Ereignis vom 1. Januar 1561

Das Ende der Selbständigkeit Livlands

Karte Livlands, 1573

Mit dem Namen Livland wurde im Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit das Gebiet des heutigen Estland und Lettland bezeichnet. Dies erklärt sich damit, dass die Deutschen dort am frühesten mit den Liven, die am Unterlauf der Düna siedelten, in näheren Kontakt gekommen waren. Deutsche Kaufleute und Missionare waren seit dem späten 12. Jahrhundert in diesem Gebiet der Liven aktiv, die ebenso wie die Letten und Esten noch heidnischen Glaubensformen anhingen. Im Geiste der Kreuzzugszeit wurden diese Völker und Stämme im Laufe des 13. Jahrhunderts von Deutschen und Dänen unterworfen und missioniert. Eine Unterwerfung mit solchem Ziel war ein in jener Zeit allgemein akzeptiertes Vorgehen.

Wenn man vom dänischen König Waldemar II. absieht, der Nordestland eroberte, erfolgte die Gewinnung Livlands ohne Beteiligung von Kaisern, Königen und Herzögen. Im Wesentlichen waren es norddeutsche Geistliche, Kaufleute und Angehörige des niederen Adels, die das Land auf eigene Initiative für das Christentum gewannen, dort geistliche Kleinstaaten schufen und Städte gründeten – eine imponierende Leistung, die freilich mit einer Katastrophe für die einheimischen Bauernvölker verbunden war, insofern sich unter ihnen bis in die neueste Zeit keine eigenständige Oberschicht herausbilden konnte. Bei den deutschen Herrschaftsbildungen auf livländischem Boden handelte es sich um den Staat des an der Eroberung beteiligten Deutschen Ordens, der die stärkste militärische Kraft im Lande darstellte, ferner um das Erzbistum Riga und die Bistümer Dorpat, Ösel-Wiek und Kurland. Daneben gab es das dänische Herzogtum Estland, das aber 1346 durch Kauf an den Deutschen Orden gelangte. Diese Kleinstaaten bildeten eine Konföderation mit einem gemeinsamen Landtag. Unter den Städten Livlands ragten die bedeutenden hansischen Handelszentren Riga, Reval (Tallinn) und Dorpat (Tartu) hervor.

Von den fernen Päpsten war Livland nur in recht begrenztem Maße abhängig. Ebenso gab es nur eine lockere politische Verbindung mit dem Römisch-Deutschen Reich. Auch gegenüber seinen unmittelbaren Nachbarn dem Großfürstentum Litauen und der Rus vermochte Livland seine Unabhängigkeit zu bewahren. Hinsichtlich der Rus existierte ein Kräftegleichgewicht, solange diese territorial zersplittert war und die Livländer es nur mit den benachbarten Republiken Novgorod und Pleskau zu tun hatten.

Im Hintergrund stieg jedoch das Fürstentum Moskau schon seit der Zeit um 1300 schrittweise zur stärksten Macht in Osteuropa auf. Im Jahre 1478 nahm der Moskauer Großfürst Ivan III. Novgorod ein, womit er zum direkten Nachbarn Livlands wurde. Pleskau wurde erst 1510 dem damit abgerundeten russischen Einheitsstaat einverleibt, doch hatte es schon vorher gegenüber Moskau seine Unabhängigkeit weitgehend eingebüßt. Livland war den Russen nun militärisch unterlegen. Zwar konnte der große Ordensmeister Wolter von Plettenberg 1502 am Smolin-See noch einmal einen Sieg über Moskauer Truppen erringen, der danach andauernde Frieden mit Russland war aber weitgehend dadurch bedingt, dass dessen Hauptgegner das Großfürstentum Litauen war.

Erst seit 1550 gelangte Livland in das Aufmerksamkeitsfeld des Moskauer Herrschers Ivan IV., der seit 1547 den Zarentitel trug und später als „der Schreckliche“ bekannt werden sollte. Eine nicht erfüllte Tributforderung gegenüber dem Bistum Dorpat, für die ganz Livland geradestehen sollte, führte im Januar 1558 zu einem Einfall russisch-tatarischer Truppen in das Land, dem ab Mai ein systematischer Eroberungskrieg folgte.

Die These der älteren Forschung, dass es Ivan im Interesse des russischen Handels um den Erwerb der baltischen Häfen ging, wird heute mit Recht kaum noch vertreten; stattdessen ist festzustellen, dass es dem Zaren auf die Inbesitznahme des Landes ankam, das er bald als sein “Vatererbe“ deklarierte.

Bei dem 1558 begonnenen Livländischen Krieg konnte die russische Seite ein Feldheer von etwa 30.000 Mann zum Einsatz bringen, die Livländer dagegen nur etwa 6.000, den Tross in beiden Fällen nicht mitgerechnet. Zu diesem großen Ungleichgewicht kam hinzu, dass die politische Zersplitterung Livlands den Einsatz der eigenen Kräfte erschwerte ein fürstlicher Einheitsstaat, wie er in Livland zur Zeit Wolters von Plettenberg vorübergehend (um 1526) von vielen, später aber nur noch von wenigen erstrebt worden war, hätte die Verteidigung des Landes erleichtert, ohne aber dessen Unabhängigkeit erhalten zu können.

Angesichts des erfolgreichen russischen Vordringens wandten sich die Livländer um Hilfe an Polen-Litauen, Schweden, Dänemark und das Reich, jedoch vergeblich. Für jeden gab es mehr oder weniger triftige Gründe, die Unterstützung zu versagen. Erstaunlich bleibt, dass sich die Livländer gleichwohl bis weit in das Jahr 1561 hinein gegen Moskau behaupten konnten. Allerdings hatte Johann Münchhausen, der Bischof von Ösel-Wiek und Kurland, die Rechte an seinen kleinen Bistümern schon 1559 an den dänischen König Frederik II. verkauft, der damit seinen jüngeren Bruder Magnus von Holstein abfand. Dementsprechend agierte Magnus ab 1560 in Livland als Landesherr. Erheblich belangvoller war aber, dass sich die Ritterschaft der nordestnischen Landschaften Harrien und Wierland sowie die Stadt Reval im Sommer 1561 dem schwedischen König Erik XIV. gegen die Bestätigung ihrer Privilegien unterwarfen. Dieser Schritt war erfolgt, nachdem sich gezeigt hatte, dass der Deutsche Orden nach erlittenen Niederlagen nicht mehr imstande war, ausreichenden Schutz gegen die Russen zu bieten.

Der Abfall Nordestlands bewirkte, dass es nun auch für diejenigen Gebiete Livlands zur Entscheidung kam, die noch nicht von den Russen besetzt oder unter sonstige fremde Herrscher gelangt waren. Der letzte Ordensmeister Gotthard Kettler und der Rigaer Erzbischof Wilhelm von Brandenburg waren schon seit einiger Zeit Anhänger eines engen Zusammengehens mit Polen-Litauen gewesen. Bereits 1559 hatte man Vereinbarungen über Hilfsleistungen für Livland durch die Litauer getroffen, die im Rahmen der polnisch-litauischen Personalunion für die Ostpolitik zuständig waren. Die Litauer, die an Livland auch wegen des für sie wichtigen Dünahandelsweges Interesse hatten, sahen jedoch lange Zeit kühl berechnend zu, wie Livland immer stärker unter russischen Druck geriet. Schließlich kam es aber in der litauischen Hauptstadt Vilnius doch zu abschließenden Verhandlungen, die am 28. November 1561 zur Unterwerfung des Ordensmeisters und des Erzbischofs unter Sigismund II. August, den König von Polen und Großfürsten von Litauen, führten. Auf denselben Tag sind die Pacta Subjectionis und das Privilegiurn Sigismundi Augusti datiert , in denen die ausgehandelten politisch-territorialen Regelungen und die Rechte der Livländer unter der neuen Herrschaft fest gehalten sind. Gotthard Kettler, der sich vergeblich Hoffnungen auf ganz Livland gemacht hatte, erhielt Kurland als erbliches Herzogtum unter der Oberherrschaft Sigisrnunds II. August. Das Ordensgebiet rechts der Düna unterstand dem Letzteren hinfort direkt. Das Herrschaftsgebiet des Erzbischofs blieb zunächst erhalten (nach dem Tode Wilhelms im Jahre 1563 wurde es säkularisiert und 1566 ebenso wie das erwähnte Gebiet rechts der Düna dem Großfürstentum Litauen inkorporiert). Die Privilegien der beiden Unterwerfungsurkunden waren im Hinblick auf die bisherigen Ordensstände, die nun zu Untertanen des polnisch-litauischen Herrschers bzw. des Herzogs Kettler wurden, formuliert, erlangten aber generelle Bedeutung. Dem Adel wurden seine Besitzrechte bestätigt und teilweise erweitert, die freie Religionsausübung gemäß der in Livland akzeptierten Augsburgischen Konfession wurde zugestanden, es galten weiterhin das deutsche Recht und die deutsche Amtssprache, die Besetzung der Ämter sollte nur mit Einheimischen möglich sein. Solche weitgehenden Privilegien wurden gewährt, um die Parteinahme der Livländer für den Aussteller sicher zu stellen und um die einheimischen Kräfte für die Verwaltung und den Schutz des Landes nutzen zu können. An die Stelle des alten, politisch selbständigen Livland, das nicht durch inneren Zerfall, sondern infolge äußerer Gewalt unterging, war also vor allem seit der Unterwerfung großer Gebietsteile unter Schweden und Polen-Litauen ein neu strukturierter Raum getreten, dessen Bestandteile von auswärtigen Mächten abhängig waren (nur Kurland blieb noch längere Zeit ein deutsch beherrschtes Staatswesen, aber auch dies unter fremder Lehnshoheit). Deshalb bildet das Jahr 1561 zweifellos eine tiefe Zäsur in der politischen Geschichte des Baltikums. Es markiert den Untergang der altlivländischen Konföderation. Die angeführte Privilegierung der Livländer durch Sigismund II. August, die sich ähnlich in den Urkunden des dänischen Königs Frederik II. für Ösel-Wiek und Eriks XIV. von Schweden für Nordestland findet, sicherte aber auch eine sehr bedeutsame Kontinuität. Bei der Einnahme des größten Teils des polnisch-litauischen Livland durch Schweden im 17. Jahrhundert und bei der Inbesitznahme der Baltischen Länder durch Russland, das am Ende des Livländischen Krieges leer ausgegangen war im 18. Jahrhundert, erfolgten jeweils prinzipiell gleichartige Privilegienbestätigungen. Der deutschbaltischen Ober- und Mittelschicht im Baltikum ermöglichte dies den Erhalt ihrer Kultur sowie ihrer wirtschaftlich-sozialen und politischenStel lung. Dem entsprachen ihre jahrhundertelang sehr intensiven Beziehungen zu Deutschland, die der kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung des Baltikums zugute kamen.

Lit: Erich Donnert, Der livländische Ordensritterstaat und Russland. Der Livländische Krieg und die baltische Frage in der europäischen Politik 1558-1583, Berlin 1963. Deutsche Geschichte im Osten Europas. Baltische Länder, hrsg. von Gert von Pistohlkors, Berlin 1994. Knut Rasmussen, Die livländische Krise 1554-1561, Kopenhagen 1973. Klaus-Dietrich Staemmler, Preußen und Livland in ihrem Verhältnis zur Krone Polen 1561-1586, Marburg/Lahn 1963.

Abb.: Karte Livlands von Joannes Portantius, 1573 / Quelle: Wikipedia. Gemeinfrei.

Norbert Angermann (OGT 2011,156)