Fachtagung, 16. - 18.10.2022

Fachtagung – Von Wolhynien zerstreut in alle Welt. Neue Perspektiven und Ansätze zur Erforschung der wolhyniendeutschen (Migrations-)Geschichte

Wolhynien (gelb) innerhalb der heutigen Ukraine (CC BY-SA 3.0)

Wissenschaftliche Fachtagung
16. – 18.10. 2022
Wolhynier Umsiedlermuseum Linstow

Die Veranstaltung wird live auf dem Youtube-Kanal der Kulturstiftung übertragen: www.bit.ly/kulturstiftungvideo

„All History is the History of Migration” („Die gesamte Geschichte ist eine Geschichte der Migration“) lautet ein Satz, den der türkisch-britische Schriftsteller Moris Farhi geprägt hat. Für die Wolhyniendeutschen trifft er in ganz besonderem Maße zu, denn ihre Geschichte ist untrennbar mit Migration verbunden. Zwar handelt es sich um eine zahlenmäßig relativ kleine Gruppe – 1914 lebten bis zu 250.000 Deutsche in Wolhynien –, die heute weitgehend vergessen ist. Eine Untersuchung ihrer Geschichte im Kontext der interdisziplinär ausgerichteten Migrationsforschung ermöglicht es jedoch, mittels verschiedener Perspektiven und Ansätze neue Fragestellungen aufzuwerfen, die vielversprechende Erkenntnisse erwarten lassen.

Historiker und Historikerinnen wie Klaus Bade, Leslie Page Moch oder Dirk Hoerder haben gezeigt, dass Migration als historisches Phänomen nicht isoliert, sondern immer im Zusammenspiel von Bevölkerungsentwicklung, Wirtschaft, Staat, Gesellschaft und Kultur betrachtet und analysiert werden muss. Der Blick auf die Geschichte der Wolhyniendeutschen kommt einem Blick durchs Schlüsselloch gleich, hinter dem sich ein gewaltiges Panorama der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts entrollt.

Wolhynien, das einst Heimat von Ukrainern, Polen, Juden, Russen, Deutschen und Tschechen war, gehörte seit 1793 bzw. 1795 zum Russischen Kaiserreich. Deutsche wanderten in mehreren Wellen in die Region ein. Ende des 18. Jahrhunderts kamen vor allem Mennoniten, Anfang des 19. Jahrhunderts folgten Siedler aus Schlesien, Pommern sowie den Provinzen Posen und Westpreußen. Ab 1831 ließen sich Deutsche aus dem russischen Kongresspolen nieder. Die Haupteinwanderungswelle setzte in den 1860er Jahren ein, umfasste aber nicht nur Deutsche, sondern auch Tschechen. Neusiedler genossen in Wolhynien zunächst zahlreiche Privilegien und Vergünstigungen. Da eine veränderte Gesetzgebung in den 1880er Jahren diese allerdings abschaffte, emigrierten etwa 30.000 Deutsche ins Baltikum, nach Übersee oder nach Sibirien. Während des Ersten Weltkriegs wurde ein Teil der Wolhyniendeutschen ins Deutsche Reich umgesiedelt, der andere nach Sibirien deportiert. Nach dem Polnisch-Sowjetischen Krieg 1921 verteilten sich die noch etwa 120.000 verbliebenen bzw. zurückgekehrten Deutschen auf ein zu Polen gehörendes West- und ein zur Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik gehörendes Ostwolhynien. Mit dem geheimen Zusatzprotokoll des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes wurden die Deutschen aus Westwolhynien in den sogenannten „Reichsgau Wartheland“ umgesiedelt. Im Zuge der vorrückenden Front und der Niederlagen der Wehrmacht wurden schließlich auch die in Ostwolhynien verbliebenen Deutschen im „Reichsgau Wartheland“ angesiedelt, bevor sie weiter nach Westen flohen. Während es den einen gelang, sich in der späteren DDR und BRD eine neue Existenz aufzubauen, traf andere das Schicksal der Zwangsrepatriierung in die Sowjetunion.

Angesichts der facettenreichen Migrationserfahrungen, -muster, -dynamiken und -politiken erlauben es Studien zu den Wolhyniendeutschen, ausgehend von der Mikroebene Rückschlüsse auf die Meso- und Makroebene zu ziehen und dabei Herkunftsgebiet ebenso wie Übergangs- und Zielregion(en) zu beleuchten. Entsprechende Untersuchungen bieten vielfältige Anknüpfungspunkte an zentrale Themen der europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, darunter beispielsweise:

  • (Zwangs-)Migration im 19. und 20. Jahrhundert (Erfahrungen, Muster, Dynamiken, Politiken) unter besonderer Berücksichtigung transnationaler Migrationsprozesse
  • Identitäts-/Loyalitätsbildungsprozesse bei den Wolhyniendeutschen, etwa am Beispiel von Sprache und Religion
  • Ansiedlungs- und Integrationsprozesse
  • Multiethnisches Zusammenleben in Wolhynien im 19. und frühen 20. Jahrhundert
  • Minderheitenpolitik in der Sowjetunion und Polen in der Zwischenkriegszeit
  • Nationalsozialistische Bevölkerungs- und Vernichtungspolitik
  • Transformationsprozesse und sozialer Wandel im ländlichen Raum in unterschiedlichen politischen Systemen

Für die Analysen kann eine Vielzahl von Theorien und Methoden – durchaus in Kombination – aufgegriffen werden. Genannt seien beispielsweise die Mikro-, Regional- und Landesgeschichte, die transnationale und vergleichende Geschichte, die Verflechtungs- und Globalgeschichte, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Transformationsgeschichte, Gewaltgeschichte, Kulturgeschichte und Erinnerungskultur.

Ziel der Tagung ist es zum einen, die Geschichte der Wolhyniendeutschen, die bisher weitgehend unbeachtet und zu großen Teilen unerforscht ist, sowie das Wolhynier Umsiedlermuseum in Linstow einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen. Zum anderen soll versucht werden, Desiderate auszuloten und gemeinsam mit den Referenten und Referentinnen zu überlegen, welche Perspektiven und Ansätze geeignet sind, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Da sie aufgrund ihrer häufigen Migrationsbewegungen in verschiedenen Ländern unter wechselnden politischen Systeme lebten und sich in kürzester Zeit an sie anpassen mussten, eignen sich die Wolhyniendeutschen besonders, um sie zum Ausgangspunkt für eine moderne transnationale Migrationsstudie zu machen. Diese soll beispielsweise Antworten darauf geben, welchen Interessenkonflikten eine migrantische Gruppe im Zusammenspiel von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft ausgesetzt sein kann und welche Möglichkeiten und Strategien ihr zur Durchsetzung individueller sowie gruppenrelevanter Interessen bleiben.

Der Tagung geht es weniger darum, die (Migrations-)Geschichte der Wolhyniendeutschen in ihrer Gesamtheit von etwa Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart aufzuarbeiten und darzustellen. Vielmehr will sie versuchen, nur gezielte Aspekte herauszugreifen. Hierzu gehören vor allem solche, die sich eignen, um an ihnen neue Ansätze, Theorien und Methoden zu erproben beziehungsweise neue Perspektiven einzunehmen. Dieses Vorgehen lässt vielversprechende Erkenntnisse erwarten, die nicht nur unser Wissen über die Wolhyniendeutschen, sondern unser Verständnis von Migration als globalem Phänomen in Geschichte, Gegenwart und Zukunft erweitern können.

Die Ergebnisse der Tagung sollen im Nachgang publiziert und in die Ausstellungs- und Öffentlichkeitsarbeit des Wolhynier Umsiedlermuseums in Linstow einfließen.

Das vollständige Programm zum Download als pdf-Datei:
Programm Tagung „Von Wolhynien zerstreut in alle Welt“

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