Trauerarbeit und Erinnerungskultur der Vertriebenen

Von Christian-Erdmann Schott
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Mit der Eingliederung der Verriebenen waren die inneren Verletzungen, die sie als Ausgestoßene und Entrechtete in der alten und als unerwünschte Eindringlinge in der neuen Heimat davongetragen hatten, nicht vernarbt und nicht verheilt. Daran konnten auch die Jahre und Jahrzehnte, die seitdem ins Land gegangen sind, nichts ändern. Daran haben auch Ärzte und Therapeuten, soweit sie überhaupt verfügbar und befähigt waren, sich dieser Leiden anzunehmen, nichts ändern können. Die Verletzungen blieben, ja durch das in der Bevölkerung rapide wachsende Desinteresse an den Schicksalen der Vertriebenen fühlten diese sich erneut verletzt. Viele von ihnen entwickelten sich zu verschämten Kranken, das heißt, zu Menschen, die ihre Leiden und ihre Verletzungen vor der Öffentlichkeit zu verbergen und zu verstecken suchen. Den meisten war klar, dass damit eigentlich eine Fehlentwicklung eingeleitet wurde. Sie waren und sind auch darauf ansprechbar und geben zu, dass sich ihre Probleme auf diese Weise nur verschieben, aber nicht wirklich lösen lassen.
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Zu den großen Leistungen der Vertriebenen gehört, dass sie schließlich selbst den Weg für eine persönliche Therapie gefunden haben. Er besteht darin, dass sie noch einmal die Begegnung mit ihrer Heimat suchen. Sie wollen noch einmal dorthin zurückkehren, wo sie hergekommen sind, – nun aber nicht, um sich dort wieder niederzulassen oder etwas (zurück) haben zu wollen, sondern um das, was sie noch einmal gesehen und gefühlt haben, jetzt loszulassen und frei zu geben. In diesem Sinne handelt es sich um eine Rückkehr mit den beiden erklärten Zielen Abschied und Erinnerung. Wobei hier, wie auch sonst im Leben, das Abschiednehmen auch mit Trauer verbunden ist und darum auch als Trauerarbeit wahrgenommen werden kann, – und das sogar dann, wenn die Betroffenen das selbst gar nicht so sehen.
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Im Folgenden soll es um diese beiden stillen Bewegungen gehen. Beide haben unter den Vertriebenen inzwischen eine große Breiten- und Tiefenwirkung erreicht. Das heißt, Tausende, über die Jahre hinweg sogar Zehn-, ja Hunderttausende Ost- und Westpreußen, Pommern, Posener, Schlesier und andere sind davon erfasst. Sie fahren in die alte Heimat, zurück, aber sie kommen wieder, hierher, wo sie jetzt leben. Sie tun das, weil es ihnen hilft. Die Öffentlichkeit in Deutschland und in Polen hat diese Entwicklung in ihrer Bedeutung kaum erfasst, jedenfalls nicht registriert. Dabei sollte es nicht bleiben.

 

I. Abschied in Trauer und Würde

Der Punkt, an dem mir diese Zusammenhänge klar geworden sind, war die diakonische Hilfe, die von evangelischen Vertriebenen für Notleidende Menschen in den früheren Heimatgebieten aufgebaut worden ist, und zwar von den Johannitern. Hier zunächst einige Zahlen aus dem Bereich der so genannten Ostgenossenschaften des Johanniterordens:

Die Schlesische Genossenschaft hat in dem begrenzten Zeitraum von 1980 bis 1998 in 924 Transporten 3000 Tonnen Hilfsgüter im Wert von 78,9 Millionen DM nach Schlesien verbracht. [i]

Die Preußische Genossenschaft hat zwischen 1986 und 1998 durch Hilfsgütertransporte Ostpreußen mit 25,6 Millionen DM unterstützt – nicht gerechnet die Paketaktionen und der außerordentliche Einsatz bei der Gründung von Sozialstationen. [ii]

Die Pommersche Genossenschaft hat zwischen 1983 und 1991 Hinterpommern mit Gütertransporten im Wert vom 6.913.930 DM unterstützt, nicht gerechnet die Sozialstationen und die direkten Unterstützungen für evangelische Kirchengemeinden. [iii]

In der Geschichte der Posen-Westpreußischen Genossenschaft heißt es zu diesem Thema.

„Mitglieder der Genossenschaft unternahmen in Pkws oder Lkws Fahrten mit Hilfsgütern nach Polen. Es zeigte sich dabei, wie wichtig gerade auch der persönliche Kontakt zu den Betreuten durch Gespräche, gemeinsame Kirchgänge und Teilnahme an Veranstaltungen am Ort war. Dieser persönliche Einsatz gehörte zu den festen Grundregeln der Hilfen, die durch die Genossenschaft gewährt wurden. Auf jedem der jährlichen Rittertage wurden die Mitglieder der Genossenschaft immer wieder zu sol­chen Fahrten mit persönlichem Engagement ermuntert, das die Hilfsaktionen erst zur vollen Erfüllung der Ordensregel zum Dienst am Nächsten werden ließ. Der mate­ri­elle Umfang der Hilfen […] lässt sich nicht beziffern“.[iv]

Erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang auch die Osthilfe der Johanniter-Unfall-Hilfe e. V. (JUH), über deren finanzielle Auswirkungen mir aber verlässliche Zahlen nicht vorgelegen haben. [v]

Bemerkenswert an dieser Aufstellung sind nicht allein die hohen materiellen Werte, die hier zum Einsatz gebracht worden sind. Bemerkenswert ist mindestens ebenso die Mannschaft, die sie erbringt. Unter den Johanniter-Rittern, die sich in dieser auffallenden Weise für die alte Heimat engagieren, sind viele, die zum Teil große Besitzungen besessen hatten oder geerbt hätten; Besitzungen, die mitunter über Jahrhunderte in direkter Folge in der Familie gewesen waren. Bemerkenswert ist schließlich der relativ kurze zeitliche Abstand zwischen Flucht und Vertreibung auf der einen und dem Anlaufen der diakonischen Hilfen auf der anderen Seite. Sehr abgekürzt könnte man sagen: 1945 verlassen die Johanniter gezwungener Maßen in großen Trecks ihre Heimat, dreißig Jahre später kommen sie als diakonische Helfer wieder. Die Frage liegt nahe: Was hat hier stattgefunden? Was ist in diesen Menschen abgelaufen? Natürlich wissen wir, dass es gar nicht so wenige waren, die es Zeitlebens abgelehnt haben, noch einmal einen Fuß in die alte Heimat zu setzen und den Zorn über das Unrecht, das sie erlitten hatten, nie überwunden haben. Aber hier geht es ja nicht um die Zornigen und um die Verbitterten, sondern um die, die wieder hingefahren sind und den verbliebenen Deutschen, dann auch den Not leidenden Polen geholfen haben.

Wenn man versucht, auf diese und ähnliche Fragen eine Antwort zu finden, wird man von einer sicheren Erkenntnis ausgehen können. Der Beobachtung nämlich, dass für die Vertriebenen dieser Einschnitt in ihrer Biographie, der mit dem Verlassen der Heimat beginnt, eine traumatische Zäsur bedeutet. Es war eben kein bloßer Wechsel eines Wohnortes, kein bloßer Umzug von einem Ort zu einem anderen, sondern eine gewaltsame Entwurzelung mit all den Schmerzen und Ratlosigkeiten, die damit verbunden waren. In den Familien, in den Freundeskreisen, auch in den Ostgenossenschaften des Johanniterordens wurde über diese Traumata gesprochen. Immer wieder ging der Blick zurück. Es war überdeutlich: Hier lag für die allermeisten ein Stück unbewältigte Vergangenheit. Die alte Heimat ließ sie nicht los. Das Wissen um ihre Herkunft lebte wie eine offene Wunde in ihnen.

Und nun haben sie etwas begonnen, was wir in dieser Art eigentlich nur aus der seelsorgerlichen Begleitung von Trauernden kannten. So wie Trauernde oft viele Monate hindurch zu den Gräbern ihrer Verstorbenen wandern, sich dort einige Zeit aufhalten, um dann wieder nach Hause zu gehen – bis sie eines Tages die Zustimmung zu diesem Verlust, den Schnitt des Abschiedes vollziehen und sich dem Leben mit neuer gesammelter Kraft zuwenden können. So fuhren nun die Leute aus dem ehemals deutschen Osten „in die alte Heimat“. Sie sahen den Verfall der Landschaft, ihres Besitzes, die Not vieler Bewohner und halfen, wo es ihnen möglich war. Aber mit diesen Fahrten begann das Loslassen, der Abschied. Sie konnten das Ende des deutschen Ostens nunmehr auch für sich persönlich oder als Gruppe annehmen und akzeptieren, ohne in Hass oder Verbitterung oder beleidigtes Gekränktsein abzugleiten.

Die Johanniter sind nur eine kleine, aber durchaus exemplarische Gruppe. Bei der großen Mehrzahl der Vertriebenen zeigt sich diese Trauerarbeit in einer Bewegung, die häufig unter dem Stichwort „Heimwehtourismus“ abgehandelt wird. Dieser Begriff ist nicht ganz unbrauchbar, weil er zeigt, dass die Tourismusbranche immerhin eine gewisse Sensibilität erkennen lässt, indem sie sich bemüht, das Besondere dieser Art von Reisenden – etwa im Unterschied zu Geschäfts-, Vergnügungs- oder Kulturreisen – zu erfassen und dann auch entsprechend zu bedienen. Und trotzdem, was hinter diesem Heimweh steckt, bleibt unbekannt, unbenannt. Diese so genannten Heimwehtouristen wissen es zum Teil selbst nicht. Und doch fahren sie in die alte Heimat – allein oder mit ihrem Ehepartner, mit Kindern und Enkeln, als ehemalige Schulklassen oder Konfirmandengruppen, als Chöre, Heimatkreise oder Kirchengemeinden, als Freundeskreise oder Jahrgangsgemeinschaften.

Als ich begann, nach dem Sinn dieser breiten Bewegung unter den Vertriebenen zu fragen, habe ich mich an eine alte Frau gewandt, die gerade aus Schlesien wieder gekommen war und habe sie gefragt „Was machen Sie da? Was läuft da eigentlich ab?“ Da hat sie mir eine sehr schlichte, aber überzeugende Antwort gegeben. Sie sagte: „Jedes Mal, wenn ich von Schlesien wiederkomme, fühle ich mich ein bisschen wohler“. Ich denke, das wird auch die Witwe sagen, die wieder einmal auf dem Friedhof gewesen ist und am Grab ihres Mannes gestanden hat.

Und doch – in der Trauerarbeit der Vertriebenen gibt es zwei Elemente, die über unseren herkömmlichen Umgang mit Ende und Abschied hinausgehen. Das eine ist die trotz Abschied und im Abschied bewusst gesuchte Rückanbindung an die eigene Geschichte. Sehr eindrucksvoll beschreibt das Katharina Elliger in ihrem Buch „Und tief in der Seele das Ferne. Die Geschichte einer Vertreibung aus Schlesien“. Frau Elliger, 1929 in Bauerwitz/Oberschlesien als Tochter eines Lehrers geboren, hat sehr schwere Jahre 1945 und 1946 unter Russen und Polen in Bauerwitz durchleben müssen. Nach der Vertreibung konnte sie studieren, wurde Gymnasiallehrerin, unter anderem für katholische Religion, und lebt heute verheiratet und als Mutter von zwei erwachsenen Kindern in Tübingen. Sie hatte es lange abgelehnt, in ihre Heimat zu reisen. 1987 ist sie das erste, 1999 das zweite Mal nach Schlesien gefahren. Bei dieser zweiten Reise kommt sie auch nach Bauerwitz. Es ist eine Begegnung, die sie zugleich fürchtet und herbeisehnt. Und nun ist sie, zusammen mit ihrem Mann, am Ort ihrer Kindheit. Sie schreibt:

„Es war wirklich so, wie ich es in Erinnerung hatte – nichts hatte sich verschoben, nichts hatte ich ergänzt oder mir ausgedacht, im Gegenteil, mir sprangen immer neue Details ins Auge, die meine inneren Bilder bestätigten. Jetzt wusste ich, dass es gut war, hergekommen zu sein.

Plötzlich löte sich der Bann: Das jahrzehntelange Gefühl von Unwiederbringlichkeit, Vergeblichkeit und Trauer wandelte sich in Dankbarkeit. Hier lagen meine Wurzeln: ….hier, in der Geborgenheit dieser sanften kleinen Welt. Ich war stolz auf meine Heimat. Mit wem hätte ich tauschen wollen?“[vi]

Um die gleiche Thematik und doch auch wieder ganz anders geht es im Porträt einer alten Dame in dem neuen Buch von Hilke Lorenz „Heimat aus dem Koffer“.[vii] Unter der Überschrift „Die halbe Wahrheit ist noch keine Lüge“,[viii] erzählt Hilke Lorenz von Frau Charlotte Iden, die auf der Flucht aus Johannesmühle/Neumark und dann als Flüchtlingsmädchen so unglaublich viel Bedrückendes erlebt hat, dass sie den Umzug Ihrer Familie von Bayern nach Hessen nutzt, um ihre Identität als Flüchtling abzulegen und sich der neuen Umgebung nur noch als Zugang aus Bayern zu präsentieren – mit der Folge, dass sie ihre wahre Identität von nun an über Jahrzehnte unterdrückt, auch in ihrer Familie nicht über ihre Herkunft spricht und erst nach der Wiedervereinigung im Jahr 1990 dem Drängen ihres in Berlin lebenden Sohnes nachgibt und mit ihm und gewissermaßen unter seinem Schutz nach Johannesmühle fährt.

Dort geschieht nun das Gegenteil von dem, was Frau Iden immer befürchtet hatte. Sie hatte Angst, dass diese Begegnung mit dem Ort ihrer Kindheit, mit ihrem Elternhaus sie niederziehen und schwer belasten würde, und sie erlebt nun gerade diese Wiederbegegnung als befreiende, erlösende Erfahrung. Was sie jahrzehntelang nicht tun konnte, plötzlich kann sie es. Sie kann wieder über ihr Leben reden und sie will darüber reden:

„Gerne würde sie den Ort auch ihren beiden Enkelkindern zeigen. „Zurück zu den Wurzeln“ nennt sie das. Die beiden sollen ihre neugierigen Fragen stellen. Und die Großmutter ist begierig, sie ihnen zu beantworten. Vielleicht schon im nächsten Sommer. Das ist eine fundamentale Veränderung – als sei Charlotte Iden noch einmal eine neue Person geworden, als hätte sie sich noch einmal gehäutet“. [ix]

Diese Wiederanknüpfung an einen fast abgerissenen Faden, der Zugang zu den eigenen Wurzeln wird von den Betroffenen als ein großes Glück empfunden. Dabei ist aber immer klar und es steht auch gar nicht in der Diskussion, dass diese persönliche Rückbesinnung auf die eigene Geschichte letztlich nur zu verstehen ist als Teil der Trauerarbeit, die die Flüchtlinge und Vertriebenen im Blick auf die alte Heimat zu leisten haben. Niemand hat die Absicht, diesen Zusammenhang aufzugeben oder zu leugnen.

Im Gegenteil, die Unumkehrbarkeit der historisch-politischen Entscheidungen im Blick auf Schlesien verlangt von den Vertriebenen die Einwilligung und Anerkennung der Gegebenheiten, ob sie nun wollen oder nicht. Und das schmerzt viele immer noch. Katharina Elliger berichtet, dass ihr die Nonne Schwester Alexandra vom Kloster in Bad Kudowa erzählt habe, wie sie die vertriebenen Schlesier in der alten Heimat erlebe:

„Sie laufen hier herum, können keine Ruhe finden. Und dann kommen sie hierher und weinen, weinen, weinen“.[x]

In vielen Fällen wissen sie nicht, was sie anderes tun könnten. Es sind oft übermenschliche Lasten und Bilder, die die Seele niederdrücken. In diesem Sinne schreibt Hilke Lorenz auch über Charlotte Iden: Sie trug „ihr Leben lang den Unfrieden der Erinnerungsbilder mit sich herum“.[xi]

Sie schleppen so viel mit sich herum, diese Kinder von damals, für die es nie eine fachgerechte Psychotherapie gegeben hat; die vielmehr sehen mussten, wie sie die Rechtlosigkeit in der alten und die Ablehnung in der neuen Heimat so weit verdrängten, dass sie einen Beruf und eine Karriere hinlegen und durchkommen konnten. Wenn man sich in sie hineinhört, versteht man, was sie mit diesen Reisen zu den Wurzeln vor allem wollen: Sie kommen, um endgültig Abschied zu nehmen von Schlesien mit dem Ziel, einen Abschluss, Frieden zu machen mit sich selbst, mit ihrer eigenen Geschichte, besonders mit diesem schweren Abschnitt. Das ist Trauerarbeit, aber es ist auch Hoffnung dabei. Und das ist das andere, was nach vorn, in die Zukunft weist.

Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen fragt es sich, ob die Schlesier wirklich Völkerverständigung wollen, wenn sie nach Schlesien fahren. Zunächst einmal wollen sie nach all dem Belastenden den Frieden mit sich selbst und für sich selbst. Dass ihre Gesprächspartner sie freundlich annehmen und signalisieren, dass sie von diesen deutschen Schlesiern keine Gefahr fürchten, ist ein wünschenswerter Nebeneffekt. Es ist erfreulich, wenn das auch dabei herauskommt. Aber die Hauptabsicht ist das nicht – oder jedenfalls nicht gleich und sofort.

In dem Buch „Brücken nach Polen. Berichte aus der Gemeinschaft evangelischer Schlesier“ ist von dieser stillen Bewegung einiges festgehalten.[xii] Es zeigte sich, was diese Menschen wollen, als sie nach Schlesien gefahren sind. Sie wollen es nicht zurück. Sie sind keine Revanchisten oder Revisionisten. Es sind Trauernde, die das Land ihrer Väter segnend in die Hände der jetzt dort lebenden Polen legen – und das auch gesagt haben. So schreibt Mechthild Thümmel, die heute in Greifswald lebt und viele Jahre hindurch regelmäßig nach Buchwald im Riesengebirge gefahren ist, wo sie 1930 Im Pfarrhaus geboren wurde, am Ende ihres Berichtes:

„Wir bleiben Schlesien immer verbunden und wünschen den jetzt dort wohnenden polnischen Menschen, dass sie in Frieden und Wohlbefinden in ihrer heutigen Heimat leben und gedeihen mögen“. [xiii]

Und Eberhard Günter Schulz, Präsident der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat, endete seinen Bericht:

„Die…. Menschlichkeit zwischen verschiedenen Völkern darf nicht zugrunde gehen, bloß weil auch wir die Folgen der Wahnideen von Herrschern über uns auszubaden haben“. [xiv]

 

II. Sicherung der Erinnerung

Aber so ganz spurlos wollen die alten Schlesier dann doch nicht von der Bildfläche verschwinden. Dass sie, ihre Familien, ihre Vorfahren in Schlesien gelebt haben, möchten sie an geeigneter Stelle festgehalten sehen. So kommt es zu dem Bemühen um Herstellung und Sicherung von Spuren der Erinnerung in und an den früheren Wohnorten der Vertriebenen. Es ist nachvollziehbar, dass diese Bewegung im Wesentlichen lokal oder regional ausgerichtet ist und auf kleine überschaubare Einheiten wie Dörfer, Kirchengemeinden, Kirchspiele, Kleinstädte, Stadtteile, Friedhöfe, Brücken, Schulen, Rathäuser, Bahnhöfe bezogen und beschränkt bleibt. Die erinnerungspolitischen Absichten der Stifter treten damit letztlich auch gar nicht in Konkurrenz zu den großen Einrichtungen des Staates, also zum Beispiel gegenüber dem „Zentrum gegen Vertreibungen“ in Berlin, dem Schlesischen Museum zu Görlitz oder dem Oberschlesischen Museum in Ratingen-Hösel. Die Stifter und Spender, die hier tätig sind, wollen gezielt eine erinnerungspolitische Maßnahme ergreifen für diesen Ort oder für diesen lokalen Bezug. Nicht selten fühlen sie sich durch die Erinnerung an Vorfahren, Verwandte oder gesamtfamiliäre Traditionen dazu verpflichtet.

Dass sie sich dabei durch die schlechten Erfahrungen, die die Deutschen mit ihren Erinnerungsstätten (Friedhöfe, Denkmäler) nach 1945 in Schlesien vielfach machen mussten, nur begrenzt leiten lassen, ist zugleich sehr bemerkenswert und erklärungsbedürftig. Aus zahlreichen Berichten wissen wir, dass die polnische Bevölkerung, so weit es ihr möglich war, deutsche Spuren, in großem Stil vernichtet und getilgt hat, eben weil man nicht an die früheren Bewohner erinnert werden wollte.

Diese Erlebnisse sind unter den deutschen Schlesiern nicht vergessen. Ganz bewusst möchte man sie aber nicht zum Maßstab des erinnerungspolitischen Handelns machen. Man sucht nach einem neuen Anfang mit den polnischen Schlesiern und hofft, dass sie bereit sind, die deutsche Geschichte, die vor ihnen gewesen ist, in ihr Selbst- und Geschichtsbild aufzunehmen. Insofern ist es etwas durchaus Neues, das sich hier abspielt: Die Deutschen akzeptieren ihre Vertreibung und sie bitten zugleich um einen Platz in der Erinnerung in der jeweiligen lokalen oder regionalen Ausprägung. Die Verhandlungen mit den polnischen Gemeindepfarrern, Bürgermeistern, Lehrern im Vorfeld einer erinnerungspolitischen Maßnahme nehmen denn auch in aller Regel einen großen Raum ein und müssen mit großer Geduld und Sorgfalt geführt werden. Eben weil nur die Zustimmung der polnischen Behörden auch die Garantie für den späteren Denkmalschutz bedeutet.

Dieser Vorgang zeigt aber auch, dass das Bedürfnis nach Sicherung der Erinnerung an die deutsche Vergangenheit in Schlesien kunstgeschichtlich gesehen keine wirklich neuen Formen hervorgebracht hat. Es wäre ja immerhin denkbar, dass man versucht hätte, Formen zu entwickeln, die sich ohne die Beteiligung der Polen realisieren ließen. So wie sich die Dinge heute darstellen, hat man solche Formen nicht gefunden. Es bleibt bei den alten Formen – Gedenktafeln, Erinnerungskreuze, Hinweise, Mahnmahle, restaurierte Geschichtszeugen -, die aber sicher und geschützt nur in Kooperation mit den Polen verwirklicht werden können. Aber genau das wollen die vertriebenen Schlesier. Hier liegt das Neue dieser Bewegung. Es liegt darin, dass die Vertriebenen um einen erkennbaren Platz als Gäste im Geschichtsbild bitten und darauf vertrauen, dass dieser Platz von den Verantwortlichen auch nach ihrer Lebenszeit geachtet und gepflegt wird. In diesem Vertrauen liegt das Besondere dieser Bewegung. Es beruht auf der Hoffnung, dass Schlesien und die Schlesier, Polen und Deutsche, Katholiken und Evangelische sich als übernational-europäische Erbengemeinschaft verstehen und annehmen wollen.

Dabei sollte nicht übersehen werden, dass ein verengter Blick auf die großen staatlichen Einrichtungen der öffentlichen Erinnerungskultur in Deutschland wie in Polen, in der Regel aufbereitet und gefördert auch durch die öffentlichen Medien, dazu führt, dass die lokal-regionale Erinnerungsarbeit vielfach übersehen oder gar nicht erst wahrgenommen wird. Tatsache ist aber, dass wir schon seit einigen Jahren gerade auch in Schlesien eine so lebhafte, einsatzfreudige und auch erfolgreiche Erinnerungsarbeit wie sonst nirgendwo im gesamten übrigen Deutschland haben. Das Bedürfnis, Zeugnisse der Erinnerung aufzustellen, ist ungebrochen. Es erfasst immer wieder neue Spendergruppen. In der Regel kommt das Geld für einen solchen Zweck auch wirklich zusammen, ja, ein solcher Zweck hat eine zusammenführende, verbindende Bedeutung. Man will noch einmal etwas für die alte Heimat tun. Niemand will sich ausschließen, alle wollen dabei sein. Nicht selten ist das Aufstellen einer Gedenktafel das letzte große Ziel, das einen Interessenverband noch zusammenhält, auch wenn die einzelnen Mitglieder eigentlich schon nicht mehr viel unternehmen können. Wie viele Zeichen der Erinnerung an die deutschen Schlesier in den letzten Jahrzehnten im Land selbst aufgestellt worden sind, habe ich nicht feststellen können. Festzuhalten bleibt aber, dass Schlesien erinnerungspolitisch gesehen ein boomendes Land ist, auch wenn es in Deutschland – fast – niemand bemerkt.

Aus den offiziellen Verlautbarungen und Berichten, die aus derartigen Anlässen herausgegeben werden, habe ich für diesen Vortrag zwei ausgewählt. Im einen Fall handelt es sich um die Predigt, die Pastor Martin Gregor am 1. September 2001 in Döberle Kreis Oels, heute Dobra, bei der Einweihung der deutsch-polnischen Gedenktafel auf Bitten des katholischen Gemeindepfarrers gehalten und dann auch in einer polnischen Kirchenzeitung veröffentlicht hat. In dieser Predigt sagte er unter anderem:

„Die Gedenktafel für die Toten aus der Zeit vor 1945/46 ist am Fuß eines Kreuzes angebracht. Eines Kreuzes, unter dem ein Deutscher begraben liegt. Das Kreuz sieht man schon von weitem, für die Gedenktafel muss man sich bücken, wenn man die deutsche und die polnische Inschrift lesen will. Über all unseren Ansätzen zur Versöhnung steht das Kreuz und erinnert uns immer neu an den Frieden, den Jesus Christus mit seinem Blut geschlossen und besiegelt hat“. [xv]

Und er schließt seine Predigt: „Ich bin sehr dankbar, dass ich hier in dieser Kirche, die von 1934 bis 45 meine Heimatkirche war, zu Ihnen sprechen konnte mit einer Predigt über ein Wort aus der Bibel. Gott gebe, dass mit dem heutigen Tag ein neuer, guter Schritt auf dem Weg der Versöhnung und des Friedens zwischen polnischen und deutschen Menschen getan wird. Amen“. [xvi]

https://images.photo.bikestats.eu/zdjecie,600,74563,20091011,park-grabiszynski.jpgIm anderen Fall handelt es sich um einen Bericht von Maria Luft über die Einweihung des größten Denkmals der Stadt Breslau. Hier handelt es sich um eine 70 Meter lange Mauer im Grabiszyński-Park, die an 120 untergegangene Friedhöfe aller Breslauer Konfessionen erinnern soll. Die Einweihung am 30. Oktober 2008 nahmen vor Erzbischof Maria Golẹbiewski und Bischof Wlodzimierz Juszczak, der orthodoxe Bischof Jeremiasz, der lutherische Bischof Ryszard Bogusz und der Breslauer Rabbiner Itzchak Rapoport. Etwa 70 Grabsteine und Erde von allen Friedhöfen sind in diese „Friedhofsmauer ohne Friedhof“ eingelassen. Auf Deutsch heißt es: „Zum Andenken an die früheren Bewohner unserer Stadt, die auf Friedhöfen beigesetzt wurden, die heute nicht mehr bestehen“. Und der Breslauer Stadtpräsident, Rafal Dutkiewicz, erklärte: „Dieses Denkmal soll ein Ort für Deutsche und Polen sein, ein Ort, der ehemalige und heutige Breslauer verbindet“.[xvii]

 

III. Zur Geschichte vom Abschiednehmen der Vertriebenen

Lassen Sie mich nach diesen Durchgängen die Geschichte von Abschied und Trauer der Vertriebenen noch ein bisschen weiter erzählen und dabei daran erinnern, dass den Vertriebenen schon vor über vierzig Jahren sehr ernsthaft nahe gelegt worden ist, ihre Vergangenheit im Osten nicht weiter zu thematisieren und am besten auf sich beruhen zu lassen. Das war damals nach dem Erscheinen der sog. „Ostdenkschrift“ der EKD im Jahre 1965. Dieses Ansinnen hat damals zu sehr schwierigen Diskussionen geführt. Viele Vertriebene hatten seitdem das Gefühl, dass sie von der Kirche, von ihrer Evangelischen Kirche, im Stich gelassen und nicht verstanden werden.

Wenn man diesen Vorgang heute in den Rahmen der Trauerarbeit der Vertriebenen, wie sie hier beschrieben wurde, hineinstellt und von da aus noch einmal aufrollt, dann könnte das eine Geschichte ergeben, die sich etwa so anhört: Eine Witwe, die hier für die Vertriebenen steht, geht auch längere Zeit nach dem Tod ihres Mannes noch immer sehr häufig zu dessen Grab. Einem alten Freund erscheint diese Trauerzeit als zu lange. Er spricht die Witwe an und sagt: „Dein lieber Mann ist ja nun schon einige Zeit tot und er kommt auch nicht wieder. Das Alte ist vergangen. Lass doch dieses Rennen zum Friedhof. Es bringt nichts. Wende dich dem Leben wieder zu, der Zukunft, jetzt und heute“.

Die Witwe würde sagen: Dieser Freund versteht mich nicht. Abschied, Loslassen, Trauer braucht seine Zeit. Und wenn sie anderen, nicht Betroffenen als zu lange erscheint, dann sollen sie doch, bitte schön, uns die Zeit lassen, die wir brauchen.



[i] Christian-Erdmann Schott, Die Hilfsaktionen der Johanniter östlich von Oder und Neiße in den Jahren 1952 bis 1998. In: Ders., Geh aus Deinem Vaterland….Vertreibung – Integration – Vermächtnis der evangelischen Schlesier. Vorträge, Aufsätze, Predigten. In: Beiträge zu Theologie, Kirche und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, hg. von Rainer Bendel, Lydia Bendel-Maidl und Joachim Köhler, Bd. 13., Berlin 2008, S. 165-186, hier S. 169

[ii] ebd. S. 179

[iii] ebd. S. 175

[iv] ebd. S. S. 172 f.

[v] ebd. S. 181-183

[vi] Katharina Elliger, Und tief in der Seele das Ferne. Die Geschichte einer Vertreibung aus Schlesien, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 4. Auf. März 2008 S. 216 f.

[vii] Hilke Lorenz, Heimat aus dem Koffer. Vom Leben nach Flucht und Vertreibung, Berlin 2009

[viii] ebd. S. 71-106

[ix] ebd. S. 105

[x] Katharina Elliger – wie Anm. 8 – S. 240

[xi] Hilke Lorenz – wie Anm. 9 – S. 88

[xii] Christian-Erdmann Schott (Hg.), Brücken nach Polen. Berichte aus der Gemeinschaft evangelischer Schlesier, Würzburg 2003, 222 Seiten

[xiii] ebd. S. 168

[xiv] ebd. S. 201

[xv] Martin Gregor, Die Gedenktafel in Döberle, Kreis Oels /Dobra. In: C.-E. Schott – wie Anm. 17 – S. 117-123, hier S. 122

[xvi] ebd. S. 123

[xvii] Maria Luft, Neues Denkmal für ehemalige Breslauer. Breslau setzt Zeichen der Versöhnung, in: adalbertusforum. Zeitschrift für ostmitteleuropäische Begegnung Nr. 43 / Juni 2009 / 16. Jahrgang S. 12-13