Ereignis vom 5. April 1897

Sprachenverordnung für Böhmen und Mähren

Im Nationalitätenkonflikt in Böhmen versuchte er die stimmenstarken Jungtschechen aus der Opposition zu holen, indem er 1897 eine Sprachenverordnung für Böhmen und Mähren erließ. Demnach sollte die völlige Zweisprachigkeit der Verwaltung nach innen und außen eingeführt werden. Die Beamten sollten nun den Nachweis der Beherrschung beider Landessprachen erbringen. Dies hätte die Tschechen bevorzugt, da unter deren Bildungsschichten die Kenntnis des Deutschen Standard war, während sich der Großteil der Deutschböhmen weigerte, Tschechisch als ebenbürtige Sprache anzuerkennen.

Am 5. April 1897 erließ das Kabinett Badeni eine neue Sprachenverordnung für Böhmen, der am 22. April eine entsprechende Verordnung für Mähren folgte. In 16 Paragraphen regelte die Verordnung den öffentlichen Gebrauch der beiden Landessprachen. Die wichtigsten Bestimmungen betrafen die Gleichstellung des Deutschen und Tschechischen in den Kronländern Böhmen und Mähren im äußeren und inneren Dienstverkehr der Behörden und die Maßgabe, dass ab dem Stichtag 1. Juli 1901 nur noch Beamte eingestellt werden durften, die beide Sprachen in Schrift und Wort beherrschten. Damit hatte sich der vornehmlich von tschechischen Politikern erhobene Anspruch auf Wahrung der historischen Ländereinheit gegenüber den deutschen Wünschen nach Einteilung des Landes in nach ethnischen Gesichtspunkten geschaffene Verwaltungseinheiten durchgesetzt. Alle Ämter und Gerichte waren verpflichtet, mit den Bürgern oder Parteien in der Sprache ihrer Eingabe zu verkehren und diese Sprache auch konsequent bei allen (auch innerbehördlichen) Amtshandlungen anzuwenden, die die Bearbeitung und Erledigung der Eingabe betrafen. Die geforderte Zweisprachigkeit der Beamten galt grundsätzlich für jeden Dienstort auch in ethnisch einheitlichen, »rein« deutsch oder tschechisch besiedelten Gebieten.

Absicht der Sprachenverordnungen war es gewesen, zu Ausgleich und Versöhnung zwischen der deutschen und der tschechischen Bevölkerung in den Kronländern zu kommen. Die Folge jedoch war eine der schwersten Staatskrisen der Habsburgermonarchie. Das lag vor allem an der Identifikation der Sprachenfrage mit der Nationalitätenfrage. Seit der Revolution von 1848 war die Nationalitätenfrage auch in Böhmen virulent. Forderungen nach Gleichberechtigung und gemeinsamem Vorgehen tschechischer und deutscher Bürger trat aber bereits die Proklamation einer Vorherrschaft der Tschechen im Lande entgegen. Der Historiker František Palacký lehnte als ”Böhme slawischen Stammes” eine Mitarbeit im Paulskirchenparlament zu Frankfurt ab, da kein unmittelbares Verhältnis des tschechischen zum deutschen Volk bestünde. Die Habsburgermonarchie als Schutzinstanz für die kleineren slawischen Stämme sowohl gegen deutsche wie russische Hegemonialansprüche sollte damit in keiner Weise in Frage gestellt, sondern gefestigt werden. Doch führten nationale Gegensätze in Böhmen rasch zu einer Radikalisierung der tschechischen Nationalbewegung. Die Unterbindung der Verfassungsdikussion durch Kaiser Franz Joseph am 7. März 1849 unterbrach auch die ersten Lösungsansätze der Nationalitätenfrage. Diese Frage erfuhr durch die Bevölkerungsentwicklung in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts aus deutscher Sicht eine dramatische Verschärfung: Während die Zahl der Tschechen deutlich anwuchs, stagnierte die Zahl der Deutschen; zudem siedelten sich immer mehr Tschechen in bislang fast ausschließlich von Deutschen bewohnten Gebieten an. Durch die Wahlrechtsreformen der 70er und 80er Jahre verloren die Deutschen allmählich auch ihre (durch ein höheres Steueraufkommen bedingte) Überrepräsentation in den politischen Gremien. Der Bau eines Nationaltheaters, eines Nationalmuseums und die Teilung der Universität in Prag werteten das tschechische Nationalgefühl auf. Während diese Fortschritte die nationalen Forderungen der Jungtschechen nach Autonomie je-doch nur wenig befriedigten, wuchs bei den Deutschen in Böhmen ein Gefühl der Gefährdung heran. In beiden Lagern wurden nationalistische Töne laut, die jeweils Ängste der anderen Seite schürten. In der Folge entstand auf beiden Seiten eine Reihe nationaler »Schutzvereine« zur Wahrung kultureller und wirtschaftlicher Interessen.

Ein zentraler Bestandteil der nationalen Frage und der deutsch-böhmischen Ausgleichsverhandlungen war die Sprachenfrage. Bereits 1871 hatten tschechische Parteien eine innere tschechische Dienstsprache gefordert. Die »Taaffe-Stremayrschen Sprachenverordnungen« für Böhmen und Mähren vom 19. April 1880 verfügten die Doppelsprachigkeit bei Behörden und Gerichten im Verkehr mit der Öffentlichkeit und den Parteien. Im inneren Dienst und Amtsverkehr blieb das Deutsche als Amtssprache freilich weiterhin in Kraft. Diese Sprachenverordnung galt auch in »geschlossen« von Deutschen besiedelten Gebieten der böhmischen Länder. Daraus entstand ein Sprachenstreit, bewirkte die Sprachenverordnung doch eine »Bevorzugung« der Tschechen bei der Einstellung als Richter oder Beamte, da sie in aller Regel beide Sprachen beherrschten, während die Deutschen in Böhmen größtenteils nur ihre Muttersprache sprachen. Da in der Landesverwaltung ohnehin überwiegend Tschechen tätig waren, die nun vermehrt auch in deutschsprachigen Gebieten eingesetzt wurden, verstärkte sich bei den Deutschen das Gefühl der »Tschechisierung«. Eine Verschärfung bedeutete die Verordnung von 1886, durch die das Tschechische im Zuge der »Herstellung der Rechtsgleichheit« in den böhmischen Ländern gegen den heftigen Protest der deutschen Abgeordneten im Prager Landtag zur Dienstsprache an den Oberlandesgerichten in Brünn und Prag erhoben wurde. Die Vermittlungsgespräche brachten jedoch keine Lösung. Damit war das Ende der Regierung Taaffe eingeleitet.

Die Badenische Sprachenverordnung hatte die Beendigung des Sprachenstreits herbeiführen sollen, entzündete ihn aber zu ungeahnter Heftigkeit, weil Badeni wichtige psychologische Befindlichkeiten gerade unter der deutschen Bevölkerung Böhmens nicht beachtete und verletzte. In einer Situation, in der sich die Deutschen in Böhmen in allen Bereichen zunehmend in die Defensive gedrängt und ihre bisherige Vorrangstellung schwinden sahen, wirkte die Sprachenverordnung fatal; sie brachte das Fass der nationalen Empfindlichkeiten zum Überlaufen. Kasimir Badeni (1846-1909), seit 1895 österreichischer Ministerpräsident, war ein Mann des Ausgleichs. Zwar spielten bei dem Erlass seiner Sprachenverordnung auch politisch-taktische Gründe eine Rolle – er benötigte die tschechische Unterstützung zur Verlängerung des Ausgleichs mit Ungarn –, doch ging es ihm, der bereits eine Wahlreform und eine Einkommenssteuerreform erfolgreich durchgesetzt hatte, vor allem um mehr Sprachgerechtigkeit für die tschechischsprechende Bevölkerung. In der Konsequenz hieß das eine drastische Verschärfung der bestehenden Verordnungen von 1880 und 1886. Die Gleichstellung der inneren und »innersten« Amtssprache bezog sich auch auf Verlautbarungen der Behörden, die nicht durch Eingaben veranlasst waren, auf die Sprache vor Gericht, in öffentlichen Büchern (z.B. Grundbüchern), Formularen und Stempelungen der Post- und Telegraphenämter. Damit war keine Verdrängung der deutschen Sprache intendiert, sondern – positiv gewendet – die Gleichstellung der tschechischen Sprache in allen Lebensbereichen.

Die volle Gleichberechtigung beider Landessprachen, nach demokratischen Grundsätzen eine Selbstverständlichkeit, löste indes einen nationalen Entrüstungssturm aus, weil sie den Deutschen (selbstverschuldete) Nachteile bescherte: Einsprachigkeit wurde zum Karrierehemmnis. Hatten die Deutschböhmen zuletzt eine »ethnische Teilung« in einheitliche (»geschlossene«) deutsche bzw. tschechische Verwaltungskreise (die es so gar nicht mehr gab) angestrebt, so sahen sie sich nun als Minderheit einem verschärften Sprachendruck durch die Bevölkerungsmehrheit ausgesetzt, denn die zweisprachige Amtsführung der Zivilbehörden forderte nun einmal von allen Staatsbeamten in Böhmen die Kenntnis beider Landessprachen, die binnen dreier Jahre nachgewiesen werden musste. Für manche ältere Beamte, die nicht mehr in der Lage waren, die Sprache zu erlernen, konnte dies erhebliche soziale Härten mit sich bringen. In Mähren, wo wegen der größeren »Durchmischung« der Bevölkerung auch unter den Deutschen die Mehrsprachigkeit verbreiteter war, stellte sich dieses Problem nicht in derselben Schärfe. Hier wurde 1905 der sog. Mährische Ausgleich möglich. Zunächst jedoch setzte auf allen politischen Ebenen ein heftiger Sprachenkampf ein, der den nationalistischen Kräften auf beiden Seiten erheblichen Zulauf bescherte. Die parlamentarische Arbeit wurde durch »Obstruktion« unmöglich gemacht. Als die Regierung versuchte, durch eine Veränderung der Geschäftsordnung (»Lex Falkenhayn«) am 25. November 1897 die Obstruktionspolitik zu unterlaufen, kam es zu unbeschreiblichen Tumulten, die auf die Straße übergriffen. Mit der Demission Badenis am 27. November und seiner gesamten Regierung am Tag darauf war der Konflikt keineswegs beigelegt. Es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen besonders in Prag, Juden wurden wiederholt Opfer pogromartiger Übergriffe. Die Sprachenproblematik ließ sich jedoch nicht so leicht entschärfen, denn jede Revision der Sprachenverordnung betraf direkt die Interessen eines der beiden Völker. Auch Badenis Nachfolger Gautsch stürzte über eine Sprachenverordnung. Eine befriedigende Regelung der Sprachenproblematik hat es bis zum Ersten Weltkrieg nicht mehr gegeben. An Stelle einer gesetzlichen Regelung entstand ”eine Art fließendes [d.h. oft willkürliches] Sprachenrecht” (Gautsch). Die Ethnisierung und Radikalisierung des politischen Lebens wurde zum Menetekel, das entscheidend zum Untergang der Habsburgermonarchie beitrug.

Badenis »Traum«, die Deutschen und Tschechen in Böhmen mittels einer gerechten Sprachenverordnung miteinander zu versöhnen, hätte eine breite Zustimmung verdient. Die Interessen des anderen mitzusehen, hatte man in der (auch durch weitere »Streitpunkte«) angeheizten Atmosphäre verlernt. Stattdessen zerstörte die blinde Negation des Nachbarvolkes die Lebensgrundlagen für Generationen deutscher und tschechischer Bürger Böhmens. Das Neben- und Miteinander der Völker, die Wertschätzung der Sprache und Kultur des anderen, ist auch heute wieder zu einer unabdingbaren Voraussetzung für ein friedliches und fruchtbares Zusammenleben in Europa geworden.

Lit.: Horst Glassl: Der mährische Ausgleich. München 1967. – Berthold Sutter: Die Badenischen Sprachenverordnungen von 1897. Ihre Genesis und ihre Auswirkungen vornehmlich auf die innerösterreichischen Alpenländer. 2 Bde. Graz/Köln 1960-65. – Friedrich Prinz: Geschichte Böhmens 1848-1948. München 1988. – Hans Schenk: Die Böhmischen Länder. Ihre Geschichte, Kultur und Wirtschaft. Köln 1993. – Hannelore Burger: Sprachenrecht und Sprachgerechtigkeit im österreichischen Unterrichtswesen. Wien 1994. – Dies.: Die Badenischen Sprachenverordnungen für Mähren: Ein europäisches Gedankenspiel, in: Bohemia 35 (1994), 75-89.

Udo Wennemuth