Ereignis vom 22. Januar 1558

Beginn des Livländischen Krieges

Darstellung Iwans IV. „Der Schreckliche“ im Titularbuch der Zaren, 1672

Das alte Livland, um das es im vorliegenden Beitrag geht, war territorial mit dem heutigen Estland und Lettland identisch. Im späten Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit drängten sich auf diesem Raum fünf geistliche Staaten, und zwar das Herrschaftsgebiet des Deutschen Ordens, das Erzbistum Riga sowie die Bistümer Dorpat, Ösel-Wiek und Kurland. Die Bevölkerung bestand zwar ganz überwiegend aus Letten, Esten und Liven, doch bildeten die Deutschen die städtische und ländliche Oberschicht. Obwohl die Reformation, die in den livländischen Städten seit 1521 Verbreitung fand, die Herrschaft des Ordens und der Fürstbischöfe infrage stellte, erlebte das Land bis zum Ausbruch des Livländischen Krieges eine hohe wirtschaftliche und kulturelle Blüte.

Am 22. Januar 1558 fielen jedoch russische und tatarische Truppen des Zaren Ivan IV. (des „Schrecklichen“, 1547-1584) ins östliche Gebiet Livlands ein. Nach wenigen Wochen beendeten sie ihre Streifzüge, im Mai begann aber mit der Einnahme der Hafenstadt Narva die russische Eroberung des Landes. Der damit entfesselte Krieg, in den erwartungsgemäß auch andere Mächte eingriffen, sollte nicht weniger als ein Vierteljahrhundert lang dauern und vor allem für Livland, aber auch für seine Nachbarn, schwerwiegende Folgen haben.

Über die Motive der Politik Ivans besteht in der Forschung keine einheitliche Meinung. Lange Zeit nahm man allgemein an, dass der Zar den Besitz eigener Ostseehäfen erstrebte, weil in den livländischen Hansestädten – unter denen Riga, Reval und Dorpat herausragten – die Handelsbedingungen für russische Kaufleute nachteilig waren. Dagegen lässt sich einwenden, dass die Russen am Finnischen Meerbusen seit je einen eigenen Zugang zur Ostsee besaßen und dass bei den livländisch-russischen Verhandlungen, die unmittelbar vor Ausbruch des Krieges stattfanden, in den Fragen des Handels eine Einigung erzielt worden war. Den entscheidenden Konfliktpunkt bildete stattdessen der russische Anspruch auf einen Tribut, des­sen Berechtigung die Livländer nicht anerkannten. Unter dem Vorzeichen dieser Tributforderung stand auch der Truppen­einmarsch in Livland Anfang 1558. Mit ihr verband sich auf Moskauer Seite die sachlich unzutreffende, aber immer dichter werdende Konstruktion einer ursprünglichen russischen Herrschaft im livländischen Gebiet und einer dortigen Verbreitung der Orthodoxie. Neben der Erfahrung des schwachen Widerstandes gegen die Einfälle von Anfang 1558 mögen in diese Richtung gehende Vorstellungen dazu beigetragen haben, dass der Zar zur Eroberungspolitik überging und daran unbeirrt festhielt.

Mit Meinungsverschiedenheiten in der russischen Führung über die Außenpolitik und mit der Planung militärischer Aktionen gegen die Krimtataren ist es zu erklären, dass sich Moskau 1559 an der livländischen Front auf eine Waffenruhe einließ. Die Livländer suchten in dieser Zeit verstärkt um auswärtige Hilfe nach. König Sigismund II. August von Polen, der gleichzeitig Großfürst von Litauen war, verpflichtete sich jetzt zum Schutz des Ordensgebiets und des Erzbistums Riga, während die Bistümer Ösel-Wiek und Kurland vom dänischen König Frederik II. erworben wurden bzw. in den Besitz von dessen jüngerem Bruder, dem Herzog Magnus von Holstein, gelangten.

Im Jahr 1560 nahmen die Russen den Kampf energisch wieder auf. Jetzt gelang ihnen ein entscheidender Sieg über das Ordensheer, und durch eine Meuterei ungenügend bezahlter Söldner fiel auch die Burg Fellin, die stärkste Festung des Ordens, in ihre Hand. Die Erfahrung, dass der Orden keinen ausreichen­den Schutz mehr gewähren konnte, veranlasste nun Reval und die Ritterschaft der nordestnischen Landschaften Harrien und Wierland zur Unterwerfung unter den schwedischen König Erik XIV., der im Sommer 1561 ihre Privilegien bestätigte. Daraufhin waren auch der polnische König und die Litauer, die bislang für alle Bitten um Hilfe taub gewesen waren, zu stärkerem Engagement bereit. Am 28. November 1561 vollzogen der Ordensmeister Gotthard Kettler und der Rigaer Erzbischof Wilhelm von Brandenburg in Wilna die Unterwerfung unter den polnischen König. Der letztere reservierte sich das Gebiet nördlich der Düna als direkten Herrschaftsbereich, während Kettler nach preußischem Vorbild Kurland als Lehnsherzogtum erhielt. Mit dem gleichzeitig für das bisherige Ordensgebiet ausgestellten Privilegium Sigismundi Augusti wurden verbesserte Rechte für die adligen Vasallen, die Besetzung der Ämter mit Deutschen und der evangelische Gottesdienst zugesagt. Wie zum Ausdruck gebracht, blieb aber nur in Kurland die seit dem 13. Jahrhundert in Livland bestehende deutsche Herrschaft erhalten, wogegen die übrigen Teile Livlands an auswärtige Mächte gefallen waren. Riga unterwarf sich allerdings erst 1581 endgültig dem polnischen König, nachdem ihm eine ähnliche Stellung wie Danzig zugebilligt worden war. Da aber die grundlegenden Regelungen 1561 erfolgten, gehört dieses Jahr zu den wichtigsten Zäsuren der baltischen Geschichte.

Bald danach begann der Kampf zwischen Litauen und Russland, der sich auf das Gebiet des ersteren erstreckte. Dabei gelang dem Zaren 1563 die Einnahme der bedeutenden Handelsstadt Polozk im heutigen Weißrussland. Dies sollte jedoch für längere Zeit sein letzter großer Erfolg bleiben. Die anschließende Periode der Stagnation in der Livlandpolitik des Zaren verlief zeitgleich mit seiner Terrorisierung des eigenen Volkes durch eine Sondertruppe, die Opričniki.

Schweden befand sich seit 1563 im sogenannten Ersten Nordischen (oder auch: Siebenjährigen) Krieg gegen seinen traditionellen Widersacher Dänemark und gegen Polen sowie Lübeck. Mit dem Zaren suchte Erik XIV. deshalb Frieden zu halten. Das russisch-schwedische Verhältnis änderte sich jedoch, nach­dem Erik im Jahre 1568 durch seinen Bruder Johann III. abgelöst worden war und sich Herzog Magnus von Holstein, ein Verlierer des Ersten Nordischen Krieges, vom Zaren zum König in Livland hatte ausrufen lassen, womit Ivan die Livländer zum Übertritt auf seine Seite veranlassen wollte. Als Magnus 1570 die Revaler zum Abfall von Schweden zu überreden suchte, dachten diese aber gar nicht daran, sich auf einen solchen Vorschlag einzulassen, und widerstanden auch einer längeren Belagerung durch die Truppen des Herzogs und des Zaren. Damit war das Projekt des livländischen Königtums praktisch schon gescheitert. In den Jahren 1573-1576 vermochte Ivan jedoch mit Ausnahme von Reval das gesamte zu Schweden gehörende Gebiet Livlands zu erobern.

Den livländischen Besitz Polen-Litauens ließ der Moskauer Herrscher zu jener Zeit in Ruhe, weil er bei den Königswahlen nach dem Tode von Sigismund II. August (1572) für sich bzw. seine Söhne eine Chance sah. Nachdem aber 1576 Stephan Báthory zum König gekrönt worden war, stieß der Zar in das polnisch-litauische Gebiet Livlands vor. Im Jahre 1577 fand mit seiner persönlichen Teilnahme ein Zug von 30.000 bis 40.000 Kriegsleuten durch dieses Gebiet statt, bei dem größte Brutalität angewandt und kein Gedanke mehr an die eventuelle Gewinnung der Livländer verschwendet wurde. Mitziehenden tatarischen Sklavenhändlern überließ man viele Gefangene zum Verkauf in den Orient. Vom Sonderfall des Herzogtums Kurland abgesehen, waren im Ergebnis dieses Zuges nur noch Riga und Reval von den Russen nicht besetzt.

Nach dem Abzug des Zaren erodierte die russische Herrschaft im Lande aber rasch. Die moskowitischen Truppen waren erschöpft und demotiviert, wogegen Stephan Báthory in Polen Mittel für die Anwerbung von Söldnern und für eine gute Ausrüstung seiner Truppen erwirken konnte. Im Jahre 1579 gewann er Polozk zurück und verlegte den Kampf dann auf russisches Gebiet, wo er mit der erfolglosen Belagerung Pleskaus allerdings an eine Grenze stieß. Ivan gewann nun durch die Vorspiegelung konfessionellen Entgegenkommens den päpstlichen Legaten Antonio Possevino als Vermittler eines zehnjährigen Friedens, der am 15. Januar 1582 in Jam Zapol’skij (nahe Pleskau) geschlossen wurde. Darin verzichtete der Zar auf seine Eroberungen im polnisch-litauischen Teil Livlands, und Stephan Báthory zog sich aus Russland zurück.

Inzwischen war es den Schweden unter ihrem Feldherrn Pontus De la Gardie gelungen, die Russen aus Nordestland zu verdrängen und das nordwestrussische Ingermanland einzunehmen. Nach dem Friedensschluss mit Polen-Litauen sandte Ivan seine Truppen gegen den schwedischen Widersacher, doch erzielten sie keinen durchschlagenden Erfolg. Daraufhin schloss der Zar im August 1583 an der Pljussa bei Narva mit Johann III. einen Waffenstillstandsvertrag ab, wobei er Ingermanland dem Gegner überlassen musste.

Der Moskauer Herrscher ging also als Verlierer aus dem Ringen hervor. Neben der Opričninapolitik hat der lange Krieg die menschlichen und wirtschaftlichen Ressourcen seines Landes stärkstens beeinträchtigt. Das brutale Verhalten Ivans und seiner Truppen musste zugleich das westliche Bild von Russland negativ prägen. Für die Litauer hatte der Krieg die Folge, dass sie als Gegenleistung für die Unterstützung durch die Polen 1569 in Lublin der polnisch-litauischen Realunion zustimmen mussten, mit der sie ihre staatliche Selbständigkeit weitgehend verloren. Für das Königreich Schweden aber bedeutete die Gewinnung Nordestlands mit Reval den ersten Schritt zur Vormacht im Ostseeraum, eine Position, die es im 17. Jahrhundert erreichte. Im Zuge dieses Aufstiegs hat Schweden in einem neuen großen Krieg, der von 1600 bis 1629 dauerte, seinen nunmehrigen polnisch-litauischen Gegner weitgehend aus Livland verdrängt, was wieder mit schwersten Opfern unter der Bevölkerung verbunden war. Erst Peter der Große vermochte dieses Gebiet im Großen Nordischen Krieg gegen Schweden (1700-1721) als erfolgreicher Nachfolger Ivans IV. für das Russische Reich zu gewinnen, dem das Baltikum dann bis 1917/18 angehörte.

Lit.: Norbert Angermann, Studien zur Livlandpolitik Ivan Groznyjs, Marburg/Lahn 1972. – Erich Donnert, Der livländische Ordensritterstaat und Russland. Der Livländische Krieg und die baltische Frage in der europäischen Politik 1558-1583, Berlin 1963. – Deutsche Geschichte im Osten Europas. Baltische Länder, hrsg. von Gert von Pistohlkors, Berlin 1994. – Wilhelm Lenz: Riga zwischen dem Römischen Reich und Polen-Litauen in den Jahren 1558-1582, Marburg/Lahn 1968. – Knut Rasmussen, Die livländische Krise 1554-1561, Kopenhagen 1973. – Erik Tiberg, Die Politik Moskaus gegenüber Alt-Livland 1550-1558, in: Zeitschrift für Ostforschung 25 (1976), S. 577-617. – Derselbe, Zur Vorgeschichte des Livländischen Krieges. Die Beziehungen zwischen Moskau und Litauen 1549-1562, Uppsala 1984.

Bild: Zar Ivan IV., „der Schreckliche“ im Titularbuch der Zaren, 1672 / Quelle: Wikipedia. Gemeinfrei.

Norbert Angermann (OGT 2008, 233)