine 1941 gegen die kirchlichen Restriktionen verfaßte “Denkschrift zur Lage der Evangelischen Kirche und insbesondere der Umsiedlergemeinden im Warthegau” blieb ohne Resonanz. Erst nach dem Zusammenbruch des Reiches und dem Fluchtgeschehen wurde er erneut zum Hoffnungsträger seiner nun im Ost- und Westteil Deutschlands und in Österreich versprengt lebenden ehemaligen galiziendeutschen Landsleute. Von Stade aus richtete er Rundbriefe an sie, beriet und tröstete sie, übernahm vom Rat der Evangelischen Kirche in Stuttgart den Auftrag ihrer kirchlichen und fürsorgerischen Betreuung, gab ihnen eine neue Wegweisung in dieser schweren Zeit und gründete einen “Hilfsausschuß der galiziendeutschen Umsiedler”, aus dem 1947 das noch heute segensreich arbeitende Hilfskomitee der Galiziendeutschen im Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche entstand.
Zöckler war Judenmissionar, Schöpfer der Stanislauer Wohlfahrtsanstalten, politischer Kopf und Leitfigur einer deutschen– auch katholischen– Minderheit im östlichen Raum– aber vor allem war und blieb er evangelischer Christ, tief verwurzelt in seinem Glauben an Gott. Diesem bezeugte er seine Liebe und Hingabe in unzähligen Predigten, Schriften und Gedichten. Bereits 1914 dichtete er:
O wag es, ganz dem Herrn zu traun.
Es hat noch niemand es bereut.
Es ist so schön, dem Herrn vertraun,
o wag es bald, o wag es heut!
Lit.: August Wiegand: Von Theodor Zöcklers Leben und Dienst. Verlag des Centralvorstandes der Evang. Gustav-Adolf-Stiftung 1926. – Hans Strohal: D. Theodor Zöckler. Zum 100. Geburtstag von Vater Zöckler. Stuttgart, Selbstverlag des Hilfskomitees der Galiziendeutschen, 1967. – Hans Koch: Kyr Theodor und andere Geschichten. Zum 100. Geburtstag von D. Theodor Zöckler. Wien, Verlag Evang. Preßverband in Österreich, 1967. – Lillie Zöckler: Gott hört Gebet. Das Leben des Theodor Zöcklers. Stuttgart, Hilfskomitee der Galiziendeutschen, 1983. – Wilfried Lempp: Theodor Zöckler und die Zeugenaufgabe der evangelischen Diaspora. Gotteszeugen– Heftreihe Nr. 63. Verlag Junge Gemeinde Stuttgart. – Alfred Kleindienst und Oskar Wagner:Der Protestantismus in der Republik Polen 1918/19 bis 1939 im Spannungsfeld von Nationalitätenpolitik und Staatskirchenrecht… J.G. Herder-Institut Marburg 1985. – Oskar Wagner: Der Krakauer Streit, Gestalten und Wege der Kirche im Osten. Wien 1958. – Oskar Wagner: Zur Geschichte des Protestantismus in Ostmitteleuropa. Berlin, Westkreuz-Verlag 1986. – Oskar Wagner: Die Evang. Kirche in Galizien und der ukrainische Protestantismus. Heimat Galizien. Gedenkbuch hrsg. vom Hilfskomitee der Galiziendeutschen 1965. – Oskar Wagner: Die evangelische Bewegung unter den Ukrainern. Zur Geschichte des Protestantismus in Ostmitteleuropa. Berlin, Westkreuz-Verlag 1986.
Erich Müller