Ereignis vom 1. Januar 1224

Das Andreanum, der „Goldenen Freibrief“ der Siebenbürger Sachsen

Andreas II. von Ungarn und seine Ehefrau Gertrud von Andechs-Meranien (Landgrafenpsalter, 1211–1213)

Gegen Ende des Jahres 1224 stellte der ungarische König Andreas II. für seine “getreuen Gastsiedler, die Deutschen jenseits des Waldes (fideles hospites nostri Theuthonici Ultrasilvani)” eine mit seinem doppelten Siegel bekräftigte Urkunde aus, die die Empfänger auch als ihren “Goldenen Freibrief” bezeichnen. Zu Recht wird sie als “das für die Siebenbürger Sachsen wichtigste Privileg eingestuft, denn es enthält das am besten ausgearbeitete und weitestgehende Siedlerrecht, das westlichen Siedlern in Osteuropa verliehen wurde und stellt das Grundgesetz der Sachsen auf Königsboden für viele Jahrhunderte dar” (Ernst Wagner). Das Andreanum ist die “grundlegende und politisch am meisten nachwirkende Privilegierung deutscher Siedler in Ungarn” (Herbert Helbig und Lorenz Weinrich). Unter welchen Voraussetzungen ist diese Urkunde entstanden, welche sind ihre wichtigsten Aussagen, wie wirkte sie nach?

Siebenbürgen wurde im 10.-12. Jahrhundert stufenweise dem mittelalterlichen Königreich Ungarn einverleibt. Um die wirtschaftliche Erschließung des Gebietes, das reich an Boden-schätzen ist und über die notwendigen Voraussetzungen für Ackerbau, Viehzucht, Handwerk, Handel verfügt, und um die Landesverteidigung zu gewährleisten, wurden auswärtige Fach-leute ebenso gesucht wie Wehrbauern. Sie, als gefragte Gäste (hospites) des Reiches, mussten mit Zusagen geworben werden, die sie anlockten. Verlockend waren im Mittelalter vor allem Grundbesitz – dafür stand der Königsboden (fundus regius) bereit, das Ödland der aufgelassenen Verhausäume, die der Grenzsicherung dienten und nach jeder Gebietserweiterung verschoben wurden – und Privilegien.

Zu diesen Sonderrechten gehörten in jedem Fall jene, über die die Umworbenen bereits in ihrer Heimat verfügten und “in ihren Knochen mitbrachten”, wie man damals sagte. Es mussten aber auch Rechte sein, die darüber hinausgingen, um Menschen dazu zu bewegen, das Risiko der Siedlung in ein Tausende Kilometer entferntes Gebiet auf sich zu nehmen. Vor allem persönliche Freiheit und Freizügigkeit waren damals magische Worte, die eine Standeserhöhung bedeuteten, Sicherheit boten und besseres Fortkommen versprachen. Sie wurden ihnen vom ungarischen Staat zugesagt, und diese Zusagen wurden auch über die Jahrhunderte weitgehend respektiert.

Auf diese Weise ist es zur Zeit des Königs Geisa II. (1141-1162) gelungen, auch Bauern, Handwerker, Kaufleute und niedere Adlige (Ministeriale) aus dem Heiligen Römischen Reich anzuwerben und in der Zips, in der heutigen Slowakei, sowie in Siebenbürgen anzusiedeln. Die ersten Urkunden, die sich auf die Zuwanderer in die östlichen Gebiete des ungarischen Reiches, in das Land jenseits der Wälder (trans- oder ultra-sylvas) der Siebenbürgischen Westgebirge beziehen, bezeichnen diese als Flandrenses (Flandrer), Theutones (Deutsche), Latini (Wallonen) oder Saxones (Sachsen). Der Name Saxones, der viel-leicht weniger auf die Herkunft als auf die Rechtsstellung, nämlich jene der meist sächsischen Bergleute hinweist, hat sich als Gruppenbezeichnung durchgesetzt. Ihr Herkunftsgebiet konnte nicht eindeutig und nicht endgültig bestimmt werden, als eines der wichtigen wird jedoch fast übereinstimmend das moselfränkische angesehen.

Die Zuwanderung dieser “Sachsen” nach Siebenbürgen ist Teil der umfassenden europäischen Bewegung des Landesausbaus, die von den wirtschaftlich besonders entwickelten Gebieten des Kontinents ausging, in denen sich die Bevölkerung sprunghaft vermehrt hatte. Vor allem jüngere Kinder, die durch das geltende Erbrecht benachteiligt waren, nahmen die Chance wahr, Grund und Boden zu erwerben sowie ihre persönliche Freiheit zu bewahren. Ebenso hat die zunehmende Bedrückung der ländlichen Bevölkerung in den Grundherrschaften auch viele Bauern dazu veranlasst, dem Ruf in ein fernes Land zu folgen. Die Ansiedlung erfolgte demnach auf Wunsch und zum Nutzen beider Seiten, auf friedlichem Wege, wohl aufgrund von Verträgen.

Wer diese Verträge für die Siebenbürger Sachsen ausgehandelt hat, kann man nur vermuten, da die Quellen darüber nichts aussagen. Doch ist davon auszugehen, dass sich auch unter den Südostsiedlern eine Personengruppe fand, die – mit den Lokatoren in Schlesien vergleichbar – als Werber und Siedlungsunternehmer auftrat, zwischen dem König und den Kolonisten vermittelte, die Vorrechte aushandelte, das zugewiesene Land verteilte, den Aufbau der neuen Ortschaften überwachte, kampferprobt war, selbst im Siedlungsgebiet ansässig wurde und schließlich seine leitende Funktion bewahrte und festigte, indem sie sich das erbliche Schulzenrecht aneignete und neue Ortschaften gründete. In Siebenbürgen dürften diese Rolle die später so genannten Gräfen (comites vulgo greb) gespielt haben, die im 13.-15. Jahrhundert die erste Führungsschicht der westlichen Siedler gebildet haben. Die Gräfen entstammten wohl der deutschen Ministerialität.

König Andreas II. bezieht sich bei der Ausstellung seines 1224 ausgestellten Privilegs auf die Klagen seiner siebenbürgischen Gastsiedler, “dass sie ihre Freiheit, mit der sie von unserem Großvater, dem allergnädigsten König Geisa, geworben worden waren, vollends einbüßen würden”. Dieser Hinweis hat zu Überlegungen Anlass gegeben, das “Andreanum” sei nur die Bestätigung eines viel älteren “Geysanums”, dessen Beurkundung verlorengegangen sei. Berücksichtigt man indes den Um-stand, dass auch in Schlesien sogenannte Lokationsurkunden nur für Siedlergemeinschaften aus Bayern und Schwaben ausgestellt wurden, sächsische und fränkische Einwanderer sich aber dort auf mündliche, mit Handschlag bekräftigte Abmachungen verlassen haben, und geht man zudem von der vorwiegend mosel-fränkischen Herkunft der Siebenbürger Sachsen aus, kann man mit einiger Sicherheit annehmen, dass Andreas II. eine mit Geisa II. getroffene mündliche Vereinbarung schriftlich fixiert und vielleicht ergänzt hat.

Die Privilegierung ist im Kontext der allgemeinen Entwicklungen im ungarischen Königreich unter Andreas II. (1205-1235) zu betrachten. Zum einen sind die intensiven Beziehungen zum römisch-deutschen Reich zu berücksichtigen, die unter anderem in der Heirat seiner (später heiliggesprochenen) Tochter Elisabeth mit dem Landgrafen von Thüringen ihren Nieder-schlag fanden. Zum anderen ist auf die Finanzlage des Königs hinzuweisen, der sich durch mehrere Feldzüge in Galizien und die Teilnahme am 7. Kreuzzug verausgabt hatte, ausgedehnte Krongüter verschenken musste und deshalb zu Konzessionen an den ungarischen Adel und die sich herausbildenden Stände gezwungen wurde. Diese Konzessionen wurden 1222 in der “Goldenen Bulle”, dem Grundgesetz des mittelalterlichen Ungarn, festgehalten. Darin heißt es auch, dass die “Gäste jedwelcher Nation in der ihnen von Anfang an [bei ihrer Ansiedlung] gewährten Freiheit zu erhalten sind.” Schließlich ist die Vorbereitung der militärischen Aktionen gegen den Deutschen Orden zu nennen, den Andreas 1211 ins Burzenland gerufen hatte, dessen eigenstaatliche Bestrebungen er jedoch, auch wegen zu-nehmender Konflikte mit dem Papsttum, nicht mehr dulden wollte und den er deshalb 1225 vertrieben hat. Der König musste sich wohl auch die Treue der durch Nachbarschaft, Sekundärsiedlung und Herkunft mit den Ordensrittern verbundenen “Sachsen” durch Bestätigung und Verleihung von Freiheiten erkaufen.

Inwieweit die im Andreanum festgehaltenen Vorrechte bereits mit Geisa II. vereinbart worden sind und von Andreas II. nur bestätigt oder auch erweitert wurden, lässt sich aufgrund der heutigen Quellenlage nicht klären. Fest steht jedoch, dass die Siebenbürger Sachsen spätestens seit dem Jahr 1224 im Genuss des ganzen Katalogs der Freiheiten stehen, die das ungarische Recht den westlichen Siedlern als ius Theutonicum zu bieten vermochte: sie durften eine politische Einheit (§ 1) bilden, unter eigener Verwaltung mit selbstgewählten Richtern (§ 2) und mit eigener Gerichtsbarkeit nach ihrem Gewohnheitsrecht (§ 6, 9); es wurde ihnen die Unveräußerlichkeit des verliehenen Grund und Bodens und sogar das Widerstandsrecht gegen etwaige Maßnahmen dieser Art garantiert (§ 12); sie konnten ihre Pfarrer selbst wählen und an diese den Zehnten abführen (§ 5), demnach eine eigenkirchliche Gemeinschaft aufbauen; ihre Pflichten – Abgaben (§ 3), Heeresaufgebot und –folge (§ 4), Gastung (§ 13) – waren genau geregelt, konnten somit nicht willkürlich und zu hoch festgesetzt werden; sie durften Wald und Gewässer frei und genossenschaftlich nutzen (§ 11); es war ihnen gestattet, ein eigenes Siegel zu führen (§ 8), ein Recht, das sonst nur hohen Adligen, Kirchenfürsten und Klöstern zustand; sie erhielten überdies Nutzungsrechte im Wlachen- und Bissenenwald, vermutlich den sog. Siebenrichterwaldungen zwischen den früheren Grenzburgen Talmesch und Salgo (§ 7); wirtschaftlich wurden sie bessergestellt durch Zollfreiheit (§ 14), Marktrecht (§ 15) und Konzessionierung von Schürf-rechten (Bezug von Kleinsalz; § 10).

Über die Jahrhunderte wirksam geworden sind vor allem die persönliche Freiheit, die Gruppenautonomie und die Vorgabe, eine politische Gemeinschaft zu bilden, “ein Volk zu sein” (unus sit populus). Der Geltungsbereich des zunächst nur den Siedlern des sogenannten Altlandes, der Hermannstädter Provinz, gewährten Privilegs wurde stufenweise auf die anderen Gebiete ausgedehnt, die die Sachsen in der Umgebung von Mediasch (Kokelgebiet der “Zwei Stühle”), Kronstadt (Burzenland) und Bistritz (Nösnerland) bewohnten. “Aus dem Andre-anum ist das siebenbürgisch-deutsche Volk erwachsen”, bemerkt Karl Kurt Klein treffend. Aufgrund des gleichen Rechtes, der gleichen wirtschaftlichen und sozialen Interessen sowie des Zusammengehörigkeitsgefühls bildete sich im 15. Jahrhundert die “Sächsische Nationsuniversität” als höchste politische, gerichtliche und administrative Repräsentanz her¬aus. Der Prozeß wurde 1486 mit der Bestätigung des Andreanum für alle Sachsen aus Siebenbürgen durch König Matthias Corvinus abgeschlossen. Das schuf die verfassungsrechtliche Grundlage für die politische und kulturelle Autonomie der Siebenbürger Sachsen bis 1876, als die Nationsuniversität aufgelöst und zur – den Gemeinbesitz verwaltenden – Kulturstiftung umgewandelt und schließlich 1937 vollends zerschlagen wurde.

Das Original dieses in der Literatur als “Goldener Freibrief” oder “Goldene Bulle der Siebenbürger Sachsen”, kurz “Andreanum” bezeichneten Dokuments ist nicht erhalten. Doch ließen sich die Empfänger ihr wichtigstes Privileg und Grundgesetz nach dem Regierungsantritt eines neuen Herrschers regelmäßig bestätigen. So ist sie im Verlauf von drei Jahrhunderten in nicht weniger als 22 Beglaubigungen überliefert, die unter anderen durch die Könige Karl Robert von Anjou (1317), Ludwig der Große (1366), Sigismund von Luxemburg (1387), Matthias Corvinus (1480, 1486), Wladislaus II. (1492, 1493) und Ferdinand I. von Habsburg (1552) sowie durch die siebenbürgischen Fürsten Stephan Báthory (1583) und Gabriel Bethlen (1627) vorgenommen worden sind.

An der Art und Weise, wie ihre im Andreanum bestätigten Freiheiten geachtet wurden, maßen die Siebenbürger Sachsen im Laufe der Jahrhunderte ihre Regierenden. Die völlige Missachtung der Freiheit in der Zeit der kommunistischen Diktatur löste auch die Bande zu dem Staat, in dem sie lebten, erklärt ihren zum Massenexodus führenden Willen, die Freiheit in Deutsch-land zu suchen und zu finden.

Lit.: Herbert Helbig; Lorenz Weinrich: Urkunden und erzählende Quellen zur deutschen Ostsiedlung im Mittelalter. 2. Teil. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1970 (=Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein – Gedächtnisausgabe 26b), S. 22ff. (Edition und Übersetzung der Urkunde S. 536-541). – Wolfgang Kessler (Hg.): Gruppenautonomie in Sieben-bürgen. 500 Jahre siebenbürgisch-sächsische Nationsuniversität. Köln, Wien 1990 (= Siebenbürgisches Archiv 24). – Karl Kurt Klein: Saxonica Septemcastrensia. Forschungen, Reden und Aufsätze aus vier Jahrzehnten zur Geschichte der Deutschen in Siebenbürgen. Marburg 1971 (Hier insbesondere: Terra Syculorum terrae Sebus. Ein Beitrag zur Interpretation des “Goldenen Freibriefs” der Deutschen in Sieben-bürgen, S. 141-160. – Geysanum oder Andreanum. Fragmentarische Betrachtungen zur Frühgeschichte der Deutschen in Siebenbürgen, S. 197-205. – Wer hat uns Siebenbürger Sachsen den “Goldenen Frei-brief” erwirkt? Ein Beitrag zur Interpretation des Andreanums, S. 205-211). – Dietrich Kurze: Zur historischen Einordnung der kirchlichen Bestimmungen des Andreanum, in: Zur Rechts- und Siedlungs-geschichte der Siebenbürger Sachsen. Köln, Wien 1971 (= Siebenbürgisches Archiv 7), S. 133-161. – Georg Eduard Müller: Ist das Andre-anum vom Jahre 1224 eine Fälschung? in: Siebenbürgische Vierteljahrsschrift 58 (1935), S. 112-131. – Thomas Nägler: Die Ansiedlung der Siebenbürger Sachsen. Bukarest: Kriterion Verlag 21992. – Friedrich Teutsch: Die historische und politische Wertung des Andreanischen Freibriefes, in: Archiv des Vereins für siebenbürgische Landes-kunde 42 (1924), S. 21-37. – Urkundenbuch zur Geschichte der Deutschen in Siebenbürgen. 1. Band: 1191-1341, von Franz Zimmermann und Carl Werner. Hermannstadt: In Kommission bei Franz Michaelis 1892, S. 32-35. – Ernst Wagner: Geschichte der Siebenbürger Sachsen. Ein Überblick. Innsbruck 61990, S. 18ff. – Ernst Wagner (Hg.): Quellen zur Geschichte der Siebenbürger Sachsen 1191-1975. Köln, Wien 21981 (= Schriften zur Landeskunde Siebenbürgens 1), S. 15 (mit der im Text zitierten Übersetzung des Andreanum, S. 16-20).

 

Foto: Andreas II. von Ungarn und seine Ehefrau Gertrud von Andechs-Meranien (Landgrafenpsalter, 1211–1213) / Bild: Von User Caro1409 on de.wikipedia – Originally from de.wikipedia; description page is (was) here* 20:56, 10. Dez 2005 [[:de:User:Caro1409|Caro1409]] 260 x 359 (44.874 Bytes)* 20:52, 10. Dez 2005 [[:de:User:Caro1409|Caro1409]] 148 x 205 (9.922 Bytes), Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1226043

 

Konrad Gündisch