Ereignis vom 1. Januar 1810

Das Preussische Gewerbesteueredikt und die Gewerbefreiheit

Die schlesischen Weber

Die militärische Niederlage gegen Napoleon I. bei Jena und Auerstedt versetzte Preußen zu Beginn des 19. Jahrhunderts in einen ruinösen, nahezu hoffnungslosen Zustand. Durch den Diktatfrieden von Tilsit 1807 hatte es die Hälfte seines Territoriums und seiner Bewohner verloren. Das restliche Staatsgebiet war mit Ausnahme von Ostpreußen, wohin sich König Friedrich Wilhelm III. geflüchtet hatte, von französischen Truppen besetzt und weitenteils verwüstet. Die wirtschaftliche Produktion war nahezu zusammengebrochen. Noch schlimmer stand es um die Staatsfinanzen. Der Unterhalt der Besatzungstruppen, die Beschlagnahmen von Staatsvermögen und -einkünften sowie die erzwungenen Kontributionszahlungen führten das Land an den Abgrund. Die katastrophale Lage begünstigte diejenigen Kräfte, die sich auch schon vor dem Krieg für tiefgreifende innenpolitische Reformen stark gemacht hatten. Ihr Ziel war es, die Verkrustungen des Gemeinwesens, die aus den Regentschaften Friedrich II. und Friedrich Wilhelm II. verblieben waren, in dem Umfang abzulösen, wie sie sich als nicht mehr zeitgemäß und als nicht mehr leistungsfähig erwiesen hatten. Staat, Wirtschaft und Militär sollten effektiver und den Bürgern mehr persönliche Freiheit und politische Mitwirkungsmöglichkeiten gegeben werden. Unter dem Eindruck der Niederlage erwuchs das Reformkonzept auch für den König zu einem unabweisbaren Wiederaufbauprogramm. Mit dem Umbau der Heeresorganisation, vor allem aber durch eine politische Erneuerung von innen galt es, der französischen Suprematie zu trotzen und den Wiederaufstieg Preußens zur Großmacht zu ermöglichen. Die Richtung war freilich vorgezeichnet, eine Orientierung an Frankreich unwiderstehlich. Die aus der französischen Revolution herrührenden Ideen von bürgerlicher Freiheit und rechtlicher Gleichheit aller Menschen waren inzwischen so mächtig und allgemein geworden, dass sie zum leitenden Prinzip einer Reform („von oben“) ohne Revolution werden mussten. Hinzu kam, dass die in den Rheinbundstaaten, zumal in den napoleonischen Modellstaaten seit 1806 durchgeführten Reformen allesamt dem französischen Vorbild folgten. So blieb Preußen letztlich gar nichts anderes übrig, als mit diesen Entwicklungen möglichst Schritt zu halten, wollte es nicht untergehen.

Zu den zentralen Handlungsfeldern gehörten neben der Armee die Staats- und Verwaltungsorganisation, die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik sowie das Bildungswesen. Zu den leitenden Ministern, die mit der Durchführung der Reformen beauftragt wurden, hatte Friedrich Wilhelm (stets in Abhängigkeit von der Zustimmung Napoleons) 1807 zunächst den Reichsfreiherrn vom und zum Stein und sodann nach dessen Entlassung (und der Übergangsregierung des Freiherrn vom Stein zum Altenstein und des Burggrafen zu Dohna-Schlobitten) 1810 den späteren Fürsten Freiherrn von Hardenberg berufen, der den Titel „Staatskanzler“ erhielt. Obwohl die beiden Namensgeber der Stein-Hardenberg’schen Reformen von durchaus unterschiedlichem Charakter waren und auch in der politischen Grundhaltung für abweichende Ansätze standen, fügten sich ihre Initiativen und Maßnahmen zu einem konsistenten Paket, dessen Kernbestandteile auch die Restauration überdauerten.

Im Mittelpunkt der wirtschaftspolitischen Reformen stand die Liberalisierung der preußischen Wirtschaft. Noch weitergehend als in den Rheinbundstaaten sollte in Preußen eine Wirtschaftsordnung geschaffen werden, die auf Freiheit und Wettbewerb beruhte. Mit der Freisetzung aller individuellen Kräfte von den Fesseln überkommener Strukturen in Staat und Gesellschaft suchte man nicht nur dem politisch-moralischen Zeitgeist zu entsprechen, sondern auch ganz unmittelbar die wirtschaftliche Leistungskraft zu steigern und dadurch die Finanznot des Staates zu mildern. Als konzeptioneller Wegweiser dienten die Lehren des ökonomischen Liberalismus des schottischen Nationalökonomen und Moralphilosophen Adam Smith. Sein Werk Der Wohlstand der Nationen (An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations), das noch im Jahr seines ersten Erscheinens 1776 ins Deutsche übersetzt worden war, hatte das von staatlichen Bevormundungen möglichst verschonte, sich in freier Konkurrenz arbeitsteilig am Markt entfaltende menschliche Erwerbsstreben als die Quelle für dynamische Produktivität und wirtschaftliche Prosperität herausgearbeitet. Um diesem klassischen Ansatz einer freien, an der Nachfrage orientierten Marktwirtschaft zu entsprechen, musste die bisherige, in der Tradition des Merkantilismus und der Zunftverfassung stehende Wirtschaftsordnung mit ihren vornehmlich am Wohl der Anbieter interessierten Privilegien und Monopolen überwunden werden; das erforderte den Abbau aller korporativen, diskriminierenden und bürokratischen Hemmnisse der wirtschaftlichen Betätigung.

Frankreich war auf diesen Weg der Neuordnung schon unmittelbar nach der Revolution eingeschwenkt; 1791 hatte es die allgemeine Gewerbefreiheit verkündet und die Zünfte aufgehoben. Das rheinbündische Deutschland folgte dem im Jahre 1809: in den beiden Napoleoniden, dem Großherzogtum Berg und dem Königreich Westphalen. Dort entschieden seither nicht mehr die Zünfte und Gilden über eine Gewerbezulassung, sondern der Staat erteilte ein Gewerbepatent, das gegen Zahlung einer bestimmten Summe, der „Patentsteuer“, erworben werden konnte. In Preußen kam es dazu erst kurz nach dem Amtsantritt von Hardenbergs. Auf sein Wirken hin trat am 2. November 1810 das „Edict über die Einführung der allgemeinen Gewerbesteuer“ vom 28. Oktober 1810 in Kraft (PreußGS 1810, Bl. 79):

 „§ 1 – Ein jeder, welcher in Unsern Staaten, es sei in den Städten, oder auf dem platten Lande, sein bisheriges Gewerbe, es bestehe in Handel, Fabriken, Handwerken, es gründe sich auf eine Wissenschaft oder Kunst, fortsetzen oder ein neues unternehmen will, ist verpflichtet, einen Gewerbeschein darüber zu lösen und die […] angesetzte Steuer zu zahlen. Das schon erlangte Meister-Recht, der Besitz einer Concession befreien nicht von dieser Verbindlichkeit.

  • 2 – Der Gewerbeschein giebt demjenigen, auf dessen Namen er ausgestellt ist, die Befugniß, ein Gewerbe fortzusetzen oder ein neues anzufangen. Eins und das andere ohne Gewerbeschein ist strafbar, und wer sich dessen schuldig macht, verfällt in eine Geldstrafe […].“

Das Edikt zielte, wie auch sein Titel verheißt, vordergründig auf die Einführung einer neuen Steuer. Bedeutsamer ist jedoch der Tatbestand, an den sich die Steuerlast knüpfte. Fortan war es jedem Bürger erlaubt, ein Gewerbe, welcher Art es auch immer sei, frei auszuüben und nach seiner Wahl zu gründen und die Niederlassung seines Gewerbes selbst zu bestimmen, ohne dabei von den überkommenen Vorgaben und Zwängen der Zünfte oder Gilden abhängig zu sein. Nötig waren allein ein Gewerbeschein, der gegen eine Gebühr zu lösen war, und die jährliche Zahlung einer Gewerbesteuer, durch die der Gewerbeschein erneuert wurde. Mit der Liberalisierung der Gewerbetätigkeit verband sich zwar zuvörderst die Erwartung, über die Freisetzung einer dynamischen Konkurrenzwirtschaft ein höheres Gewerbesteueraufkommen zu erzielen; daher konn­ten auch die Einzeltarife mit ein bis maximal 200 Talern jährlich, in sechs Klassen gegliedert, recht moderat ausfallen. Doch die Charakterisierung als bloß augenblickliche Maßnahme zur Mehrung der Staatsfinanzen greift zu kurz. Das Edikt begründete die Gewerbefreiheit in Preußen als den Kern einer systemumwälzenden, wirtschaftsliberalen Modernisierungspolitik. Ausdrücklich war von einem neuen „Staatsverwaltungsgrundsatz“ die Rede. An die Stelle des althergebrachten (berufs-)ständischen Denkens trat das Prinzip der gleichen Freiheit aller, verstanden als Maxime einer langfristig wirksamen Veränderung der Gesellschaft und zum Zwecke der Förderung des allgemeinen Wohlstands. Zunftverfassung und Zunftzwang wurden vollständig aufgehoben, alle Fabrikationsmonopole und Sonderrechte beseitigt. Damit stand jedem, sowohl „in den Städten“ als auch „auf dem platten Lande“, der Zugang zu fast jeder Berufstätigkeit offen. Berufs- und Gewerbefreiheit, Arbeitnehmerfreizügigkeit, Niederlassungsfreiheit und freier Wett­­bewerb galten jetzt überall. Gleichwohl unterlagen von Anfang an bestimmte Gewerbe weiterhin dem Erfordernis eines Qualifikationsnachweises. Für etwa drei Dutzend Berufe, z.B. für Ärzte und Apotheker, Gast- und Schankwirte oder Maurer und Zimmerleute, „bei derem ungeschickten Betriebe gemeine Gefahr obwaltet, oder welche eine öffentliche Beglaubigung oder Unbescholtenheit erfordern“, legte § 21 des Edikts eine Erlaubnispflicht fest.

Der Übergang zur Gewerbefreiheit ist ohne die vorgängige sog. Bauernbefreiung durch das Stein’sche Oktoberedikt vom 9. Oktober 1807 nicht denkbar. Die vollständige Abschaffung der Erbuntertänigkeit (auf den Staatsdomänen bestand sie bereits seit 1804 nicht mehr) hatte die bestehenden spätfeudalen Abhängigkeitsverhältnisse – für die besitzrechtlich gutgestellten Bauern sofort, für alle anderen bis zum Martinitage (11. November) 1810 – beseitigt und für die Zukunft die persönliche Freiheit und Rechtsgleichheit aller bestimmt. Seither standen – ebenfalls im Sinne eines „allgemeinen Verfassungsgrundsatzes“ verstanden – weder der Aufnahme eines Berufs noch dem Erwerb von Grundeigentum irgendwelche Standesgrenzen entgegen. Die nachfolgende Einführung der allgemeinen, von jeglichen Zunftschranken losgelösten Gewerbefreiheit setzte den Abbau der überkommenen Sozialpyramide des Ständestaats (Adel, Bürger, Bauern) fort. Zum reformpolitischen Umfeld gehörten des Weiteren u.a. die Gesindeordnung von 1810, nach der die unterbäuerlichen Dienstverhältnisse auf freie vertragliche Vereinbarungen zu gründen waren, sowie die Regulierungsedikte von 1811 und 1816, mit denen das gutsherrliche Landeigentum gegen die grundsätzliche Pflicht zur Zahlung einer Ablöse neu verteilt wurde; sodann das Gewerbepolizeigesetz von 1811, das einerseits die Gewerbefreiheit weiter festigte, andererseits aber auch die Einschränkungen im Interesse der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verstärkte und einige lukrative adlige Exklusivrechte, wie das Bierbrauen und das Branntweinbrennen, wieder einführte; ferner das Juden-Emanzipationsedikt von 1812 sowie die Steuer- und Zollgesetze der Jahre 1818 ff.

Dass die Durchsetzung der Gewerbefreiheit in einer nachständischen, wirtschaftsliberalen Gesellschaft auf Widerstände treffen musste, war auch für den Staatskanzler voraussehbar. Der Angriff auf ihre herkömmlichen Privilegien löste beim Adel einen „ungeheuren Proteststurm“ (Reinhard Koselleck) aus. Auch das mittlere und kleinere Stadtbürgertum sah sich als Träger des alten, zunftgebundenen Handwerks durch das Vordringen der in der Stadt wie auf dem Land nur mit Gewerbeschein auftretenden Anbieter (sog. Patentmeister) existentiell bedroht und lehnte die Gewerbefreiheit mit Entschiedenheit ab. Doch waren die Zünfte (wegen drohender Entschädigungsforderungen) nicht abgeschafft worden. Die Möglichkeit der freiwilligen Mitgliedschaft erhielt ihnen zunächst noch ihre faktische Bedeutung und bewahrte für eine Zeitlang eine legale Konkurrenz zwischen zünftigen und unzünftigen Gewerbetreibenden. Auch die elastische und öffentliche, oftmals als opportunistisch kritisierte Politik Hardenbergs, die manche adelsfreundliche Konzessionen einging, trug dazu bei, dass sich die Gewerbefreiheit in Preußen im Endeffekt nachhaltiger etablierte als in den anderen deutschen Staaten. Das bedeutete freilich zugleich, dass der realpolitische Erfolg der Gewerbereform zunächst auf sich warten ließ. Die Hoffnung auf eine allgemein belebende Konkurrenz und breiteren Wohlstand erfüllte sich erst allmählich. Etwa zehn Jahre später war jedoch die Zahl der unzünftigen Gewerbetreibenden wie auch der nicht selbstständigen Erwerbsverhältnisse zumal im ländlichen Raum deutlich gestiegen. Vor allem aber gehörte die Gewerbefreiheit zu den rechtlichen Voraussetzungen des großgewerblichen Unternehmertums. Sie lieferte damit die Grundlage für den rasanten indus­triellen Aufschwung Preußens seit Mitte der 1830er Jahre. Zu einer einheitlichen Geltung der Gewerbefreiheit für den nach 1815 erweiterten Gesamtstaat kam es allerdings erst durch die Gewerbeordnung von 1845; das Gewerbesteueredikt von 1810 bestimmte bis dahin die Rechtslage nur in den Ostprovinzen.

Unbeschadet der ökonomischen Erfolge führte die Reformgesetzgebung aber auch zu sozialen Folgeproblemen. Nicht jeder war der Realität des „befreiten“ Wirtschaftslebens gewachsen. Indem die Gewerbefreiheit den Konkurrenzkampf, zudem über die Grenzen zwischen Stadt und Land hinweg, verstärkte, erzwang sie eine Modernisierung und Rationalisierung der Produktionsweisen. Das damit begünstigte Vordringen einer kapitalistisch organisierten Erwerbswirtschaft trug kehrseitig dazu bei, dass sich die Lage des selbstständigen Kleingewerbes und Einzelhandwerks verschlechterte und die Zahl der abhängig Beschäftigten (Gesellen, Gehilfen, Lohnarbeiter) beständig wuchs. Vor allem in strukturschwachen Sektoren, wie in Teilen des Handwerks oder im protoindustriellen Textilgewerbe, setzte eine zunehmende Verarmung ein. Hinzu kam, dass die Regulierungsedikte mit der durch sie bewirkten Ausweitung des landadeligen Grundbesitzes das Entstehen einer besitzlosen ländlichen Unterschicht (Landarbeiter) befördert hatten. Beide Entwicklungen verschärften die mit der Frühindustrialisierung auftretende soziale Frage und trieben die Randexistenzen der bürgerlichen Erwerbsgesellschaft in die politische Krise des Vormärz.

Dort trafen sie zwar auf jene altkonservativen Kräfte, die eine Rückkehr zu den Privilegien der berufsständischen Ordnung reklamierten. Gleichwohl hat sich das Bekenntnis zur Gewerbefreiheit über die restaurative Wende 1819/20 und die Revolution von 1848 erhalten. Was mit dem Gewerbesteueredikt 1810 seinen Anfang nahm, verwarf die lähmende Bevormundung des Merkantilismus und erwies sich als „Eckpfeiler der Rechtsbasis für die neue, sich selbstregulierende, marktkonforme Industriewirtschaft, die auf dem Wettbewerb selbständig geleiteter Privatbetriebe beruhte“ (Hans-Ulrich Wehler). 1869 fand die Garantie schließlich Eingang in die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes; ab 1873 galt sie als Reichsgesetz im gesamten Deutschen Reich. Hier hat unser heutiges Gewerberecht, im Einklang mit den politischen Grundsätzen des liberalen Rechtsstaats, seine historischen Wurzeln.

Lit.: Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band I: Reform und Restauration 1789 bis 1830, Nachdruck der 2. Aufl., 1975, S. 183ff., 200ff. – Reinhard Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791-1848, 3. Aufl. 1981, S. 588ff. – Barbara Vogel, Allgemeine Gewerbefreiheit. Die Reform des preußischen Staatskanzlers Hardenberg (1810-1820), 1983. – Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Erster Band: 1700-1815, 1987, S. 397ff.

Bild: Die schlesischen Weber (Gemälde Carl Wilhelm Hübner, 1846) / Quelle: Wikipedia. Gemeinfrei.

Hans-Detlef Horn (OGT 2010, 304)