Ereignis vom 1. Januar 1945

Das Ende des Zweiten Weltkriegs: Völkerrecht und Weltpolitik


Namenliste der Gefallenen, deutscher Soldatenfriedhof in Toila, Estland, mit 1.500 deutschen und 600 estnischen Gefallenen des Zweiten Weltkrieges

Es ist unmöglich, die Situation des Jahres 1945 juristisch zu analysieren, ohne an das ungeheure menschliche Leid zu erinnern, das damals offenkundig wurde und ertragen werden mußte. Die Befreiung der Konzentrationslager und die Entdec­kung der Massengräber hatten das ganze Ausmaß der national­sozialistischen Verbrechen geoffenbart. Nicht nur viele Deut­sche, sondern die ganze Welt erkannte erst jetzt, welches Leid die nationalsozialistische Herrschaft über die Menschheit ge­bracht hatte. Gleichzeitig brach aber neues Unrecht und Leid über Millionen von Menschen, vor allem die Deutschen in Ostdeutschland, Ostmitteleuropa und Südosteuropa, herein. Die Flüchtlinge und Vertriebenen aus diesen Gebieten berich­teten nur zögernd von den Schrecknissen, die sich schon im Spätherbst 1944, als zum ersten Mal sowjetische Truppen auf das Reichsgebiet vorgedrungen waren, mit voller Wucht aber seit dem entscheidenden sowjetischen Großangriff, der am 12. Januar 1945 begann, in Ostdeutschland ereignet hatten. Bis heute haben diese Ereignisse in der Geschichtsschreibung nur unzureichende Beachtung gefunden.

Zum Verständnis der rechtlichen und weltpolitischen Aus­gangslage nach der Kapitu­lation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 muß auf die Deutschlandpläne der Alliierten ver­wie­sen werden. An erster Stelle stand der Plan der Zerstüc­ke­lung Deutschlands, der bereits auf der Konferenz von Tehe­ran (1943) so weit gediehen war, daß der amerikanische Präsi­dent Roosevelt konkrete Grenzlinien für 5 Staaten (Preußen, Han­nover und Nordwestdeutschland, Sachsen, Groß-Hessen, Bay­ern/Baden/Württemberg; zur Abtretung war nur Ostpreu­ßen vorgesehen) vorlegen konnte. Auch der 1944 in USA dis­ku­tier­te (und abgelehnte) Morgenthau-Plan, der Deutsch­land in ein Agrarland verwandeln wollte, enthielt einen Tei­lungs­vor­schlag sowie den Vorschlag zur Abtretung von Ost­preußen, des größten Teils Schlesien, des Saarlandes und der Pfalz. Auf der Konferenz von Jal­ta (4. – 11.2.1945) wurde die Einsetzung eines „Zerstückelungsausschusses“ (Dismem­ber­ment Com­mit­tee) beschlossen, der am 7.3.1945 zusammentrat, aber keine Ergebnisse erzielte. Be­reits vorher hatte die seit An­fang 1944 tätige „Europäische Beratende Kommission“ (ein von den Alliierten eingesetztes Experten­gremium zur Behand­lung der nach dem Abschluß der Kampf­handlungen in Europa anste­henden Fragen) im sog. Londoner Protokoll vom 12.9. 1944 die Grenzen der Besatzungszonen entsprechend der Kon­­ferenz von Quebec (11.-16.9.1944) festgelegt. Die Grenze zwischen den westlichen Besatzungszo­nen und der Sowjeti­schen Besat­zungs­zone verlief damals schon so, wie sie bis zum 3.10.1990 zunächst als Zonengrenze und dann als DDR-Staats­grenze bestehen blieb. Alle Reichs­gebiete östlich dieser Linie gehör­ten zur sowjeti­schen Zone. Die Abtrennung der östlich der Oder-Neiße-Linie gelegenen Ge­biete war in dieser Verein­ba­rung nicht vorgesehen. Sie erfolgte im Frühjahr 1945 durch ein­seitige sowjetische Akte, durch die diese Gebiete unter pol­nische Verwaltung gestellt wurden, was im Potsdamer Abkom­men vom 2.8.1945 bestätigt wurde.

Die Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 konnte die Existenz des Völkerrechtssubjekts „Deutsches Reich“ nicht berühren. Auch die bedingungslose Kapitulation ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der die Streitkräfte und das Gebiet be­trifft, aber die Völkerrechtssubjektivität desjenigen Staates, dessen Streitkräfte kapi­tuliert haben, nicht berührt. Die „Berliner Erklärung“ der vier Hauptsiegermächte (Frankreich, Großbritannien, Sowjetunion, USA) vom 5. Juni 1945 bewirk­te die „Übernahme der obersten Regierungsgewalt hinsichtlich Deutschlands“. Doch heißt es in ihr wörtlich: „Die Übernahme zu den vorstehend genannten Zwecken der be­sagten Regie­rungs­gewalt und Befugnisse bewirkt nicht die Annexion Deutschlands“. Die Annexion, d. h. ein Gebietserwerb durch ei­nen einseitigen Akt der Siegermacht, den das klassische Völkerrecht zugelassen hatte, war nach dem 1945 geltenden Völ­ker­­recht nicht mehr zulässig. Das Annexionsverbot war eine Fol­ge des seit dem Briand-Kellogg-Pakt von 1928 geltenden Kriegsverbots. Dies war auch die Rechtsgrundlage dafür, daß in den 1945 eingeleiteten Kriegsverbrecherprozessen (das Sta­tut des In­ternationalen Militärgerichtshofs, auf dessen Grund­la­ge der Nürnberger Prozeß durchgeführt wurde, ist im Lon­do­ner Abkommen vom 8.8.1945 zwischen den vorge­nannten vier Sie­germächten vereinbart worden) auch die Vorbereitung und Füh­rung eines Angriffskrieg zum Anklagepunkt gemacht wer­den konnte. Eine 1945 oder da­nach erklärte Annexion wäre da­her in jedem Fall völkerrechtswidrig gewesen. Die Sieger­mäch­te des Zweiten Weltkriegs bekräftigten aber ausdrücklich, daß sie keine Annexion beabsichtigten. Vielmehr überließen sie im Potsdamer Abkommen die Grenzfestlegung aus­drück­lich ei­ner Friedenskonferenz.

Das Potsdamer Abkommen vom 2.8.1945 war kein völker­rechtlicher Vertrag, sondern das Schlußkommuniqué der Potsdamer Konferenz vom 17.7. bis 2.8.1945. Auf ihr war die Sowjetunion durch Josef Stalin, die USA durch Harry Spencer Truman und Großbritannien bis zum 28.7. durch Winston Chur­­chill und nach den während der Konferenz stattfindenden Unter­­­hauswahlen durch Clement Attlee vertreten. Ihre Unter­schrift konnte die Konferenzmächte politisch binden, aber kei­ne Rechtswirkun­gen für dritte Staaten entfalten. Einen Frie­dens­­vertrag konnte und wollte das sog. Potsdamer Abkommen nicht ersetzen. In 14 Artikeln berichtete es über den Konfe­renz­verlauf, die Einrichtung eines Rates der Außenminister, die Behandlung Deutschlands während der Besetzung, einige Vor­schläge über die Zukunft Öster­reichs und Polens sowie der italienischen Kolonialgebiete, eine Verfahrensrevision bei der Alliierten Kontrollkommission in Rumänien, Bulgarien und Ungarn sowie „militärische Besprechungen“ (womit die Be­endigung des Krieges gegen Japan ge­meint war). Deutschland­fragen wurden speziell in den Artikeln III – VII und XIII be­handelt. An der Spitze steht die Entscheidung, Deutschland während der Besat­zungszeit „als eine wirtschaftliche Einheit zu betrachten“ (Art. III Abs. 14). In Art. VI heißt es: „Die Konfe­renz hat grundsätzlich dem Vorschlag der Sowjetregierung hin­sichtlich der endgültigen Übergabe der Stadt Königsberg und des anliegenden Ge­bietes an die Sowjetunion gemäß der obi­gen Beschreibung zugestimmt, wobei der genaue Grenzverlauf einer Sachverständigenprüfung vorbehalten bleibt.“ Art. XIII trägt die Überschrift: „Ordnungsmäßige Überführung deut­scher Bevölkerungsteile“ und erklärt hinzu: „Die drei Regie­run­gen haben die Frage unter allen Gesichtspunkten beraten und erkennen an, daß die Überführung der deutschen Bevölke­rung oder Bestandteile derselben, die in Polen, Tschechoslo­wakei und Ungarn zurückgeblie­ben sind, nach Deutschland durchgeführt werden muß. Sie stimmen darin überein, daß jede derartige Überführung, die stattfinden wird, in ordnungsmäßi­ger und hu­maner Weise erfolgen soll.“ Da jedoch keine Klar­heit über die Grenzfestlegung, die Zahl der in den genannten Staaten zurückgebliebenen Deutschen und die Möglich­keit ihrer Aufnahme in den übrigen Besatzungszonen bestand, ver­such­ten die bei­den Westmächte vor allem, die „wilden Austreibungen“, die in der ÈSR und in Polen bereits im Gange waren, aufzuhalten. So lautet der letzte Satz von Art. XIII des Pots­damer Abkommens: „Die Tschechoslowakische Regie­rung, die Pol­nische Provi­sorische Regierung und der Alliierte Kon­troll­rat in Ungarn werden gleichzeitig von obigem in Kennt­nis gesetzt und ersucht werden, inzwischen weitere Ausweisungen der deutschen Bevölkerung einzustellen, bis die be­trof­fenen Regierungen die Berichte ihrer Vertreter an den Kontrollausschuß geprüft haben.“ Bezüglich der West­grenze Polens bestimmte Art. IX: „Die Häupter der drei Regierungen bekräf­ti­gen Ihre Auffassung, daß die endgültige Festlegung der West­gren­ze Polens bis zu der Friedenskonferenz zurückgestellt werden soll.“ Dementsprechend wurden in kartographischen Wer­ken die Gebiete östlich der im Potsdamer Abkommen nicht ganz genau definierten sog. Oder-Neiße-Linie (es heißt in Art. IX: Linie, die von der Ostsee unmittel­bar west­lich von Swi­ne­mün­de und von dort die Oder entlang bis zur Einmündung der west­­lichen Neiße und die westliche Neiße entlang bis zur tsche­choslowakischen Grenze ver­läuft“) als „zur Zeit unter pol­­nischer Verwaltung“ bzw. „zur Zeit unter sowjetischer Ver­wal­tung“ stehend bezeichnet. Im Völkerrecht wird die sog. Ver­waltungszession von der Gebietszession, d. h. der ver­trag­li­chen Gebietsabtretung, unterschieden. Im Mos­kauer Vertrag vom 12.8.1970 (zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion) und im Warschauer Vertrag vom 7.12. 1970 (zwischen der Bundes­republik Deutschland und der Volks­­re­publik Polen) wurde die Oder-Neiße-Linie aus­drück­lich als Staatsgrenze anerkannt. Das wiedervereinigte Deutsch­land bekräftigte dies im „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ vom 12.9. 1990. Die Frage der Rechtsgrundlage für den Wechsel der Gebietshoheit ist dabei offengelassen worden. Die 1945 vor und nach dem Potsdamer Abkommen geschaffenen Tatsachen sind erhalten geblieben und erschweren nach wie vor den Auf­bau einer europäischen Friedensordnung.

Zwar hat sich die Erwartung Stalins, die Millionen entwurzel­ter, völlig verarmter Menschen würden das politische und soziale Gefüge Westdeutschland destabilisieren, nicht erfüllt. Im Gegenteil: Tüchtigkeit und Fleiß der Heimatvertriebenen ha­ben zum Wiederaufbau Westdeutschlands beigetragen, und die Eingliederung der Hei­matvertriebenen wurde zur welthistorischen Friedenstat der Bundesrepublik Deutschland. Aber die Völker und Regierungen der Vertreiberstaaten waren 45 Jahre lang dem psychologischen Druck ausgesetzt, die Vor­gän­ge von 1945 zu rechtfertigen und sich vor vermeintlichem Revanchismus durch das erdrückende Bündnis mit der Sowjet­union zu schützen. Juristisch mußten diese Rechtfertigungs­ver­su­che schei­­tern; denn die Beschlüsse von Jalta und Potsdam sind kei­ne Rechts­grundlage für Vertreibung, Konfiskation, Völ­ker­mord und andere Verletzungen indi­vidueller Rechte. Für das Pots­damer Abkommen hat die Weltorganisation der Völ­ker­rechtler, das Institut de Droit International, bereits 1952 fest­­gestellt, daß es auch als „Umsiedlungsvertrag“ völkerrechtswidrig wäre. Politisch und moralisch aber bietet die Endgültigkeit der damals geschaffenen Verhältnisse einen Anreiz zu Ar­gumentationen, die das Fundament der Völkerrechtsordnung, und damit eines dau­erhaften Friedens, erschüt­tern. Dem­gegenüber ist fest­zu­hal­ten, daß weder der bloße Zeit­ab­lauf noch eine nachträgliche Zustimmung – und erst recht nicht das Verschweigen und Vergessen – das Unrecht zum Recht machen kann. Es geht dabei nicht um staatliche Gebietshoheit und materielle Güter. Über sie können nachträgli­che Ver­einbarun­gen mit völ­ker­recht­lich zulässigem Inhalt ge­schlos­sen werden. Vielmehr geht es um die individuellen und kollektiven Men­schenrechte. Diese sind offenbar 50 Jahre nach Jalta und Potsdam noch genauso gefährdet wie damals, und für die Zukunft wäre nichts verhängnisvoller, als jenen Beschlüssen – bewußt oder unbewußt – Präzedenzwirkung zuzu­schrei­ben.

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Bild: / Quelle:

Otto Kimminich