Die sogenannten Bodenreformen oder Agrarreformen im 20. Jahrhundert, die in der Sache vornehmlich eine Enteignung des größeren landwirtschaftlichen Grundbesitzes in den verschiedensten Ländern bedeuteten, sind ein historisches Kapitel, das einer unbedingten Bearbeitung bedarf. Die durchgeführten unterschiedlichen Enteignungen reichten von legalen Maßnahmen, verbunden mit einer Entschädigung, bis hin zu illegalen, zur willkürlichen Vertreibung vom angestammten Eigentum und auch physischer Vernichtung der Eigentümer.
Die Agrarreformen, die unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg in den jungen baltischen Staaten in den Jahren 1919 und 1920 durchgeführt wurden, hier speziell in Lettland, sind vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse, der Auflösung des Russischen Reiches, der Revolution von 1917 und auch der Auflösung des Deutschen Reiches zu sehen. Sie wurden nach Entstehen der Staaten in allen drei Ländern durchgeführt und galten für die damalige Zeit, gemessen an anderen, als sehr radikal. Trotz aller Differenzierung weisen die Agrarreformen Estlands, Lettlands und auch Litauens Gemeinsamkeiten auf. Mehrere Komplexe kamen zusammen, die die Bodenreform veranlaßten. Zunächst standen sozialpolitische Überlegungen im Vordergrund, und zwar um den Landarbeitern und Landlosen von seiten des neuen Staates zu eigenem Besitz zu verhelfen. Andererseits sollte aber vor allem der größere Grundbesitz, der sich seit Jahrhunderten in der Hand von Deutsch-Balten befand – in Est- und Lettland eine nationale Minderheit -, beseitigt werden. In Lettland waren vor der Agrarreform etwa 10 % des Bodens in staatlichem, 39 % in bäuerlichem und 48 % in gutsherrlichem Besitz (3,16 Mill. Hektar).
Neben diesen Motiven lassen sich zusätzlich allgemeinpolitische Überlegungen feststellen: Man war staatlicherseits der Auffassung, daß nur ein Kleingrundbesitz bodenständiger Art, nationalgebunden an die Letten, ein Gegengewicht gegen die versuchte Einflußnahme Sowjetrußlands mit seiner Propaganda einer allgemeinen Landverteilung bilden konnte. „Man muß bedenken“, so Georg von Rauch, „daß die Debatten über die Agrarmaßnahmen noch während des Freiheitskrieges einsetzten. Durch Befriedigung des Landhungers des ländlichen Proletariats wurde eine Immunisierung gegen die kommunistische Propaganda angestrebt und im Ergebnis auch erreicht.“
Trotzdem wird abzuwägen sein, ob dies eine Enteignung rechtfertigte, vor allem deshalb, weil damit sogleich Hand an Grundprinzipien der neuen Staatsgründungen gelegt wurde, d.h., der Gewährung und Garantie des Eigentums. Möglicherweise wurde aus politischen Gründen die Eigentumsfrage in ihrer weitreichenden rechtlichen Bedeutung auch für die neuen Staatswesen nicht ernst genug genommen. So hat es etwa Gustav von Stryk, einer der entscheidendsten Agrartheoretiker Estlands, der von 1850 bis 1927 lebte, in einem Memorandum aus dem Jahre 1922 über die Güterenteignung in Estland 1919 dargestellt: „Die im Grundeigentum stehende Volksschicht, die dies Grundeigentum nicht als Landgut innehat, wird in seiner Rechtssicherheit erschüttert…Wenn Verfassung eines Landes nicht eine erklügelte Urkunde, sondern der anerkannte Ausdruck von Natur und Geschichte in der Rechtsform ist, dann erachte ich das Gesetz vom 10. Oktober 1919 für einen Fremdkörper, der in diese Verfassung unseres Landes eingedrungen ist und sobald wie möglich ausgeschieden und mit allen seinen Wirkungen rückgängig gemacht werden sollte.“ Stryk endet seine Ausführungen, die gleichermaßen für Lettland gelten: „Das Vorkommen der Verfassungkatalyse muß dazu mahnen, ähnlichen Vorkommnissen vorzubauen, eine verfassungsrechtliche Aufgabe, deren Darstellung verfrüht wäre, bis der Staat sich als den berufenen Hüter von Leben und Eigentum seiner Bürger erkannt hat und seinen Willen darauf richtet, dies Hüteramt zu betreuen. Eigentum ist hier gedacht im Sinne der erworbenen Rechte, d.h. Eigenschaften, deren wichtigste diejenigen sind, die dem wirklichen Wohl des Volkes dienstbar gemacht zu werden würdig und willens sind: Nobilität, Edelmut, Opferfähigkeit und geschichtlich-vorausschauender Sinn“ (Stryk, S. 21/22) Das wohl wesentlichste Motiv benennt jedoch Georg von Rauch: „Es galt, die bisherige deutsche Führungsschicht politisch auszulöschen, d.h. ihr die wirtschaftliche Basis für ihren politischen Einfluß zu entziehen.“ Eine Beibehaltung der bisherigen Besitzverhältnisse wurde „vielfach geradezu als mögliche Gefährdung der neuen Staatlichkeit angesehen.“
Bestätigt wird dies auch von dem Historiker Hans von Rimscha, der in einer Betrachtung über „Die Umsiedlung der Deutschbalten 1939“ festgestellt hat, daß bei der Befürwortung und Entscheidung vieler Deutsch-Balten für die Umsiedlung ausschlaggebend war, „daß sie weniger in den neuen Staatsgründungen an sich, als in den ersten Maßnahmen dieser Staaten – besonders in den Enteignungsgesetzen in Lettland und Estland – Aktionen sahen, mit denen die Axt an die Wurzel des baltischen Deutschtums gelegt war und die ihnen damit wirtschaftlich, rechtlich und moralisch den Boden für eine weitere Existenz im Lande entzogen.“
Schließlich sei hier noch das Fazit von Arved von Taube genannt, der die Schlußfolgerungen von Rauch und Rimscha pointiert zusammenfaßt „Die estnischen und lettischen politischen Parteien verfolgten mit der Enteignung und Aufteilung des Großgrundbesitzes ein doppeltes Ziel: Sie wollten den Landhunger der Massen stillen und diese dadurch gegen die bolschewistische Agitation immunisieren. Die Bodenreform war aber zugleich auch das Mittel, um die wirtschaftliche und politische Macht des deutsch-baltischen Adels für immer zu brechen. Durch die Enteignung des angestammten Landbesitzes bis auf geringfügige Reste fühlte sich aber auch die ganze Volksgruppe in ihrer Bodenständigkeit gefährdet. Und der Umstand, daß die nationale Minderheit in einer so lebenswichtigen Frage majorisiert werden konnte, trug – ebenso wie die allzu häufigen Regierungskrisen – nicht dazu bei, der parlamentarisch-demokratischen Ordnung Sympathien zu erwerben“.
Der lettische Landwirtschaftsminister H. Celminš legte der Konstituierenden Versammlung einen Entwurf zu einem neuen Agrargesetz vor, das am 16. September 1920 verabschiedet wurde. Damit unterlagen nun rund 1.300 Güter der Enteignung. Ungefähr 3,7 Mill. Hektar Land wechselten ihren Besitzer. Im Unterschied zu Estland war in Lettland die Bodenreform ursprünglich nicht ganz so radikal. Zunächst war eine Beibehaltung eines sogenannten Restgutes mit dazugehörigem Inventar vorgesehen. Die Landgröße durfte höchstens 50 Hektar betragen. In den Händen von ungefähr 1.887 Besitzern machten sie 1,7 % des früheren Gutsbesitzes aus. Über die Entschädigung sollte noch verhandelt werden und wurde verhandelt, aber das Parlament lehnte sie im Jahre 1924 mit 50 gegen 35 Stimmen ab. Erst aus diesem Grunde hat man die lettische Agrarreform als die „radikalste von allen osteuropäischen Agrarreformen – mit Ausnahme der sowjetischen – genannt“ (G. v. Rauch, S. 82).
Bemerkenswert ist noch, daß in Lettland wie auch in Estland die Teilnehmer am Freiheitskrieg bei der Landzuteilung bevorzugt bedacht werden sollten. Im Gegensatz zu Estland, in dem keine nationale Differenzierung vorgenommen wurde, d.h. Deutschbalten wie auch Kriegsteilnehmer aus Deutschland konnten einen Antrag stellen, beschloß man in Lettland in einem besonderen Gesetz vom Jahre 1929, die Angehörigen der Baltischen Landeswehr von der bevorzugten Landzuteilung auszuschließen. In der Baltischen Landeswehr waren zahlreiche Deutschbalten, die das Land, ihre Heimat, gegen die Bol´-
ševiki verteidigt hatten. Aufgrund dieses Gesetzes von 1929 trat der deutsche Justizminister Bernhard Berent von seinem Posten zurück und stellte ihn zur Verfügung. Dies zeigt, wie lange Zeit noch nach der Bodenreform von 1920 um deren Folgen gerungen wurde. Im Ergebnis befanden sich nach der Agrarreform in Lettland 35 % des Bodens, hauptsächlich Wald, in den Händen des Staates. 39,3 % entfielen auf die alten Bauernhöfe, die aufgrund der Maßnahmen der livländischen Ritterschaft in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden waren. 22,2 %, d.h. 146.306 Hektar entfielen auf die Neusiedler.
Bei allem ist bemerkenswert, in wie starkem Maße die lettische Landwirtschaft auf die alte livländische Gutsstruktur zurückgriff. Im besonderen Maße wurde, wie es auch heute gewürdigt wird, die weite Tätigkeit der livländischen ökonomischen Societät, im Jahre 1792 gegründet, wieder aufgegriffen, die in Praxis und Theorie die gesamte Landwirtschaft des alten Livlands gleichsam als Landwirtschaftskammer befruchtet hat. So gelang es der lettischen Landwirtschaft, die Produktion nach der Umstrukturierung allmählich zu erhöhen und die Erträge zu steigern. So wuchs z.B. der Bestand an Rindvieh von 912.000 im Jahre 1913 auf 1.278.000 (1939) an, der Butterertrag pro Kuh von 108 kg auf 130 kg jährlich (G. v. Rauch, S. 83).
Zieht man nach Auflösung der UdSSR und der neuen Souveränität des lettischen Staates heute die Integrierung Lettlands in den westeuropäischen Bereich in Betracht, ist diese Agrarreform vor dem historischen Hintergrund lettischerseits verständlich, doch gleichsam für die zukünftige Entwicklung zu relativieren. In Anbetracht einer allgemeinen Europäisierung der Landwirtschaft, einer politischen Integration des lettischen Staates in die europäische Gemeinschaft, wird man auch diese Maßnahmen zu überdenken haben, allein schon aus rein wirtschaftlichen Gründen, da kleine Betriebe wenig Chancen haben zu überleben. Das gilt für Lettland wie entsprechend auch für Estland, für das gerade in dem jüngst, 1994, erschienenen Buch von T. Rosenberg festgestellt wird: „1925 gab es in Estland nur 346 Wirtschaften, die mehr als 120 ha landwirtschaftliche Nutzfläche mit insgesamt 148.688 ha Gesamtfläche hatten. Auch in den folgenden Jahren setzten sich, obwohl sehr langsam, der zahlenmäßige Rückgang dieser Kleingüter (Großgesinde) und die Verringerung ihres Grundbesitzes fort“. (Rosenberg, S. 301). Der Autor scheint das positiv zu sehen, denn zuvor sagt er: „Bis 1924 konnte man den größeren Teil von Gütern zerstückeln und als Neuansiedlerhöfe oder Zuschnitte den Neuansiedlern austeilen.“ (Rosenberg, S. 300)
Eine Änderung trat in Lettland wie in Estland ein, als mit ihrer Sowjetisierung nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge der Kollektivierung wieder staatliche Großbetriebe eingerichtet wurden – freilich nun nach sowjetischem Vorbild als Sowchosen und Kolchosen. Die Gefahr besteht, daß heute diese sowjetischen Großbetriebe gleichgesetzt werden mit den Gutsbetrieben früherer Zeiten, unter Auslassung des historischen Tatbestandes, daß das Eigentum und damit die Verantwortung und zugleich die wirtschaftlichen Erfolge unter den alten Gutsstrukturen nichts, aber auch gar nichts gemein haben mit den sowjetischen Staatsbetrieben und Kolchosen. Die Bodenreform von 1920 war vielleicht vom damaligen Standpunkt der lettischen Regierung eine Notwendigkeit, es bleiben jedoch die ausgeführten grundsätzlichen Vorbehalte.
Lit.: Georg von Rauch: Geschichte der baltischen Staaten. Stuttgart 1970. – Hans von Rimscha: Die Umsiedlung der Deutschbalten aus Lettland im Jahre 1939. Hannover o.J. – Arved Frhr. von Taube: Die Deutschbalten. Lüneburg 1991. – Die Güterenteignung in Estland 1919. Ein Memorandum über die Bedeutung des Eigentums von Gustav v. Stryk aus dem Jahre 1922, hg. v. Hubertus Neuschäffer. Plön 1993. – Tiit Rosenberg: Eesti moisad. Tallinn 1994.
Bild: Tagung der verfassungsgebenden Versammlung Estlands, hier Eröffnungssitzung am 23. April 1919 / Quelle: Wikipedia. Gemeinfrei.
Hubertus Neuschäffer