Ereignis vom 29. Mai 1945

DER BRÜNNER TODESMARSCH

Vorgeschichte: Wie konnte es gerade in Brünn zu Hass, Gewalt und Massendeportationen kommen, in einer Stadt, wo Deutsche und Tschechen über Jahrhunderte nicht konfliktfrei, aber friedlich und in gegenseitigem Respekt nebeneinander gelebt hatten? Schon im 19. Jahrhundert hatte das nationale Erwachen der Tschechen zu einem immer stärkeren Aufbegehren gegenüber den in der Habsburger Monarchie staatstragenden Deutschen geführt. Der 1905 im mährischen Landesparlament von Brünn geschlossene „Ausgleich“ sollte Tschechen und Deutsche miteinander versöhnen und ein gleichberechtigtes Zusammenleben ermöglichen, war aber von kurzer Dauer. Mit dem Umsturz von 1918 ging die Macht auf die Tschechen über. Präsident Masaryk machte deutlich, dass die Deutschen zur nur noch geduldeten Minderheit geworden waren. In Brünn verloren sie ihr Theater, deutsche Schulen wurden in der Folge geschlossen, deutsche Beamte entlassen. Eine Bodenreform führte dazu, dass 30% der Sudetengebiete an Tschechen gingen. In der 1918 neu entstandenen Tschechoslowakei begann die Unterdrückung der nichttschechischen Völker: der Deutschen, Ungarn und Slowaken. In den 1930er Jahren eskalierte die Arbeitslosigkeit, besonders unter den Sudetendeutschen. Das Münchner Abkommen, das 1938 bestimmte, dass die Tschechoslowakei das Sudetenland an das Deutsche Reich abtreten musste, änderte in Brünn vorerst nichts. Erst im März 1939 besetzte Hitler auch Brünn. Bei seinem Einzug jubelten ihm Tausende zu. Die Nationalsozialisten installierten im „Reichs­protektorat Böhmen und Mähren“ mit Gestapo und SS ein drakonisches Regime. Zu nennenswerten Protestaktionen kam es aber lediglich im akademischen Bereich, weshalb am 17. November 1939 alle tschechischen Hochschulen geschlossen wurden. Da die Brünner Industriebetriebe, insbesondere die Waffenwerke, wichtig waren, wurden die Arbeitsbedingungen schnell verbessert, auch für die dort beschäftigten Tschechen. Arbeitslose fanden rasch eine Stelle. Das Krieg führende Deutsche Reich konnte keine Widerstandsnester im Rücken der Front dulden, deshalb gingen Gestapo, Kripo und SS gezielt und brutal gegen den im Untergrund agierenden Widerstand vor. Auch nicht wenige Tschechen wirkten opportunistisch bei dieser Aufgabe mit. Während der sechsjährigen Besatzung dienten in Brünn mehrere Studentenheime als Gestapo-Gefäng­nisse und Sammelstellen für Transporte in Konzentrationslager, darunter das Kaunitz-Kolleg, durch das bis zum 19. April 1945 etwa 35.000 Menschen geschleust wurden. Sowohl für Tschechen wie für oppositionelle Deutsche wurde das noch aus der Zeit Maria Theresias stammende Kolleg zum „Mährischen Golgatha“. Im Hof errichtete die Gestapo drei Galgen zur Vollstreckung der Todesurteile. Über 1.350 Menschen wurden mitten in einem Wohngebiet hingerichtet, zunächst durch den Strang, später durch Genickschuss. Dabei ging die Gestapo gegen den deutschen Widerstand ebenso erbarmungslos vor wie gegen den der Tschechen. Das NS-Regime hatte nicht nur ihren 1918 gegründeten Staat zerschlagen, es hatte auch ihrer Jugend die Zukunft geraubt.

 

 

Das Kriegsende bricht dem Hass freie Bahn: Die Rote Armee erobert Brünn nach schweren Kämpfen am 26. April 1945. Die verbliebenen Deutschen werden massenhaft entlassen, dürfen nur noch manuelle Arbeit verrichten, müssen ausnahmslos weiße Armbinden tragen und werden nach bekanntem Muster mit einem N (= nemec) als Deutsche und Untermenschen gebrandmarkt. Sie sind vogelfrei und können nach Belieben beraubt, verletzt und vergewaltigt werden. Edvard Benesch besucht am 13. Mai 1945 die Stadt. Mit seiner Rede auf dem Rathausbalkon, auf dem Hitler 1939 ebenfalls gestanden hatte, entfacht Benesch in den Zuhörern einen Hass, der sich blind auch gegen Schuldlose richtet. Er knüpft an seine frühere Politik – lange vor Hitlers Machtergreifung 1933 – an. So hatte Benesch in einem Interview vom 29. Oktober 1920 gefordert, den Deutschen kein Selbstbestimmungsrecht zu geben. Man möge sie lieber „an Galgen und Kandelabern aufhängen“. Die Rede Beneschs in Brünn ist Auftakt eines größeren Dramas, der kollektiven Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Böhmen und Mähren, der kommenden Pogrome und ethnischen Säuberungen. Alle dabei verübten Verbrechen werden bald durch das so genannte Amnestie-Gesetz Nr. 115 vom 8. Mai 1946 (eines der „Benesch-Dekrete“) legalisiert und straffrei gestellt. Während die Urheber und Verantwortlichen für die Untaten während der Nazi-Herrschaft längst geflohen waren, entlud sich der Hass der Tschechen nun vornehmlich an unbeteiligten Deutschen. In chauvinistischer Verblendung vertrieben, mordeten, quälten und vergewaltigten sie die Schwächsten und Unschuldigsten und waren zugleich blind gegenüber den sich im Osten abzeichnenden Machtstrukturen, die zu einem neuen Joch der Völker Mittel- und Osteuropas ab 1945 in Gestalt des Kommunismus führten.

Der „Brünner Todesmarsch“ begann am 31. Mai 1945, dem Fronleichnamstag. Er wurde auf Beschluss des Landesnationalausschusses vom Tag zuvor von dem früheren Gestapo-Agenten Bedrich Pokorny organisiert und von den tschechischen Arbeitern des Brünner Rüstungswerks Zbrojovka durchgeführt. Fast alle nach der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht in der mährischen Hauptstadt verbliebenen Deutschen wurden in der Nacht aus ihren Wohnungen oder Unterkünften geholt und beim Augustinerkloster am Mendelplatz konzentriert. Es waren geschätzt 27.000 Personen. In der Nacht und am folgenden Morgen mussten sie zusammen mit den deutschen Bewohnern der umliegenden Dörfer einen rund 60 Kilometer langen Marsch Richtung Niederösterreich antreten. Der Zug bestand hauptsächlich aus Frauen und Kindern sowie alten Männern, doch auch Tschechen und deutsche Antifaschisten waren unter ihnen. Die Männer im wehrfähigen Alter waren zu dieser Zeit noch nicht heimgekehrt oder gefallen, befanden sich in Kriegsgefangenschaft und waren in Lagern zur Zwangsarbeit interniert. Die Kolonne wurde von bewaffneten Revolutionsgarden, Partisanen und Militäreinheiten brutal aus der Stadt getrieben. Ohne Essen, in sengender Hitze ohne Wasser, ohne medizinische Betreuung, ohne Grundhygiene wurden die Menschen bis an die österreichische Grenze getrieben. Die inhumane Brutalität der Aktion begleiteten zahlreiche Delikte von Einzelpersonen der tschechischen Begleitmannschaften. Viele Überlebende berichteten, dass die Posten mit dem Gewehrkolben auf die Erschöpften einschlugen und ihnen den Schädel zertrümmerten. Wer sich nicht mehr weiterschleppen konnte, wurde am Ende des Zuges durch Genickschuss ermordet und in den Straßengraben gestoßen. Frauen jeden Alters wurden vergewaltigt. Bei Leibesvisitationen wechselten die letzten Wertsachen den Besitzer. Hilfsbereite Menschen, die am Wegesrand Wasser und Brot reichen wollten, wurden von den Wachen getreten und geschlagen. Andererseits gab es auch Männer bei den Garden, die Kinder trugen oder alte Leute stützten. Viele der Unglücklichen starben an Erschöpfung, Hunger und Durst, dazu kamen noch Ruhr- und Typhusepidemien. Nach neueren Studien beläuft sich die Anzahl der Todesopfer auf rund 5.200. In einem Massengrab bei Pohořelice (Pohrlitz) auf halbem Weg zwischen Brünn und der Grenze sollen 890 Opfer liegen. Dort starben auf dem nackten Betonfußboden der Zuckerfabrik Hunderte Ruhrkranke. Als der Tross der ausgemergelten Opfer die Grenze zum sowjetisch besetzten Österreich erreichte, wurde sie erst nach längerem Zögern geöffnet. Im Grenzort Drasenhofen nahmen Einwohner und russische Besatzungssoldaten die hinfälligen Menschen auf und versorgten sie. Die Vertriebenen waren nun sich selbst überlassen und wollten Wien erreichen, doch auch auf österreichischem Boden setzte sich das Sterben der Kranken und Entkräfteten fort. Die Gebeine von 1.062 Menschen fanden teils auf österreichischen Friedhöfen in Einzelgräbern ihre letzte Ruhestätte, vor allem aber in etlichen Massengräbern.

Aufarbeitung des Geschehenen und Annäherung: Die Überlebenden dieses Todesmarsches zerstreuten sich in alle Welt, die meisten fanden in Wien, Bayern und Baden-Württemberg eine neue Heimat. Von Rache und Vergeltung haben sie und ihre Nachkommen sich losgesagt, wie dies bereits in der Charta der Vertriebenen von 1950 festgelegt ist. Im Einklang mit allen übrigen Vertriebenen haben auch die Brünner Deutschen Verständigung und Versöhnung mit ihren einstigen Nachbarn gesucht. Seit 1989/90 gewaltfreie Revolutionen die jahrzehntelange Teilung Europas beendeten, haben sich die mittel- und osteuropäischen Länder allmählich angenähert. Austausch und Dialog zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik werden seither auf vielen Ebenen geführt. Die Jahrzehnte des Schweigens, der regierungsamtlichen Unterdrückung aller Nachforschungen und der freien Meinungsäußerung waren beendet. Ein Tribunal für die Verbrechen der Vertreibung hat es dennoch niemals gegeben. Das verhinderten schon die inhumanen, ja naturrechtswidrigen Benesch-Dekrete. Sie sind selbst heute noch unverändert in Kraft. Weil im Vorstand der „Bruna“, des 1950 gegründeten Heimatverbands der Brünner in der Bundesrepublik Deutschland, die Überzeugung herrschte, dass Versöhnung nur auf dem Boden der Wahrhaftigkeit gedeihen kann, gab er 1998 als Grundlage zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Ereignisse um den „Brünner Todesmarsch“ die Publikation Nemci ven! (Die Deutschen raus!) heraus. Die sorgfältig recherchierte Dokumentation liegt in deutscher und tschechischer Sprache vor und geht mit der Vorgeschichte der Vertreibung verantwortungsvoll um, indem sie eine einseitige Betrachtung vermeidet und der Verdrängung und Tabuisierung der Tatsachen auf beiden Seiten entgegenwirkt. Seit dem Jahr 2007 gibt es die Brünner Gedenkmärsche. Jaroslav Ostrčilík, ein in Österreich aufgewachsener Tscheche, wollte ein sinnfälliges Zeichen setzen gegen das Tabu der Vertreibung der Deutschen. Mit seiner Entscheidung, sich für die gewalttätige Vertreibung der deutschen Bevölkerung Brünns zu entschuldigen, erregte der Brünner Stadtrat unter Führung des Primators (Oberbürgermeisters) Petr Vokřál am 20. Mai 2015 Aufsehen. Dieser Schritt wurde zwar massiv kritisiert und bekämpft. Aber die Mehrheit stellte sich hinter das wegweisende Signal zur Versöhnung mit den früheren Bewohnern der Stadt 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und ihrer Vertreibung. In Verurteilung sämtlicher zwischen 1939 und 1945 begangener Verbrechen bedauert die Brünner Erklärung den „Racheakt“, der „eine Vergeltung für Nazi-Verbrechen sein sollte“, verfolgt die Ehrung aller Opfer und distanziert sich vom Prinzip der Kollektivschuld. Das an der deutschen Zivilbevölkerung begangene Unrecht wird anerkannt und zutiefst bedauert. Man sei sich dessen bewusst, welche menschlichen Tragödien sowie kulturelle und gesellschaftliche Verluste die Vertreibung zur Folge hatte. Man hoffe verhindern zu können, dass sich Ähnliches wiederholt, indem man die historischen Ereignisse und ihre Folgen kennt sowie die Geschehnisse vom Mai 1945 als unseliges Memento im Gedächtnis bewahrt. Dabei gehe es jedoch nicht um Selbstbeschuldigung, sondern um Verantwortung für das heutige und künftige Zusammenleben von Menschen unterschiedlichster kultureller und ethnischer Herkunft. Man wünsche sich schließlich, dass alles begangene Unrecht verziehen werden kann, damit man sich – von der Vergangenheit unbelastet – in gegenseitiger Zusammenarbeit einer gemeinsamen Zukunft widmen kann. Anlässlich des 70. Jahrestages des „Brünner Todesmarsches“ am 30. Mai 2015 initiierte der Brünner Oberbürgermeister einen Gedenkmarsch symbolisch in der Gegenrichtung des historischen Marsches vom Massengrab in Pohořelice zurück nach Brünn. Dazu lud er auch Vertreter der Vertriebenenverbände in Deutschland und Österreich sowie der Partnerstadt Stuttgart zum gemeinsamen Gedenken ein. Die große öffentliche Resonanz auf dieses Ereignis in Brünn unterstrich die Bedeutung dieser Positionierung des Stadtrats der zweitgrößten tschechischen Stadt, zumal Brünn vielfach symbolisch für die Vertreibung der Deutschen insgesamt gesehen wird. Der Sprecher der Sudetendeutschen Volksgruppe, Bernd Posselt, sprach von einem „Riesenschritt, der Dank und Anerkennung verdient“. Vertriebenen-Präsident Bernd Fabritius nannte die Erklärung ein „beispielhaftes verständigungspolitisches Zeichen“. Der Versöhnungsmarsch wird seither alljährlich mit großer Resonanz gemeinsam mit der tschechischen Bevölkerung durchgeführt. Es ist eine Geste, die Brünn als erste und bisher einzige Stadt in Tschechien gewagt hat.

Bild: Das einzige bekannte Foto, das die „wilde Vertreibung“ der Deutschen aus Brünn an Fronleichnam 1945 zeigen soll. Quelle: Sudetendeutsches Archiv, München.

Stefan P. Teppert