Ereignis vom 24. September 1920

„Bodenreform“ in Lettland

Tagung der verfassungsgebenden Versammlung Estlands, hier Eröffnungssitzung am 23. April 1919

Die sogenannten Bodenreformen oder Agrarreformen im 20. Jahrhundert, die in der Sache vornehmlich eine Enteignung des größeren landwirtschaftlichen Grundbesitzes in den ver­schie­den­sten Ländern bedeuteten, sind ein historisches Kapi­tel, das einer unbedingten Bearbeitung bedarf. Die durchge­führten unter­schiedlichen Enteignungen reichten von legalen Maß­nah­men, verbunden mit einer Entschädigung, bis hin zu illegalen, zur willkürlichen Vertreibung vom angestammten Eigentum und auch physischer Vernichtung der Eigentümer.

Die Agrarreformen, die unmittelbar nach dem Ersten Welt­krieg in den jungen baltischen Staaten in den Jahren 1919 und 1920 durchgeführt wurden, hier speziell in Lettland, sind vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse, der Auflösung des Russischen Reiches, der Revolution von 1917 und auch der Auflösung des Deutschen Reiches zu sehen. Sie wurden nach Entstehen der Staaten in allen drei Ländern durchgeführt und galten für die damalige Zeit, gemessen an anderen, als sehr radikal. Trotz aller Differenzierung weisen die Agrarre­formen Estlands, Lettlands und auch Litauens Gemeinsamkei­ten auf. Mehrere Komplexe kamen zusammen, die die Boden­re­form veranlaßten. Zunächst standen sozialpolitische Über­le­gungen im Vordergrund, und zwar um den Landarbeitern und Land­lo­sen von seiten des neuen Staates zu eigenem Besitz zu verhelfen. Andererseits sollte aber vor allem der größere Grundbesitz, der sich seit Jahrhunderten in der Hand von Deutsch-Balten befand – in Est- und Lett­land eine nationale Min­derheit -, beseitigt werden. In Lettland waren vor der Agrar­reform etwa 10 % des Bodens in staatli­chem, 39 % in bäuer­li­chem und 48 % in gutsherrlichem Be­sitz (3,16 Mill. Hektar).

Neben diesen Motiven lassen sich zusätzlich allgemeinpoliti­sche Überlegungen feststellen: Man war staatlicherseits der Auffassung, daß nur ein Kleingrundbesitz bodenständiger Art, nationalgebunden an die Letten, ein Gegengewicht gegen die versuchte Einflußnahme Sowjetrußlands mit seiner Propa­ganda einer allgemeinen Landverteilung bilden konnte. „Man muß bedenken“, so Georg von Rauch, „daß die Debatten über die Agrarmaßnahmen noch während des Freiheitskrieges einsetzten. Durch Befriedigung des Landhungers des ländlichen Pro­le­tariats wurde eine Immunisierung gegen die kommunisti­sche Pro­paganda angestrebt und im Ergebnis auch erreicht.“

Trotzdem wird abzuwägen sein, ob dies eine Enteignung recht­fer­tigte, vor allem deshalb, weil damit sogleich Hand an Grund­­prinzipien der neuen Staatsgründungen gelegt wurde, d.h., der Gewährung und Garantie des Eigentums. Mögli­cher­wei­se wurde aus politischen Gründen die Eigentumsfrage in ihrer weitreichenden rechtlichen Bedeutung auch für die neuen Staatswesen nicht ernst genug genommen. So hat es etwa Gustav von Stryk, einer der entscheidendsten Agrartheo­retiker Estlands, der von 1850 bis 1927 lebte, in einem Memo­randum aus dem Jahre 1922 über die Güterenteignung in Est­land 1919 dargestellt: „Die im Grundeigentum stehende Volks­schicht, die dies Grundeigentum nicht als Landgut inne­hat, wird in seiner Rechtssicherheit erschüttert…Wenn Verfas­sung eines Landes nicht eine erklügelte Urkunde, sondern der anerkannte Aus­druck von Natur und Geschichte in der Rechts­form ist, dann erachte ich das Gesetz vom 10. Oktober 1919 für einen Fremd­körper, der in diese Verfassung unseres Landes ein­ge­drun­gen ist und sobald wie möglich ausgeschie­den und mit allen seinen Wirkungen rückgängig gemacht werden sollte.“ Stryk endet seine Ausführungen, die gleicher­maßen für Lett­land gelten: „Das Vorkommen der Verfassungkatalyse muß dazu mahnen, ähnlichen Vorkommnissen vor­zubauen, eine ver­fas­sungs­recht­li­che Aufgabe, deren Darstel­lung verfrüht wäre, bis der Staat sich als den berufenen Hüter von Leben und Eigen­tum seiner Bür­ger erkannt hat und sei­nen Willen darauf rich­tet, dies Hüteramt zu betreuen. Eigen­tum ist hier gedacht im Sinne der erwor­benen Rechte, d.h. Ei­genschaften, deren wich­tigste die­jenigen sind, die dem wirkli­chen Wohl des Vol­kes dienstbar gemacht zu werden würdig und willens sind: Nobi­lität, Edelmut, Opferfähigkeit und ge­schichtlich-vor­aus­schau­ender Sinn“ (Stryk, S. 21/22) Das wohl wesentlichste Motiv benennt jedoch Georg von Rauch: „Es galt, die bisherige deutsche Führungsschicht poli­tisch auszulöschen, d.h. ihr die wirt­schaftliche Basis für ihren politischen Einfluß zu entziehen.“ Eine Beibehaltung der bis­herigen Besitz­ver­hält­nis­se wurde „viel­fach geradezu als mög­liche Gefährdung der neu­en Staat­lichkeit angesehen.“

Bestätigt wird dies auch von dem Historiker Hans von Rimscha, der in einer Betrachtung über „Die Umsiedlung der Deutschbalten 1939“ festgestellt hat, daß bei der Befürwortung und Entscheidung vieler Deutsch-Balten für die Umsiedlung ausschlaggebend war, „daß sie weniger in den neuen Staats­gründungen an sich, als in den ersten Maßnahmen dieser Staaten – besonders in den Enteignungsgesetzen in Lettland und Estland – Aktionen sahen, mit denen die Axt an die Wur­zel des baltischen Deutschtums gelegt war und die ihnen damit wirtschaftlich, rechtlich und moralisch den Boden für eine weitere Existenz im Lande entzogen.“

Schließlich sei hier noch das Fazit von Arved von Taube ge­nannt, der die Schlußfolgerungen von Rauch und Rimscha pointiert zusammenfaßt „Die estnischen und lettischen politi­schen Parteien verfolgten mit der Enteignung und Aufteilung des Großgrundbesitzes ein doppeltes Ziel: Sie wollten den Landhunger der Massen stillen und diese dadurch gegen die bolschewistische Agitation immunisieren. Die Bodenreform war aber zugleich auch das Mittel, um die wirtschaftliche und politische Macht des deutsch-baltischen Adels für immer zu brechen. Durch die Enteignung des angestammten Landbesit­zes bis auf geringfügige Reste fühlte sich aber auch die ganze Volksgruppe in ihrer Bodenständigkeit gefährdet. Und der Umstand, daß die nationale Minderheit in einer so lebens­wichtigen Frage majorisiert werden konnte, trug – ebenso wie die allzu häufigen Regierungskrisen – nicht dazu bei, der par­lamentarisch-demokratischen Ordnung Sympathien zu erwer­ben“.

Der lettische Landwirtschaftsminister H. Celminš legte der Konstituie­renden Versammlung einen Entwurf zu einem neuen Agrar­gesetz vor, das am 16. September 1920 verab­schiedet wur­de. Damit unterlagen nun rund 1.300 Güter der Ent­eig­nung. Ungefähr 3,7 Mill. Hektar Land wechselten ihren Besit­zer. Im Unterschied zu Estland war in Lettland die Bo­denre­form ursprünglich nicht ganz so radikal. Zunächst war eine Bei­­be­hal­tung eines sogenannten Restgutes mit dazu­gehörigem Inven­tar vorgesehen. Die Landgröße durfte höch­stens 50 Hek­tar betra­gen. In den Händen von ungefähr 1.887 Besitzern mach­ten sie 1,7 % des früheren Gutsbesitzes aus. Über die Ent­schä­digung sollte noch verhandelt werden und wurde ver­han­delt, aber das Parlament lehnte sie im Jahre 1924 mit 50 gegen 35 Stimmen ab. Erst aus diesem Grunde hat man die lettische Agrarreform als die „radikalste von allen ost­eu­ro­päischen Agrarreformen – mit Ausnahme der sowje­ti­schen – genannt“ (G. v. Rauch, S. 82).

Bemerkenswert ist noch, daß in Lettland wie auch in Estland die Teilnehmer am Freiheitskrieg bei der Landzuteilung be­vorzugt bedacht werden sollten. Im Gegensatz zu Estland, in dem keine nationale Differenzierung vorgenommen wurde, d.h. Deutschbalten wie auch Kriegsteilnehmer aus Deutsch­land konnten einen Antrag stellen, beschloß man in Lettland in einem besonderen Gesetz vom Jahre 1929, die Angehörigen der Baltischen Landeswehr von der bevorzugten Landzutei­lung auszuschließen. In der Baltischen Landeswehr waren zahl­rei­che Deutschbalten, die das Land, ihre Heimat, gegen die Bol´-

ševiki verteidigt hatten. Aufgrund dieses Gesetzes von 1929 trat der deutsche Justizminister Bernhard Berent von seinem Posten zurück und stellte ihn zur Verfügung. Dies zeigt, wie lange Zeit noch nach der Bodenreform von 1920 um deren Folgen gerungen wurde. Im Ergebnis befanden sich nach der Agrarreform in Lettland 35 % des Bodens, haupt­sächlich Wald, in den Händen des Staates. 39,3 % entfielen auf die alten Bauernhöfe, die aufgrund der Maßnahmen der livländischen Ritterschaft in den 40er Jahren des 19. Jahrhun­derts entstanden waren. 22,2 %, d.h. 146.306 Hektar entfielen auf die Neu­sied­ler.

Bei allem ist bemerkenswert, in wie starkem Maße die letti­sche Landwirtschaft auf die alte livländische Gutsstruktur zu­rückgriff. Im besonderen Maße wurde, wie es auch heute ge­würdigt wird, die weite Tätigkeit der livländischen ökonomi­schen Societät, im Jahre 1792 gegründet, wieder aufgegriffen, die in Praxis und Theorie die gesamte Landwirtschaft des al­ten Livlands gleichsam als Landwirtschaftskammer befruchtet hat. So gelang es der lettischen Landwirtschaft, die Produktion nach der Umstrukturierung allmählich zu erhöhen und die Erträge zu steigern. So wuchs z.B. der Bestand an Rindvieh von 912.000 im Jahre 1913 auf 1.278.000 (1939) an, der But­terertrag pro Kuh von 108 kg auf 130 kg jährlich (G. v. Rauch, S. 83).

Zieht man nach Auflösung der UdSSR und der neuen Sou­ve­rä­nität des lettischen Staates heute die Integrierung Lettlands in den westeuro­päischen Bereich in Betracht, ist diese Agrarre­form vor dem historischen Hintergrund lettischerseits ver­ständ­lich, doch gleichsam für die zukünftige Entwicklung zu rela­ti­vie­­ren. In Anbetracht einer allgemeinen Europäi­sie­rung der Land­­wirtschaft, einer politischen Integration des let­ti­schen Staa­­tes in die europäische Gemeinschaft, wird man auch die­se Maß­nahmen zu überdenken haben, allein schon aus rein wirt­­schaftlichen Gründen, da kleine Betriebe wenig Chancen ha­ben zu überleben. Das gilt für Lettland wie entsprechend auch für Estland, für das gerade in dem jüngst, 1994, erschienenen Buch von T. Rosenberg festgestellt wird: „1925 gab es in Est­land nur 346 Wirtschaften, die mehr als 120 ha landwirt­schaftliche Nutzfläche mit insgesamt 148.688 ha Gesamtflä­che hatten. Auch in den folgenden Jahren setzten sich, obwohl sehr langsam, der zahlenmäßige Rückgang dieser Kleingüter (Groß­ge­sinde) und die Verringerung ihres Grundbesitzes fort“. (Ro­sen­­­berg, S. 301). Der Autor scheint das positiv zu sehen, denn zuvor sagt er: „Bis 1924 konnte man den größeren Teil von Gütern zerstückeln und als Neuansiedlerhöfe oder Zu­schnit­te den Neuansiedlern austeilen.“ (Rosenberg,  S. 300)

Eine Änderung trat in Lettland wie in Estland ein, als mit ih­rer Sowjetisierung nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge der Kollektivierung wieder staatliche Großbetriebe eingerichtet wurden – freilich nun nach sowjetischem Vorbild als Sowcho­sen und Kolchosen. Die Gefahr besteht, daß heute diese so­wjetischen Großbetriebe gleichgesetzt werden mit den Gutsbe­trieben früherer Zeiten, unter Auslassung des historischen Tat­be­standes, daß das Eigentum und damit die Verantwortung und zugleich die wirtschaftlichen Erfolge unter den alten Guts­strukturen nichts, aber auch gar nichts gemein haben mit den sowjetischen Staatsbetrieben und Kolchosen. Die Boden­reform von 1920 war vielleicht vom damaligen Standpunkt der letti­schen Regierung eine Notwendigkeit, es bleiben je­doch die ausgeführten grundsätzlichen Vorbehalte.

Lit.: Georg von Rauch: Geschichte der baltischen Staaten. Stuttgart 1970. – Hans von Rimscha: Die Umsiedlung der Deutschbalten aus Lettland im Jahre 1939. Hannover o.J. – Arved Frhr. von Taube: Die Deutschbalten. Lüneburg 1991. – Die Güterenteignung in Estland 1919. Ein Memorandum über die Bedeutung des Eigentums von Gustav v. Stryk aus dem Jahre 1922, hg. v. Hubertus Neuschäffer. Plön 1993. – Tiit Rosenberg: Eesti moisad. Tallinn 1994.

Bild: Tagung der verfassungsgebenden Versammlung Estlands, hier Eröffnungssitzung am 23. April 1919 / Quelle: Wikipedia. Gemeinfrei.

Hubertus Neuschäffer