Im 16. Jahrhundert nahm ein großer Teil der österreichischen Bevölkerung die Reformation an, und Österreich wurde fast ein evangelisches Land. Dann folgte die Zeit der Gegenreformation, eine Epoche der harten Protestantenverfolgung. Erinnert sei an die Vertreibung von 26.000 Evangelischen durch den Erzbischof von Salzburg im Jahre 1731. Den Protestanten wurden alle Rechte entzogen, die Kirchen enteignet, die Prediger ausgewiesen, viele Menschen mit Gewalt gezwungen, zum katholischen Glauben überzutreten. Verfolgungen und Zwangsumsiedlungen nach Siebenbürgen oder Ungarn kamen noch unter der Kaiserin Maria-Theresia vor. Die Habsburger unterstützten alle Bestrebungen, die zum Katholizismus führten, das österreichische Herrscherhaus fühlte sich als von Gottes Gnaden zum Schirmherrn des katholischen Glaubens berufen, die Einheit von Thron und Altar war perfekt.
Noch rigoroser als in Österreich wütete die Gegenreformation im Königreich Polen. Alle Evangelischen wurden aus dem öffentlichen Dienst entfernt. 1724 folgte das Thorner Blutgericht: Das Warschauer Hofgericht verurteilte damals den Thorner Bürgermeister Johann Gottfried Rösner und 10 Bürger zum Tode. Dieses Urteil löste in ganz Europa helle Empörung aus. Die politische Folge war, daß sich nun auch Rußland mit den protestantischen Mächten verband, um die gleichfalls unterdrückten Orthodoxen in Polen zu schützen. Schließlich kam es unter dem Druck russischer Bajonette 1768 zum Warschauer Traktat zwischen der Zarin und den Königen von Preußen, England, Dänemark und Schweden auf der einen und dem König von Polen auf der anderen Seite. Der Warschauer Traktat gewährte – unter Aufrechterhaltung des Katholizismus als Staatsreligion – den ,Dissidenten‘ bürgerliche Gleichberechtigung, freie Religionsausübung, innerkirchliche Autonomie und Unabhängigkeit vom katholischen Klerus. Sie sollten das Recht haben, Kirchen mit Türmen und Glocken zu bauen, Schulen, Wohltätigkeitseinrichtungen zu unterhalten, sich eigene Kirchenordnungen zu geben und Synoden abzuhalten. Von der katholischen Gerichtsbarkeit sollten sie frei sein, auch von der Entrichtung von Stolgebühren an die katholische Geistlichkeit.
Dieser Traktat hatte in der neu entstandenen Evangelischen Kirche Galiziens bis zum Protestantenpatent im Jahre 1861 eine große Bedeutung, weil er den Evangelischen größere Rechte und Freiheiten als das josephinische Toleranzpatent zusicherte. Darum berief sich die Kirchenleitung immer wieder darauf: Im Artikel V der Abtretungsakte Galiziens an Österreich vom 18. September 1773 hatte sich nämlich Österreich ausdrücklich zur Übernahme dieser Rechte für die Protestanten verpflichtet. Die katholische Kirche blieb wohl Staatsreligion, aber sie verlor das Recht, sich in die inneren Angelegenheiten der evangelischen Kirche einzumischen.
Schon vorher hatten viele Herrscher erkannt, daß es von wirtschaftlichem Vorteil für ihre Länder sei, deutsche Handwerker und Gewerbetreibende anzuwerben und Bauern anzusiedeln. In Rußland nahm sich Katharina II. ihren Vorgänger Peter d. Gr. zum Vorbild. Sie orientierte sich am Manifest Peters I. von 1702, in dem er den damals aus Preußen und Holland Angeworbenen Freiheit der Religion und den Bau evangelischer Kirchen zusagte, und sicherte ihren Ansiedlern 1763 gleichfalls freie Religionsausübung sowie das Recht zur Errichtung von Kirchen mit Glockentürmen zu. Katharinas Manifest fand in Deutschland ein breites Echo. Man schätzt, daß damals bis zum Jahre 1800 etwa 40.000 Deutsche nach Polen – in das spätere Kongreßpolen – und fast 150.000 nach Rußland ausgewandert sind. In ähnlicher Weise hatte auch Preußen mit bestem Erfolg seine Gebiete besiedelt und fruchtbar gemacht. Es hatte ja mit der Ansiedlung der vertriebenen Hugenotten, Salzburger und Kärntner gute Erfahrungen gesammelt.
Nun, nach der Angliederung Galiziens an Österreich im Jahre 1772, stand Kaiserin Maria Theresia vor dem gleichen Problem. Die Erkenntnisse, die ihr Sohn von seinen beiden Reisen 1773 durch Galizien mitbrachte, lauteten: Eine Besserung der schlechten Landesverhältnisse sei nur möglich, wenn Österreich deutsche Fachleute nach Galizien berufen würde. Maria Theresia erließ daraufhin 1774 ein Ansiedlungspatent, in dem „Handelsleuten, Künstlern, Fabrikanten, Professionisten und Handwerkern“ günstige Bedingungen für die Niederlassung in Galizien zugesagt wurden. Es erlaubte Katholiken, überall seßhaft zu werden. Evangelische durften sich aber nur in Lemberg und einigen weiteren Städten ansiedeln.
Im Vergleich zum Manifest von Katharina II. waren die gewährten Freiheiten der Österreicherin bescheiden. Kein Wunder, daß ihre Bemühungen nur geringen Erfolg hatten. Joseph II., dessen weitergehende Vorstellungen von der Duldung aller religiösen Bekenntnisse, Aufhebung der Leibeigenschaft der Bauern, Verbot der Folter, gleiche Besteuerung von Adel und Bürgertum, streng zentralistische Verwaltung und Rechtsprechung, Auflösung aller nicht karitativ tätigen Klöster, Verbot von Wallfahrten und Prozessionen u. a. von der regierenden Mutter abgelehnt wurden, konnte die ihm notwendig erscheinenden Reformen und die Ansiedlung in Galizien erst nach ihrem Tode 1780 in Angriff nehmen. Am 17. September 1781 gab er sein Ansiedlungspatent bekannt. Darin ist aber im Hauptabschnitt nur von der Ansässigmachung von „Handelsleuten, Künstlern, Professionisten und Handwerkern“ und erst unter Ziffer 10 von „Bauern und Ackerleuten“ die Rede. Auch sie sollten zur Ansiedlung angenommen werden und ein „eigenes Bauernhaus und Stallung nebst Ackerbaugerätschaften, einen angemessenen Bauerngrund unentgeltlich erhalten“, 10 Jahre Kriegsdienstbefreiung, ein Jahrzehnt von allen Steuern und 6 Jahre von „Zug- und Handroboth“ befreit sein. – Dieses Ansiedlungspatent machte den Menschen in Deutschland erst den Weg für die Auswanderung nach Galizien frei.
„Von der Schädlichkeit des Gewissenszwanges“, wie bald darauf in seinem Toleranzpatent zu lesen ist, war Joseph II. schon längst überzeugt, traf aber in diesem Punkt auf den Widerstand seiner Kirche. Auch viele seiner Berater waren skeptisch. Am 13. Oktober 1781 erließ er sein Toleranzpatent. Es erstreckte sich auf alle österreichischen Kronländer. Es sprach nur die Toleranz, also Duldung und nicht die Gleichberechtigung des Protestantismus neben der herrschenden katholischen Kirche aus. Es lautet:
„Wir Joseph der Zweyte, von Gottes Gnaden erwählter Römischer Kaiser, zu allen Zeiten Mehrer des Reiches, König in Germanien, Hungarn und Boheim, Galizien und Lodomerien, Erzherzog zu Österreich, Herzog zu Burgund und Lothringen … Uiberzeugt eines Theils von der Schädlichkeit alles Gewissenzwanges, und anderer Seits von dem grossen Nutzen, der für die Religion, und dem Staat, aus einer wahren christlichen Tolleranz entspringet, haben Wir Uns bewogen gefunden den augspurgischen, und helvetischen Religions-Verwandten … ein ihrer Religion gemäßes Privat-Exercitium allenthalben zu gestatten, ohne Rücksicht, ob selbes jemal gebräuchig, oder eingeführt gewesen seye, oder nicht. Der katholischen Religion allein soll der Vorzug des öffentlichen Religions-Exercitii verbleiben, denen beeden protestantischen Religionen aber so, wie der schon bestehenden nicht unirt Griechischen aller Orten … In Ansehen des Bethauses befehlen Wir ausdrücklich, daß, wo es nicht schon anders ist, solches kein Geläut, keine Glocken, Thürme, und keinen öffentlichen Eingang von der Gasse, so eine Kirche vorstelle, haben, sonst aber wie, und von welchen Materialien sie es bauen wollen, ihnen freystehen, auch alle Administrirung ihrer Sakramenten, und Ausübung des Gottesdienstes sowohl in dem Ort selbst, als auch deren Uiberbringung zu der Kranken in den dazu gehörigen Filialen, dann die öffentlichen Begräbnisse mit Begleitung ihres Geistlichen vollkommen erlaubet seyn solle …“
Ferner erhalten die Akatholiken das Recht, ihre eigenen Schulmeister zu bestellen und den Pastor auszuwählen. Fortan sind sie zum Häuser- und Gütererwerb, zu Bürger- und Meisterrecht, zu akademischen Würden und bürgerlichen Ämtern zuzulassen. Joseph II. genehmigte den Protestanten somit das Recht zur Ausübung ihres Glaubens. Ihnen wurde die Bildung von Gemeinden gestattet, wenn sich hundert Familien zusammen fanden. Bethäuser durften gebaut werden, allerdings ohne Glocken und ohne Türme, und sie durften nicht an der Straße stehen. Sie durften auf eigene Kosten den Pfarrer und Lehrer anstellen, Schulen bauen, auch ihre Toten durch ihre eigenen Geistlichen beerdigen lassen. In Mischehen mußten die Kinder bei einem katholischen Vater katholisch getauft und erzogen werden. War der Vater evangelisch, dann folgten die Söhne dem Vater, die Töchter der Mutter im Bekenntnis. Die Gebühren für Kasualien (Taufen, Trauungen und Beerdigungen) mußten aber an den zuständigen katholischen Pfarrer abgeführt werden.
Die beiden josephinischen Patente von 1781 (Ansiedlungs- und Toleranzpatent) haben viele Menschen aus Südwestdeutschland – vor allem evangelische und katholische Bauern – bewogen, nach Galizien auszuwandern, auch deshalb, weil sie nicht ins Ausland gehen mußten, sondern in ein neu gewonnenes Kronland ihres Kaisers, dem sie vertrauten. Es lag wohl 1000-1500 km weit entfernt im Osten und war mühsam in 50-70 Reisetagen zu erreichen, aber es gehörte doch noch zum großen deutschen Vaterland.
Grundsätzlich ist zum Toleranzpatent zu sagen, daß es einen Wendepunkt in der Habsburgischen Religions- und Bevölkerungspolitik darstellte. Es setzte den Pressionen der Gegenreformation formaljuristisch und z.T. auch real ein Ende. Verständlich, daß es von den Protestanten Österreichs jubelnd begrüßt wurde. Nun traten sie aus dem Untergrund an die Öffentlichkeit, und Kurie und Behörden erschraken über ihre große Zahl. Das Edikt fand in ganz Europa Beachtung und Anerkennung. Joseph II. wurde vom Volke als Menschenfreund und Volkskaiser verehrt. Seine Humanität, Liberalität und Fortschrittlichkeit wurden bewundert, er galt als großer Reformator, Aufklärer und Wohltäter. In Wirklichkeit versandeten die meisten seiner Reformen wegen des Widerstands der Stände und auch der Bevölkerung. Und Joseph II. war Katholik: Auch in seinem Toleranzpatent ließ er die katholische Religion ausdrücklich als die „dominante“ (= vorherrschende) bezeichnen. Er nahm darin auch Bestimmungen auf, die den Evangelischen in Österreich und besonders im Kronland Galizien viel Kummer und Leid bereiteten. Denn die evangelischen Ansiedler in Galizien mußten hart um ihre kirchenrechtliche Selbständigkeit und ihre Unabhängigkeit von der Bevormundung seitens der katholischen Kirche ringen. Sie waren praktisch Bürger zweiter Klasse und nur geduldet. Weil sich das Toleranzpatent und die von Österreich übernommenen Gesetze des Warschauer Traktats inhaltlich vielfach widersprachen, entstanden dauernd Reibungen, Streitigkeiten und nicht selten Prozesse zwischen den Evangelischen und der polnisch-katholischen Kirchenbehörde. Die Folge davon war ein oft feindseliges Gegeneinander beider Konfessionen. Über Jahrzehnte herrschte dieser unerfreuliche Zustand, der sich auch negativ auf das Glaubensleben der Evangelischen auswirkte. Das Toleranzpatent Josephs II. war also segensreich für die Wiederbelebung und Festigung des österreichischen Protestantismus, aber nicht in gleichem Maße für die evangelischen Deutschen in Galizien. Der Wiener Regierung lag vorrangig die Besiedlung ihres neuen Kronlandes am Herzen, um dort das Lebensniveau zu verbessern. Dazu benötigte sie Menschen, die sich durch ein im günstigen Licht erscheinendes Ansiedlungs- und Toleranzpatent herbeilocken ließen. Die Wiederzulassung des Protestantismus in Österreich war für sie nur von sekundärer Bedeutung. Dementsprechend sahen die zuständigen Instanzen in Wien ziemlich tatenlos zu, wie die deutschen Evangelischen in Galizien vom polnisch-katholischen Klerus drangsaliert wurden. Das katholische Wien stand eben dem polnischen Katholizismus näher als den herbeigerufenen deutschen Protestanten.
Behördlich geduldet dauerte dieser unerfreuliche Zustand bis zur Revolution 1848 an. Diese brachte den Wandel mit den von Wien erlassenen Provisorischen Bestimmungen betr. Akatholiken vom 30. Januar 1849. Aber erst das nach mancherlei Rückschlägen dem Kaiser Franz Joseph I. abgerungene Protestantenpatent vom 8. April 1861 sicherte den Evangelischen Österreichs „für ewige Zeiten“ volle Glaubens- und Gewissensfreiheit und der evangelischen Kirche Autonomie und Gleichberechtigung mit der katholischen Kirche zu.
Der galiziendeutsche Pfarrer Leopold Ganz (1912-1993), der sich eingehend mit dem Toleranzpatent befaßt hatte, formulierte dazu noch folgende Gedanken: „Gewiß haben geistesgeschichtliche Entwicklungen, politische Zweckmäßigkeiten, die kirchliche Entwicklung in Mähren und Schlesien, dazu staats- und völkerrechtliche Verpflichtungen und eine kühle Staatsräson die Entstehung des Toleranzpatents bewirkt. Ich habe aber aufgrund meiner gewonnenen Erkenntnisse trotzdem den Eindruck gewonnen, daß das Problem der Kolonisation im neu gewonnenen Kronland Galizien den letzten Anstoß zu seiner Veröffentlichung gab. Die Reisen Josephs II. nach Galizien vor 1781, die alsbaldige Verlegung des Konsistoriums aus der Provinz in Teschen 1784 nach Wien und die Schaffung eines getrennten Konsistoriums augsburgischen und helvetischen Bekenntnisses, der innerkirchliche Aufbau in fünf lutherische und drei helvetische Superintendenturen, die hierzu entstandenen Instruktionen vom 23. Dezember 1785 wurden doch durch die Entwicklung in Galizien ausgelöst. Für die Erweiterung des Toleranzpatents und eine gesetzliche Gleichberechtigung von Protestanten und Katholiken im Protestantenpatent 186l haben die sich wiederholenden konfessionellen Auseinandersetzungen innerhalb der galizischen Superintendentur manchen Anstoß gegeben. Diesen Beitrag unserem ehemaligen Heimatland geleistet zu haben, soll uns mit Dank erfüllen. Unsere in der alten Heimat gesammelten Erfahrungen bestätigen uns, daß Toleranz Wende und Zukunft schafft.“
Bild: Seite 1 des Patents von 1781 / Quelle: Wikipedia. Gemeinfrei.
Erich Müller (OGT 2006, 232)