Es ist unmöglich, die Situation des Jahres 1945 juristisch zu analysieren, ohne an das ungeheure menschliche Leid zu erinnern, das damals offenkundig wurde und ertragen werden mußte. Die Befreiung der Konzentrationslager und die Entdeckung der Massengräber hatten das ganze Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen geoffenbart. Nicht nur viele Deutsche, sondern die ganze Welt erkannte erst jetzt, welches Leid die nationalsozialistische Herrschaft über die Menschheit gebracht hatte. Gleichzeitig brach aber neues Unrecht und Leid über Millionen von Menschen, vor allem die Deutschen in Ostdeutschland, Ostmitteleuropa und Südosteuropa, herein. Die Flüchtlinge und Vertriebenen aus diesen Gebieten berichteten nur zögernd von den Schrecknissen, die sich schon im Spätherbst 1944, als zum ersten Mal sowjetische Truppen auf das Reichsgebiet vorgedrungen waren, mit voller Wucht aber seit dem entscheidenden sowjetischen Großangriff, der am 12. Januar 1945 begann, in Ostdeutschland ereignet hatten. Bis heute haben diese Ereignisse in der Geschichtsschreibung nur unzureichende Beachtung gefunden.
Zum Verständnis der rechtlichen und weltpolitischen Ausgangslage nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 muß auf die Deutschlandpläne der Alliierten verwiesen werden. An erster Stelle stand der Plan der Zerstückelung Deutschlands, der bereits auf der Konferenz von Teheran (1943) so weit gediehen war, daß der amerikanische Präsident Roosevelt konkrete Grenzlinien für 5 Staaten (Preußen, Hannover und Nordwestdeutschland, Sachsen, Groß-Hessen, Bayern/Baden/Württemberg; zur Abtretung war nur Ostpreußen vorgesehen) vorlegen konnte. Auch der 1944 in USA diskutierte (und abgelehnte) Morgenthau-Plan, der Deutschland in ein Agrarland verwandeln wollte, enthielt einen Teilungsvorschlag sowie den Vorschlag zur Abtretung von Ostpreußen, des größten Teils Schlesien, des Saarlandes und der Pfalz. Auf der Konferenz von Jalta (4. – 11.2.1945) wurde die Einsetzung eines „Zerstückelungsausschusses“ (Dismemberment Committee) beschlossen, der am 7.3.1945 zusammentrat, aber keine Ergebnisse erzielte. Bereits vorher hatte die seit Anfang 1944 tätige „Europäische Beratende Kommission“ (ein von den Alliierten eingesetztes Expertengremium zur Behandlung der nach dem Abschluß der Kampfhandlungen in Europa anstehenden Fragen) im sog. Londoner Protokoll vom 12.9. 1944 die Grenzen der Besatzungszonen entsprechend der Konferenz von Quebec (11.-16.9.1944) festgelegt. Die Grenze zwischen den westlichen Besatzungszonen und der Sowjetischen Besatzungszone verlief damals schon so, wie sie bis zum 3.10.1990 zunächst als Zonengrenze und dann als DDR-Staatsgrenze bestehen blieb. Alle Reichsgebiete östlich dieser Linie gehörten zur sowjetischen Zone. Die Abtrennung der östlich der Oder-Neiße-Linie gelegenen Gebiete war in dieser Vereinbarung nicht vorgesehen. Sie erfolgte im Frühjahr 1945 durch einseitige sowjetische Akte, durch die diese Gebiete unter polnische Verwaltung gestellt wurden, was im Potsdamer Abkommen vom 2.8.1945 bestätigt wurde.
Die Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 konnte die Existenz des Völkerrechtssubjekts „Deutsches Reich“ nicht berühren. Auch die bedingungslose Kapitulation ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der die Streitkräfte und das Gebiet betrifft, aber die Völkerrechtssubjektivität desjenigen Staates, dessen Streitkräfte kapituliert haben, nicht berührt. Die „Berliner Erklärung“ der vier Hauptsiegermächte (Frankreich, Großbritannien, Sowjetunion, USA) vom 5. Juni 1945 bewirkte die „Übernahme der obersten Regierungsgewalt hinsichtlich Deutschlands“. Doch heißt es in ihr wörtlich: „Die Übernahme zu den vorstehend genannten Zwecken der besagten Regierungsgewalt und Befugnisse bewirkt nicht die Annexion Deutschlands“. Die Annexion, d. h. ein Gebietserwerb durch einen einseitigen Akt der Siegermacht, den das klassische Völkerrecht zugelassen hatte, war nach dem 1945 geltenden Völkerrecht nicht mehr zulässig. Das Annexionsverbot war eine Folge des seit dem Briand-Kellogg-Pakt von 1928 geltenden Kriegsverbots. Dies war auch die Rechtsgrundlage dafür, daß in den 1945 eingeleiteten Kriegsverbrecherprozessen (das Statut des Internationalen Militärgerichtshofs, auf dessen Grundlage der Nürnberger Prozeß durchgeführt wurde, ist im Londoner Abkommen vom 8.8.1945 zwischen den vorgenannten vier Siegermächten vereinbart worden) auch die Vorbereitung und Führung eines Angriffskrieg zum Anklagepunkt gemacht werden konnte. Eine 1945 oder danach erklärte Annexion wäre daher in jedem Fall völkerrechtswidrig gewesen. Die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs bekräftigten aber ausdrücklich, daß sie keine Annexion beabsichtigten. Vielmehr überließen sie im Potsdamer Abkommen die Grenzfestlegung ausdrücklich einer Friedenskonferenz.
Das Potsdamer Abkommen vom 2.8.1945 war kein völkerrechtlicher Vertrag, sondern das Schlußkommuniqué der Potsdamer Konferenz vom 17.7. bis 2.8.1945. Auf ihr war die Sowjetunion durch Josef Stalin, die USA durch Harry Spencer Truman und Großbritannien bis zum 28.7. durch Winston Churchill und nach den während der Konferenz stattfindenden Unterhauswahlen durch Clement Attlee vertreten. Ihre Unterschrift konnte die Konferenzmächte politisch binden, aber keine Rechtswirkungen für dritte Staaten entfalten. Einen Friedensvertrag konnte und wollte das sog. Potsdamer Abkommen nicht ersetzen. In 14 Artikeln berichtete es über den Konferenzverlauf, die Einrichtung eines Rates der Außenminister, die Behandlung Deutschlands während der Besetzung, einige Vorschläge über die Zukunft Österreichs und Polens sowie der italienischen Kolonialgebiete, eine Verfahrensrevision bei der Alliierten Kontrollkommission in Rumänien, Bulgarien und Ungarn sowie „militärische Besprechungen“ (womit die Beendigung des Krieges gegen Japan gemeint war). Deutschlandfragen wurden speziell in den Artikeln III – VII und XIII behandelt. An der Spitze steht die Entscheidung, Deutschland während der Besatzungszeit „als eine wirtschaftliche Einheit zu betrachten“ (Art. III Abs. 14). In Art. VI heißt es: „Die Konferenz hat grundsätzlich dem Vorschlag der Sowjetregierung hinsichtlich der endgültigen Übergabe der Stadt Königsberg und des anliegenden Gebietes an die Sowjetunion gemäß der obigen Beschreibung zugestimmt, wobei der genaue Grenzverlauf einer Sachverständigenprüfung vorbehalten bleibt.“ Art. XIII trägt die Überschrift: „Ordnungsmäßige Überführung deutscher Bevölkerungsteile“ und erklärt hinzu: „Die drei Regierungen haben die Frage unter allen Gesichtspunkten beraten und erkennen an, daß die Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland durchgeführt werden muß. Sie stimmen darin überein, daß jede derartige Überführung, die stattfinden wird, in ordnungsmäßiger und humaner Weise erfolgen soll.“ Da jedoch keine Klarheit über die Grenzfestlegung, die Zahl der in den genannten Staaten zurückgebliebenen Deutschen und die Möglichkeit ihrer Aufnahme in den übrigen Besatzungszonen bestand, versuchten die beiden Westmächte vor allem, die „wilden Austreibungen“, die in der ÈSR und in Polen bereits im Gange waren, aufzuhalten. So lautet der letzte Satz von Art. XIII des Potsdamer Abkommens: „Die Tschechoslowakische Regierung, die Polnische Provisorische Regierung und der Alliierte Kontrollrat in Ungarn werden gleichzeitig von obigem in Kenntnis gesetzt und ersucht werden, inzwischen weitere Ausweisungen der deutschen Bevölkerung einzustellen, bis die betroffenen Regierungen die Berichte ihrer Vertreter an den Kontrollausschuß geprüft haben.“ Bezüglich der Westgrenze Polens bestimmte Art. IX: „Die Häupter der drei Regierungen bekräftigen Ihre Auffassung, daß die endgültige Festlegung der Westgrenze Polens bis zu der Friedenskonferenz zurückgestellt werden soll.“ Dementsprechend wurden in kartographischen Werken die Gebiete östlich der im Potsdamer Abkommen nicht ganz genau definierten sog. Oder-Neiße-Linie (es heißt in Art. IX: Linie, die von der Ostsee unmittelbar westlich von Swinemünde und von dort die Oder entlang bis zur Einmündung der westlichen Neiße und die westliche Neiße entlang bis zur tschechoslowakischen Grenze verläuft“) als „zur Zeit unter polnischer Verwaltung“ bzw. „zur Zeit unter sowjetischer Verwaltung“ stehend bezeichnet. Im Völkerrecht wird die sog. Verwaltungszession von der Gebietszession, d. h. der vertraglichen Gebietsabtretung, unterschieden. Im Moskauer Vertrag vom 12.8.1970 (zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion) und im Warschauer Vertrag vom 7.12. 1970 (zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen) wurde die Oder-Neiße-Linie ausdrücklich als Staatsgrenze anerkannt. Das wiedervereinigte Deutschland bekräftigte dies im „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ vom 12.9. 1990. Die Frage der Rechtsgrundlage für den Wechsel der Gebietshoheit ist dabei offengelassen worden. Die 1945 vor und nach dem Potsdamer Abkommen geschaffenen Tatsachen sind erhalten geblieben und erschweren nach wie vor den Aufbau einer europäischen Friedensordnung.
Zwar hat sich die Erwartung Stalins, die Millionen entwurzelter, völlig verarmter Menschen würden das politische und soziale Gefüge Westdeutschland destabilisieren, nicht erfüllt. Im Gegenteil: Tüchtigkeit und Fleiß der Heimatvertriebenen haben zum Wiederaufbau Westdeutschlands beigetragen, und die Eingliederung der Heimatvertriebenen wurde zur welthistorischen Friedenstat der Bundesrepublik Deutschland. Aber die Völker und Regierungen der Vertreiberstaaten waren 45 Jahre lang dem psychologischen Druck ausgesetzt, die Vorgänge von 1945 zu rechtfertigen und sich vor vermeintlichem Revanchismus durch das erdrückende Bündnis mit der Sowjetunion zu schützen. Juristisch mußten diese Rechtfertigungsversuche scheitern; denn die Beschlüsse von Jalta und Potsdam sind keine Rechtsgrundlage für Vertreibung, Konfiskation, Völkermord und andere Verletzungen individueller Rechte. Für das Potsdamer Abkommen hat die Weltorganisation der Völkerrechtler, das Institut de Droit International, bereits 1952 festgestellt, daß es auch als „Umsiedlungsvertrag“ völkerrechtswidrig wäre. Politisch und moralisch aber bietet die Endgültigkeit der damals geschaffenen Verhältnisse einen Anreiz zu Argumentationen, die das Fundament der Völkerrechtsordnung, und damit eines dauerhaften Friedens, erschüttern. Demgegenüber ist festzuhalten, daß weder der bloße Zeitablauf noch eine nachträgliche Zustimmung – und erst recht nicht das Verschweigen und Vergessen – das Unrecht zum Recht machen kann. Es geht dabei nicht um staatliche Gebietshoheit und materielle Güter. Über sie können nachträgliche Vereinbarungen mit völkerrechtlich zulässigem Inhalt geschlossen werden. Vielmehr geht es um die individuellen und kollektiven Menschenrechte. Diese sind offenbar 50 Jahre nach Jalta und Potsdam noch genauso gefährdet wie damals, und für die Zukunft wäre nichts verhängnisvoller, als jenen Beschlüssen – bewußt oder unbewußt – Präzedenzwirkung zuzuschreiben.
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Bild: / Quelle:
Otto Kimminich